Читать книгу John Lennon - Nicola Bardola - Страница 6

»Ich bin hier, um allen das Licht zu zeigen« Selbstfindung zwischen Ehrgeiz, Zweifel und Größenwahn

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Glücklich all diejenigen, die mit ihm lachen dürfen. Dazu gehören ab 1957 seine spätere Frau Cynthia und ab 1960 sein Freund Klaus Voormann. Yoko Ono trifft erst 1966 erstmals mit John zusammen, aber niemand beschreibt so einfühlsam wie die verliebte Japanerin die Wirkung seiner Präsenz: »Er war ein viel attraktiverer Mann als derjenige, den man von Fotos oder von Filmen her kennt. Seine Haut war sehr glatt, zