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»Ich hatte immer eine Bande« Die Anfänge in Liverpool

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Das Rätsel der Liebe bildet den Mittelpunkt in John Lennons Leben. Immer wieder umkreist er rational und emotional, verbal, musikalisch, filmisch oder grafisch das Geheimnis der Zuneigung, der Zweisamkeit, der Erotik.

Das Rätsel beginnt, als der Matrose Alfred Lennon 1928 einen Spaziergang durch den Sefton Park in Liverpool unternimmt. Ein hübsches Mädchen mit rötlichen Haaren sitzt auf einer Bank am Ufer des Sees, und er spricht es an. Die junge Frau lacht, weil der Hut des Seemanns zu groß ist. Er nimmt ihn vom Kopf und wirft ihn in den Teich. Das Mädchen mit den roten Haaren heißt Julia Stanley, und dieser gewitzte junge Mann hat sie beeindruckt.

John Lennons 1947 geborene Halbschwester Julia Baird beschreibt diese Szene eindrucksvoll in ihrer Biografie »John Lennon. My Brother«. Sie zählt zu den vertrauenswürdigsten und zuverlässigsten Quellen, wenn es um Kindheit und Jugend des Musikers geht. Es ist faszinierend, ihre Ausdrucksweise, Gestik und Mimik zu erleben. Nicht nur äußerlich ist sie ihrem Bruder sehr ähnlich, auch ihr Esprit, ihre freie und wilde Lebenseinstellung, die sie sich bis heute bewahrt hat, erinnern sehr an ihn. Sie arbeitete bis 2004 als Lehrerin. Seither ist sie Leiterin der empfehlenswerten Cavern City Tours in Liverpool. Mit etwas Glück kann man sich die historischen Beatles-Schauplätze von ihr persönlich zeigen lassen.

So wie diese Begegnung geschildert wird, könnte der Auftakt einer schönen Liebesgeschichte aussehen, doch die Beziehung zwischen Julia Stanley und Alf Lennon ist von Anfang an schwierig. Eigentlich passen sie gut zueinander: Sie sind talentierte Tänzer, musizieren beide und ergänzen sich in vielerlei Hinsicht, aber Julias Vater mag Alf, den Schiffssteward, nicht. »Unsere Mutter Julia stammte aus dem wohlsituierten Mittelstand. Sie und ihre vier Schwestern wuchsen in einem Viertel auf, das zu den gepflegtesten Wohngegenden von Liverpool gehörte, im Schatten der großen anglikanischen Kathedrale aus rotem Sandstein«, erinnert sich Tochter Julia. Ihre Mutter ist ungemein attraktiv, ja, genau betrachtet viel zu hübsch für den ungehobelten und etwas kurzbeinigen Matrosen. Sie spielt Banjo und Klavier und liegt mit den steifen Regeln ihres Elternhauses im Clinch. Sie will sich amüsieren, und weil sie sich gerne mit Filmen in andere Welten träumt, jobbt sie als Platzanweiserin im Kino, wo sie viele Verehrer bis hin zum Kinobesitzer selbst hat. Vielleicht wäre die Romanze nach einigen Monaten zu Ende gegangen, aber die Ablehnung des Vaters weckt Julias Trotz, und sie mag Alfs trockenen Witz, mit dem er das feine Gehabe ihres Vaters karikiert. Mit seiner Hilfe kann sie gegen die Hochnäsigkeit in ihrem Elternhaus rebellieren, was sie auch gründlich tut: 1938 heiratet Julia heimlich, und knallt triumphierend die Hochzeitsurkunde, die sie als Mrs. Lennon ausweist, auf den Wohnzimmertisch des vornehmen georgianischen Familienhauses in der Huskisson Street.

Der Katalysator für ihre Liebe ist ästhetischer und sozialer Natur. Mit Alf, dem Konterpart zu ihrem Vater, grenzt sich Julia von diesem ab, verstärkt ihre eigene Identität und Unabhängigkeit. Dabei tut sie ihrem autoritären Vater weh, zahlt Rechnungen heim, irritiert auch ihre Mutter und ihre Schwestern, denen es allen gelingt, standesgemäße Verehrer zu finden. Julia entwickelt sich mit Alf an ihrer Seite in eine Richtung, die nicht den Vorstellungen und Wünschen ihrer Eltern entspricht.

Das Verhalten ihres einzigen Sohnes weist später Ähnlichkeiten zu dem der Mutter auf: Bei aller künstlerisch-geistigen Seelenverwandtschaft zu Yoko braucht John die fremdländische und angeblich hässliche Japanerin auch, um sich von der zwanghaft heilen Beatles-Welt zu verabschieden. Je stärker die Ablehnung durch sein Umfeld, durch die Fans und durch die Medien ist, desto größer werden sein Trotz und sein Wille, an der Geliebten und späteren Ehefrau festzuhalten. Mit Yoko Ono befreit sich John Lennon endgültig von der Pilzkopf-Vergangenheit.

Die vor und mit Yoko Ono oft von Lennon besungene romantische, vom Himmel fallende und alles überstrahlende Liebe wird bei seinen Eltern und später bei ihm selbst von vielen Umständen begleitet, die nichts mit erotischer oder geistiger Anziehung zu tun haben. Die jeweiligen Partner übernehmen für ihn bestimmte Funktionen innerhalb der Beziehungen abseits amouröser Empfindungen. Der Radio-Journalist und spätere Lennon-Vertraute Elliot Mintz formuliert treffend: »Als John Yoko traf, fand er den fehlenden Teil seiner Stimme.«

Nach den Blitzhochzeiten von Alf und Julia in Liverpool 1938 und von John und Yoko in Gibraltar 1968 – auch das eine Parallele – ist zunächst die Bestürzung allenthalben groß. Aber sowohl die erstaunte und mit Bed-ins und Bagism konfrontierte Weltöffentlichkeit als auch das Haus Stanley 30 Jahre zuvor gewöhnen sich an die neuen Umstände und versuchen, das Beste daraus zu machen. Alf und Julia dürfen aufgrund ihrer Geldknappheit und nach einer zögerlichen Versöhnung mit ihren Eltern in das neu erworbene Reihenhaus Newcastle Road Nr. 9 ziehen.

»Ich war kein Wunschkind. 90 Prozent der Menschen in meinem Alter sind die Konsequenz von zu viel Whiskey«, sagt Lennon im Hinblick auf Liverpool in den 1940er Jahren. Andererseits ist es nur natürlich, dass sich nach fast zwei Jahren Ehe Nachwuchs einstellt. Akribische Untersuchungen haben ergeben, dass am Abend vor und am Abend nach John Lennons Geburt, am 9. Oktober 1940, Angriffe der deutschen Luftwaffe über Liverpool stattfanden. Nicht jedoch – wie so oft kolportiert – in der Nacht der Niederkunft. Der Musiker selbst nährt fälschlicherweise im Buch »In His Own Write« die Legende von der Bomben- und Geburtsnacht am 9. Oktober. Vor allem seine Tante Mimi erinnert in Interviews wiederholt an den vermeintlichen Bombenangriff in den Geburtsstunden. Die Eltern einigen sich rasch auf den Namen John, und als patriotische Geste wählen sie Winston als zweiten Vornamen, nach dem Premierminister Winston Leonard Spencer-Churchill.

Weil immer wieder deutsche Bomben auch auf das Zentrum Liverpools fallen, zieht Mutter Julia mit Sohn John in den Vorort Woolton, wo sie sich während Vater Alfs Abwesenheit – er arbeitet als Schiffssteward für die Marine – abends amüsiert, nachdem sie den Jungen in die Obhut ihrer älteren Schwester Mimi gegeben hat. Als Alf davon erfährt und Julia später auch noch von einem Soldaten schwanger wird, führt dies zu stärker werdenden Spannungen und bald darauf zum Ende ihrer Beziehung.

Julias Vater besteht darauf, dass seine unerwünschte Enkelin Victoria nach der Geburt 1945 zur Adoption freigegeben wird. Sie kommt zu norwegischen Pflegeeltern und wandert bald mit ihnen nach Skandinavien aus. Erst 1998 meldet sich Ingrid Pedersen aus Norwegen bei der BBC und belegt mit mehreren Urkunden, die verschollene Halbschwester zu sein. Offenbar ist sie das Baby, das 1940 von Julia und dem Soldaten Taffy Williams gezeugt und wenig später vom norwegischen Ehepaar Margaret und Peder Pedersen adoptiert und von Victoria in Ingrid umbenannt wurde. Entgegen Pedersens Aussage hat der Musiker aber offenbar nie etwas von ihrer Existenz erfahren. Auch Julia Baird kannte bis 1998 die Identität ihrer Halbschwester nicht.

Als Julia Lennon den Oberkellner Bobby Dykins kennenlernt, lässt ihre Abenteuerlust nach; sie nehmen gemeinsam eine Wohnung unweit der Menlove Avenue und gründen eine Familie: 1947 kommt Julia, 1949 Jacqueline zur Welt. Nur heiraten können Julia und Bobby nie, denn Alf verweigert die Scheidung, weshalb Julia bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Juli 1958 mit Bobby in wilder Ehe lebt.

»Penny Lane ist nicht nur eine Straße, sondern auch das Viertel, in dem ich bis zu meinem fünften Lebensjahr mit Mutter und Vater gewohnt habe. Nur bekam meine Mutter ihr Leben nicht in den Griff. Der Mann brannte durch und fuhr zur See, außerdem war Krieg. Sie wurde nicht mit mir fertig, und schließlich kam ich zu ihrer älteren Schwester«, so John Lennon.

Leidtragender des unsteten Lebenswandels und Liebeshungers der Mutter ist der kleine Sohn. Mitte der 1940er Jahre ist die Situation im Hause Lennon äußerst komplex: Alfred Lennon kommt und geht nach Belieben. Er ist häufig auf Schiffsreise und ein unzuverlässiger Vater. Im Ausland wie in England landet er immer mal wieder wegen Randale und Trunkenheit im Gefängnis, beruflich geht es abwärts. Andererseits ist er sensibel und hoch emotional und möchte sich ernsthaft um seinen Sohn kümmern, doch um den streitet sich schon der Stanley-Schwestern-Clan, in dem männlicher Nachwuchs eine Seltenheit ist.

Wie Julia lebt Alf in einer neuen Partnerschaft und in einer neuen Wohnung. Der kleine John ist mal da, mal dort, mal bei Tante Mimi, mal bei anderen Schwestern Julias und seinen vielen Cousins und Cousinen in ländlicher Umgebung. Es kommt gar zu dramatischen Szenen, in denen der Junge vom Vater entführt und anschließend eine Woche lang über alle Maßen von ihm verwöhnt wird. »Ich verständigte Julia«, erinnert sich Mimi, »und sagte: ›Alf hat John mitgenommen.‹ Sie antwortete: ›Ich werde ihn finden.‹ Was ihr dann auch gelang.«

Am Ende dieser turbulenten Zeiten wird John im Juli 1946 von seinen Eltern aufgefordert, sich zwischen seinem Vater und seiner Mutter zu entscheiden. Natürlich will er beide, aber er bekommt weder Alf noch Julia, sondern geht definitiv und für mehr als zehn Jahre zur kinderlosen Tante Mimi und ihrem Mann George.

»Man stelle sich vor, sie hat den Fünfjährigen gefragt: ›Bei wem willst du bleiben?‹ Er wusste es nicht. Er hatte seine Mutter eine Weile nicht gesehen, und deshalb antwortete er: ›Bei Daddy.‹ Als er dann aber sah, dass sie gehen wollte, sagte er: ›Nein, nein, bei Mami.‹ Julia brachte ihn schließlich zu mir zurück«, erzählt Mimi dem Regisseur Andrew Solt bei seinen Recherchen für den Film »Imagine«.

Tante Mimi und Onkel George adoptieren schließlich gefühlsmäßig, aber nie amtlich den reizenden, fast sechsjährigen Buben, den »Nowhere Boy«, wie er im gleichnamigen britischen Kinofilm 2009 bezeichnet wird. Auf dem Papier bleiben Vater Alf sowie Julia, die in der Nachbarschaft lebt und mit ihrem gewissenhaften Bobby und den zwei gemeinsamen Töchtern zur familiären Ruhe kommt, bis zur Volljährigkeit des Jungen die Erziehungsberechtigten.

Obwohl beide Elternteile in seiner unmittelbaren Umgebung leben, verbringt der Junge die Grundschulzeit so, als wäre er Vollwaise. Aus der Familie, die seine sein sollte, sind zwei andere geworden, er lebt in einer dritten, und er muss das Beste daraus machen. Doch die Zerrüttung, die Zerbrechlichkeit von Familienstrukturen, der Egoismus von Vätern und Müttern, die Kinder zeugen, ohne zusammenzubleiben, ohne ein Familiennest zu bauen, und dann doch um diese Kinder kämpfen und sie irgendwann frustriert verlassen, wird ihn sein Leben lang begleiten. Sei es bei der Scheidung von Cynthia und der Entfremdung von seinem ersten Sohn Julian, sei es bei der Suche nach Yokos Tochter Kyoko, sei es beim Versuch, in seinen letzten fünf Lebensjahren mit Yoko und seinem Sohn Sean zu Hause präsent zu sein, mit seinem Kind zu spielen, für ihn zu kochen, ja, er wechselt sogar Baby Seans Windeln, was für (Promi-)Väter damals einer Sensation gleichkommt. Wie fast immer in seinem Leben macht John Lennon auch in diesem Fall keine halben Sachen, sondern tauscht konsequent und radikal das Berufs- gegen das Privatleben ein.

Tante Mimi, eine ausgebildete Krankenschwester, versucht dreißig Jahre davor auch alles richtig zu machen, obwohl – oder gerade weil – sie die ständige Sorge begleitet, dass sowohl Alf als auch Julia Lennon jederzeit Anspruch auf ihren Sohn erheben könnten. Mimi Smith hat keine eigenen Kinder, aber Übung als Babysitter und Mutterverstärkung für ihre vier jüngeren Geschwister. Streng, ordentlich, pünktlich und hygienebewusst versucht sie nun ihrem Neffen einen festen Rahmen, ein Fundament, Sicherheit und Familienglück zu geben. Dazu gehört, dass der Kleine wie ein gut erzogenes Kind aus der Mittelschicht spricht und sich den harten Akzent der städtischen Arbeiterklasse abgewöhnt. Zum Haushalt gehören auch zwei Katzen und die Hündin Sally. Hinzu kommt später eine weitere Katze, die dem achtjährigen John hinterherläuft und die er nach langem Betteln behalten darf, weil sich kein Besitzer meldet. Der Junge tauft sie Tim und fragt Mimi bis zum Tod der Perserkatze 20 Jahre später bei jedem Telefonat nach ihrem Befinden. Katzen begleiten den Musiker ein Leben lang, auch im Dakota-Building in New York tummeln sich immer mehrere, um die er sich persönlich kümmert.

John Lennon kommt zwar aus zerrütteten Verhältnissen, aber die neuen äußeren Umstände erweisen sich ab 1946 als günstig für ihn. Die Doppelhaushälfte in Liverpools Vorort Woolton an der Menlove Avenue 251 gehört seit 1942 Mimi und George Smith, sie sind keine Mieter, sondern Hausbesitzer, was im Nachkriegsengland, wo gesellschaftliche Unterschiede viel feiner wahrgenommen werden als in Kontinentaleuropa, den Beatle einmal zu dem Kommentar verleitet: »Mein Tantchen besaß eine Doppelhaushälfte mit einem kleinen Garten. In der Nachbarschaft wohnten Ärzte, Anwälte und so ähnliche Leute – es war also keine arme Slumgegend, wie immer wieder behauptet wurde. Ich war ein netter, adretter Vorstadtjunge. In der gesellschaftlichen Hierarchie stand ich eine Sprosse über Paul, George und Ringo, die in staatlichen Sozialwohnungen aufwuchsen. Wir besaßen ein eigenes Haus und einen eigenen Garten. So etwas hatten sie nicht. Verglichen mit ihnen war ich geradezu ein feiner Pinkel.«

Ganz in der Nähe dieses nach dem Berg Mendips benannten Hauses liegt das Kinderheim der Heilsarmee von Woolton namens Strawberry Field, ein großes viktorianisches Gebäude mit einem ausgedehnten Park und Waldstück. Dort finden regelmäßig Sommerfeste statt, die Tante Mimi mit ihrem Neffen besucht. Strawberry Field befindet sich in der Beaconsfield Road, nur fünf Minuten zu Fuß von ihrem Zuhause in der Menlove Avenue. Als der Junge eine Abkürzung dahin findet, spielt er in Grundschultagen oft und gerne mit Freunden in der Anlage, sieht echte Waisenkinder, deren Schicksal er mit dem eigenen vergleicht, findet Trost in der Erkenntnis, dass es anderen viel schlimmer geht als ihm, und liebt es, sich auch alleine dorthin zurückzuziehen, um nachzudenken, zu träumen. Leider steht das im gotischen Stil erbaute Gebäude nicht mehr. Nur auf alten Schwarzweißfotos ist das Haus noch zu sehen und erinnert entfernt an das Dakota in New York: Einer Kathedrale nicht unähnlich, überragen über ein halbes Dutzend spitze Giebeldächer die mächtige Fassade mit säulenbestandenem Haupteingang.

1966 nimmt John Lennon die Erinnerung an das Strawberry-Field-Waisenhaus zum Anlass, einen seiner bekanntesten Songs über Einsamkeit und das Alleinsein-Wollen zu schreiben. Er setzt den Namen in die Mehrzahl, notiert in einer frühen Version, niemand liege auf seiner Wellenlänge und romantisiert es für die definitive Fassung, niemand sei auf seinem Baum. Melancholisch und verträumt, metaphorisch und surreal fordert er seine Hörer auf, ihm in seine unwirkliche Welt zu folgen.

Heute stehen Bäume, gestiftet von vielen Nationen, im von Yoko Ono initiierten Gedenkpark Strawberry Fields im Central Park. Millionen Besucher aus aller Welt erinnern sich jedes Jahr dort besonders intensiv an den Ausnahmekünstler. Und immer noch ist sein Baum entweder zu hoch oder zu niedrig.

Mit geschlossenen Augen zu leben ist leicht,

alles misszuverstehen, was man sieht.

Es wird schwierig, jemand zu sein. Aber das wird schon.

Mir ist das nicht so wichtig.

Lass mich dich mitnehmen.

Denn ich gehe zu den Erdbeerfeldern.

In »Strawberry Fields Forever« verstärkt John seine Wortakrobatik, denn nichts ist wirklich. Always, no sometimes, think it’s me, but, you know, I know when it’s a dream. Der Text und seine aufwändige musikalische Umsetzung bilden das erste und – wie manche Kritiker meinen – unübertroffene Beispiel psychedelischer Popmusik, begleitet von einem kongenialen Video mit Farbspielen, rückwärtslaufenden Passagen (wie am Ende auch die Instrumente), mit Nahaufnahmen von Augenblicken (auch im wahrsten Sinne des Wortes) der sich in Wandlung befindlichen Fab Four, und im Mittelpunkt ein Upright-Piano, das nicht nur gespielt, sondern bemalt und bis zum Umfallen traktiert wird.

Die ersten Jahre bei Tante Mimi und Onkel George sind von Verlustängsten geprägt. Die Sorge, auch dieses Zuhause zu verlieren, ist groß, denn Erwachsene – so hat der Junge gelernt – sind unberechenbar. Verlustängste gepaart mit Eifersucht und Besitzansprüchen werden ihn sein ganzes Leben lang begleiten – später auch seinen Ehefrauen Cynthia und Yoko gegenüber. Das beginnt schon in den ersten Jahren bei Tante Mimi: »John benahm sich nie ungehobelt. Er hat mit jedem geredet. Wenn wir mit dem Bus in die Stadt fuhren, setzte er sich nie neben mich. Er saß immer oben. Ich setzte mich an die Tür, für den Fall, dass er rausrannte. Oft sah er zu mir runter und sagte: ›Hast du mich vergessen?‹ – ›Nein, ich hab dich nicht vergessen‹, antwortete ich dann immer«, erzählt Tante Mimi im Film »Imagine«, der 1989 in die Kinos kam.

Tante Mimi erinnert sich an den aufgeweckten und begabten Grundschüler, der Kinderreime rasch auswendig kann und über seine eigenen Witze lacht. Er variiert Kinderlieder, erfindet neue und blüht sprachlich auf, als er zum ersten Mal Lewis Carrolls Nonsense-Sprache »Jabberwocky« hört. Von da an treibt er sein Leben lang Schabernack mit Redewendungen, einzelnen Wörtern und eigenen Neologismen. »John war ständig mit irgendetwas beschäftigt. Wenn er nicht malte, dann schrieb er Gedichte oder las. Er war eine Leseratte. Immer nur Bücher, Bücher, Bücher«, sagt Mimi.

Solt filmt die über 80-jährige Mimi Smith in Nahaufnahme: eine vitale, gepflegte und entschlossene Frau, die mit viel Humor und einem rauchigen Lachen vom jungen John erzählt, der offenbar nie wusste, woher es kam, dass seine Tante meistens frühzeitig ahnte, wann er wieder eine Dummheit begehen wollte. Ohne einen Hauch von Scouse, dem »Liverpudlian Accent«, den sie ihm ihr Leben lang vergeblich auszutreiben versuchte, berichtet sie, wie sich ihr Ziehsohn selbst in den Schlaf sang und eigene kleine Geschichten schrieb und illustrierte. Einige dieser Kladden sind noch erhalten und erzielen bei Versteigerungen immer wieder schwindelerregende Preise, die bei keinem anderen Auktionsobjekt ähnlicher Art erreicht werden.

Kein Output ohne Input: Zur Lieblingslektüre des Heranwachsenden gehören neben Lewis Carroll auch Richmal Cromptons 37-bändiger Zyklus um den elfjährigen Helden William Brown sowie zahlreiche Comics. Inspiration kommt zudem von verschiedenen Rundfunksendungen. All diese Erfahrungen bringt der Junge auch in den Alltag mit seinen Schulkameraden ein. Er führt mehrere Freunde an und entwickelt sich zunehmend vom braven, fleißigen und gewissenhaften Kind zum kleinen Rowdy, der kaum noch Hausaufgaben und Schule, dafür Streiche gegen alle Arten der Obrigkeit im Sinn hat. Es hagelt Schläge im Lehrerzimmer, denn damals ist körperliche Bestrafung noch an der Tagesordnung, was teilweise auch seine Neigung zu (Gegen-)Gewalt erklärt. Zudem übt er sich mit Erfolg bei kleineren Ladendiebstählen und wird nie erwischt.

Tante Mimi weiß nichts von diesen Eskapaden und kämpft unverzagt für eine perfekte Erziehung. Sie sorgt für absolute Verlässlichkeit in den zehn Jahren, in denen der Junge ständig bei ihr lebt. Sie verlässt nie das Haus, nachdem der kleine John – in den Anfangsjahren meistens mit einem Teddy unter dem einen und einem Panda unter dem anderen Arm – eingeschlafen ist. Im Flur lässt sie das Licht brennen, damit ihr Neffe weiß, dass sie jederzeit da ist. »Wenn ich böse mit ihm war, sagte John immer: ›Eines Tages bin ich berühmt, dann wird es dir leidtun.‹ Er war damals gerade dreizehn, und ich sagte: ›Ja, sicher, aber bis es so weit ist, marsch ins Bett.‹«

Mimi tut alles, um die Fehler ihrer jüngeren Schwester Julia auszugleichen. Zudem ist John gleichsam ihr Wunschkind, das sie nie hatte und das Julia nicht so richtig wollte. Auch für Onkel George ist sein Neffe ein Geschenk. Die lebenslange Zeitungsleidenschaft entsteht mit seinem Onkel, der regelmäßig mit dem ABC-Schützen das Lokalblatt nach geeigneten Überschriften durchblättert. Später durchforstet Lennon die Zeitung nach geeigneten Textzeilen für seine Songs und wird oft fündig.

Mit sieben Jahren wird die Kurzsichtigkeit offiziell konstatiert, und John Lennon bekommt seine erste Brille, ein kostenloses Kassengestell, das er ablehnt, woraufhin ihm Tante Mimi auf eigene Kosten eine passgenaue kauft, die er trotzdem ungern aufsetzt. Der Versuch, ohne Brille durchs Leben zu kommen, führt zu unzähligen komischen Situationen und Ungeschicklichkeiten, wird in späten Teenagerjahren nur kurz dank Vorbild Buddy Holly mit seiner dicken Hornbrille unterbrochen und findet erst 1967 ein Ende, als er in Richard Lesters Antikriegsfilm »How I Won The War« mitspielt, wo er als Soldat Gripweed eine runde Brille aufhat, und sie seither kaum noch absetzt. Was zu Beginn der Karriere hinderlich ist, entwickelt sich zum Markenzeichen. Aus Schwächen werden Stärken – das betrifft viele weitere Eigenschaften John Lennons, wie den Umgang mit dem eigenen Körper, mit Essen, mit Drogen oder sein Umgang mit Frauen und vor allem sein Verhältnis zur eigenen Kindheit.

Die Grundschule schließt John Lennon mit guten Noten ab, zur Belohnung bekommt er ein Raleigh »Leonton« Fahrrad und besucht künftig die von seiner Tante für ihn ausgesuchte Quarry Bank High School in der Harthill Road, die von der Menlove Avenue leicht mit dem neuen Fahrrad erreichbar ist; das lateinische Motto der Schule lautet »Ex hoc Metallo Virtutem – aus diesem Eisen wird Tugend geschmiedet«. Doch bei Lennon greift der Spruch nicht, das Gegenteil ist der Fall. Die Vernunft und Angepasstheit an Tante Mimis strenges Regime wandelt sich allmählich in ein subversives Verhalten und konsequenten Ungehorsam. Dem elitären Schulsystem will er sich nicht unterordnen, stattdessen rebelliert er mit blühendem Unsinn, mit schlimmen Streichen und absurden Taten. Er sucht sich wie schon in der Grundschule einen guten Freund, mit dem er durch dick und dünn geht. Und er gründet eine Gang: »Ich war aggressiv, weil ich anerkannt sein wollte. Ich wollte der Anführer sein. Das schien mir attraktiver als irgendeiner dieser feinen Pinkel zu sein. Ich wollte, dass jeder das tat, was ich ihm sagte, dass man über meine Witze lachte und mich als Boss anerkannte.« Diese Eigenschaft bleibt ihm bis zuletzt erhalten. Wenn er anderen den Vortritt lässt, ihnen Anerkennung, Bewunderung oder Zuneigung erweist, dann immer im Bewusstsein, dass im Ernstfall er der Boss ist. Ein cholerischer oder gar gewalttätiger Anfall, und seine Partner, egal ob Paul, Brian, Cynthia oder Yoko ducken sich und kuschen. Seine Autorität hat ein enormes Ausmaß, allein seine sonore Sprechstimme schüchtert sein Gegenüber ein. John Lennon kann seinen messerscharfen Verstand, seine geschickte Wortwahl und seinen inhärenten Urzorn – nicht zuletzt gespeist durch die in der Kindheit erfahrenen Zerwürfnisse – ebenso blitzartig aktivieren wie seinen Charme und seinen Witz und damit auf diese oder jene Weise Probleme beseitigen und seinen Willen durchsetzen.

»Irgendetwas stimmte nicht mit mir, denn ich schien Dinge zu sehen, die andere Leute nicht sahen. Das Problem hatte ich mit zwölf, aber auch schon mit fünf. Als Kind sagte ich oft: ›Aber genau so ist es.‹ Und alle sahen mich an, als sei ich übergeschnappt. Deshalb habe ich immer an mir selbst gezweifelt. Bin ich verrückt oder ein Genie? Ich wusste immer, dass ich es schaffen würde, ich war mir nur nicht sicher, als was. Ich las regelmäßig Buchbesprechungen, Kunst- und Musikkritiken, noch bevor ich etwas herausgebracht hatte. Und irgendwie erwartete ich immer, meinen Namen in einer Kritik zu entdecken, obwohl ich weder ein Buch noch einen Song geschrieben hatte. Ich hoffte, meinen Namen in der Zeitung zu lesen und berühmt zu werden. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war.«

Eine Weile kokettiert der 16-Jährige Mitte der 1950er Jahre mit der äußerst populären Teddy-Mode: knielanger Mantel, Röhrenhose, Schuhe mit dicken Sohlen. Die »Teddy-Boys« (Teddy kommt von Edward, weil der Stil an die Zeiten King Edwards erinnert) stammen vor allem aus der Arbeiterschicht. Lennonisten streiten sich heute noch, ob ihr Idol in jenen Jahren als Teddy auftrat oder nicht. Manches spricht dafür, dagegen spricht seine Ehrfurcht, ja Angst vor richtig schweren Teddy-Jungs aus dem Hafenviertel. Vorprogrammiertem Ärger geht John Lennon geschickt aus dem Weg, doch gegen Schicksalsschläge anderer Art ist er machtlos. Der Junge ist erst 14, als Onkel George plötzlich stirbt: »John war zu der Zeit in Schottland. Als er nach Hause kam, sagte er ›Hallo Mimi, hallohallo‹. Er küsste uns immer ab. In der einen Hand hatte er ein Geschenk für mich, in der anderen eines für George. Und dann fragte er: ›Wo ist Onkel George?‹ Ich saß wie versteinert in meinem Sessel und sagte: ›John, Onkel George ist tot.‹ Er wurde totenbleich und ging ohne ein Wort nach oben. Er hat nie wieder darüber gesprochen.«

Für diesen und jeden folgenden Schmerz findet John Lennon sein Ventil: Musik, Kunst und Provokation. Er schreibt den »Daily Howl«, comicartige Bilder, Karikaturen mit witzigen Texten; er verstärkt seine Streiche an der Schule und entdeckt die Macht der Musik, denn Elvis Presley erobert gerade die Welt. »Zu der Zeit, als der Rock’n’Roll nach Großbritannien kam – ich war damals um die 15, es muss also 1955 gewesen sein –, war Skiffle eine ganz große Sache. Skiffle ist eine Art amerikanische Folk Music mit Waschbrett, da ging’s immer jing-jinga-jing-jinga. Alle Kids von 15 aufwärts hatten eine solche Gruppe. Ich gründete eine an unserer Schule. Dann traf ich Paul. Wir lernten uns an dem Tag kennen, als ich zum ersten Mal ›Be-Bop-A-Lula‹ live auf der Bühne spielte. Nach dem Auftritt unterhielten wir uns. Ich merkte, dass er Talent hatte. Er spielte hinter der Bühne Gitarre – ›Twenty Flight Rock‹ von Eddie Cochran. Schon bei dieser ersten Begegnung habe ich ihn gefragt: ›Willst du bei uns einsteigen?‹ Ich glaube, er hat am nächsten Tag zugesagt. George kam über Paul in die Gruppe. Paul war der Einzige, den ich mir selbst als Partner ausgesucht habe. Paul und später Yoko. Keine schlechte Wahl, oder? Ich dachte nie daran, die Musik zu meinem Leben zu machen, bis mich der Rock’n’Roll packte. Ich sah Elvis und dachte: Cool. Du verdienst Geld und kriegst die Mädchen. Das hat mein Leben verändert«, erzählt John in seinem allerletzten Interview am 8. Dezember 1980 nachmittags dem Journalisten Dave Sholin für das KFRC RKO Radio. Schon früher variiert er diese Aussage, am beeindruckendsten im April 1975 in der »Tomorrow Show«, als er von Tom Snyder interviewt wird: »Als wir noch in Liverpool waren, schaute ich mir diese Filme an mit Elvis oder anderen. Da standen alle vor dem Kino und warteten auf ihn. Und ich wartete auch auf ihn. Und als er dann auf der Leinwand erschien, schrien sie alle. Also dachte ich: ›Das ist ein guter Job.‹« Lennon, glattrasiert, im weißen Sakko, leger aufgeknöpftes Hemd, ein locker sitzender, schlecht geknoteter braun-beiger Schal, das Haar schulterlang in Mittelscheitel-Frisur, die Brille mit Silbergestell, hebt kurz den Zeigefinger und sagt: »That’s a good job.« Lacher im Publikum, er presst die Lippen aufeinander, macht eine Pause und unterdrückt selbst ein Lachen. Kein Wunder: Sein Album »Walls and Bridges« ist gerade in den internationalen Charts, allein in den USA 35 Wochen lang. Die Single-Auskoppelung »Whatever Gets You Thru’ The Night« gelangt als erste und einzige Solosingle zu seinen Lebzeiten in Amerika auf Platz eins.

Den ersten Weg zur ersten Nr.1 ebnete die erste Mundharmonika, die er mit acht Jahren zu spielen beginnt, nachdem ein Pensionsgast bei Tante Mimi sein Talent entdeckt hat. Mit einer chromatischen Harmonika und einem Heft zum Selbststudium lernt er Dutzende von Liedern, englische Folksongs ebenso wie moderne Schlager. Doch Mimi Smith sieht diese Entwicklung mit Sorge: »Damit fangen wir gar nicht erst an, John. Ein Klavier kommt mir nicht ins Haus«, lehnt sie den Wunsch nach mehr Instrumenten ab.

Obwohl die Tante ihm später eine Gitarre schenkt – nicht die erste, die bekommt er von seiner Mutter –, zieht sich ihr Misstrauen gegen Musik wie ein roter Faden durch die Jugend des Jungen. Mimi Smith empfindet auch seine Zeichnungen und Gedichte als Zeitverschwendung, und je heftiger sie sich gegen Teddy-Look und Rock’n’Roll wehrt, desto attraktiver wird diese Gegenkultur für ihren Neffen. Zudem ist das ein Grund, wieder verstärkt den Kontakt zu seiner Mutter zu suchen. Dort ist alles nicht so ordentlich und sauber wie bei der pingeligen Tante. Julia Lennon spielt Banjo, bringt ihrem Sohn die ersten Akkorde bei, ist begeistert von der mitreißenden Musik Fats Dominos und Elvis Presleys, tauft eine ihrer Katzen Elvis, hört sich gerne die neuen wilden Songs im Radio an und tanzt dazu; in ihrem Haus pulsiert das musikalische Blut, das John sich wünscht und das ihn weiterbringt. Julia schenkt ihm schwarze Röhrenjeans, einen Regenmantel mit gepolsterten Schultern und ein buntes Hemd: Rock’n’Roll-Mode, die der Teenager vor seiner Tante verstecken muss.

Mit den von John Lennon gegründeten »Quarrymen«, benannt nach seiner Schule, kommt es zu mehreren Auftritten. Später heißt seine Band für kurze Zeit »Johnny and the Moondogs«, noch später »John and the Silver Beetles«, »The Silver Beetles« (die silbernen Käfer), nur »Silver Beats« oder »The Beetles« oder »The Beatals« (»beat all« – wir schlagen sie alle). Schließlich empfiehlt – hier teilen sich die Meinungen der Beatles-Forscher – »der Mann auf dem flammenden Kuchen« (»the man on the flaming pie«), der mit John Lennon befreundete Autor Royston Ellis, in der letzten Version des Bandnamens das zweite »e« in ein »a« zu verändern, aber ohne Wettbewerbsgedanken, daher nicht mit der Endung »als« sondern wieder »les«. Damit hält man Abstand von den Crickets, der Band Buddy Hollys, und von Marlon Brando, der im Film »Der Wilde« Anführer einer Gang ist, die sich von einer anderen Bande namens »The Beetles« distanziert und weckt stattdessen Assoziationen zum Beat, zum Schlag, also zur Beatmusik und zu den Beatniks, den Autoren und ihren Werken. Untersuchungen zur Namensfindung der Beatles füllen ganze Ordner. Als Paul McCartney 1996 den Song »Flaming Pie« aufnimmt, gewinnt die Ellis-Version an Glaubwürdigkeit, zumal Royston Ellis die WG-Bewohner in London 1959 gerne bekocht und einmal einen Kuchen so stark anbrennen lässt, dass er im Ofen Feuer fängt. John Lennon selbst zieht die Verbindungslinie in seinem ersten Artikel »On The Dubious Origins Of Beatles, Translated From The John Lennon« für die erste Ausgabe vom 6. Juli 1961 der Zeitung »Mersey Beat«, in dem er in seinem sich hier schon abzeichnenden Jabberwocky-Stil von einer Vision erzählt, in der ihm »ein Mann auf dem flammenden Kuchen« den definitiven Beatles-Namen bringt. Aber bis zur Verwandlung dieser Beatles in die Fab Four muss noch viel geschehen, auch wenn die Grundlage, die wilde Entschlossenheit, als Musiker erfolgreich zu sein, vorhanden ist. »Quarrymen«-Begleitmusiker Rod Davis erinnert sich: »John bearbeitete seine Gitarre dermaßen hart, dass ihm immer wieder mal eine Saite riss. Dann reichte er sie mir, nahm mein Banjo und spielte weiter, während ich für ihn die neue Saite aufzog.«

Zur Basis für den späteren Erfolg gehört auch Lennons Instinkt, sein zielgerichtetes Management. Der Boss stellt rückblickend seine Überlegungen bei der Erweiterung der Quarrymen durch McCartney als Win-Win-Situation dar: »Ich dachte für mich: ›Der ist so gut wie ich.‹ Ich war bis dahin der Chef gewesen. Und jetzt überlegte ich: ›Was wird wohl passieren, wenn ich ihn aufnehme?‹ Die Frage lautete, ob ich meine leitende Position behalten oder die Gruppe insgesamt stärker machen wollte«, erklärt er im Interview mit dem »Rolling Stone«-Herausgeber Jann Wenner im Dezember 1970.

Paul McCartney schlägt bald darauf seinen Freund George Harrison als Sologitarristen für die Band vor. Seit dem Sommer 1957 besteht das Ur-Trio der Beatles zwar noch unter dem Namen »Quarrymen« und mit wechselnden Schlagzeugern, Bassisten und weiteren Gastmusikern, doch John, Paul und George gehen fortan gemeinsame Wege und erobern musikalisch die Welt.

John Lennon singt mit seiner hohen schneidenden Stimme die fetzigen Hits aus Übersee. Er steht breitbeinig, im Rhythmus leicht wippend und etwas vornübergebeugt, ohne Brille und kurzsichtig, wie er ist, mit zu Schlitzen verengten Augen – weswegen er manche Konzertbesucher an einen Japaner erinnert – vor den anderen Musikern in der Mitte der Bühne. Hier lernt er sein Handwerk, was zu den herausragenden Rhythmusparts der später erfolgreichen Beatles führen wird. Wie außergewöhnlich John die Gitarre spielt, zeigt eindrücklich Mike Pachelli in einem 20-Minuten-Video »The Genius of John Lennon Guitar« (2016). John wirkt auf der Bühne aufreizend und aggressiv. In erster Linie will er sein Publikum sehen und die Wirkung prüfen, die er auf es hat. »Ich hatte immer eine Bande, ich war immer der Boss, und die Beatles wurden eben meine neue Bande. Ich hatte immer eine Gruppe von drei oder vier Kumpels um mich, die verschiedene Rollen in meinem Leben spielten, Helfer, Untergebene, und ich war der Leithammel. Ich war derjenige, über den die Eltern der anderen Jungs sagten, auch Pauls Vater: ›Halt dich bloß von dem fern.‹ Die Eltern spürten instinktiv, dass von mir Ärger zu erwarten war. Im Gymnasium war ich ein echter Versager. Deshalb legte mir der Schulleiter nahe, an die Kunstschule zu wechseln. Er beteuerte: ›Wenn John da nicht hingeht, kann er gleich einpacken.‹ Er arrangierte es, dass ich auf die Kunstschule kam. Fünf Jahre war ich dort und habe wieder versagt. Aber ich habe einen ausgeprägten Sinn für Humor entwickelt, habe einige starke Leute kennengelernt und hatte viel zu lachen.«

John Lennon

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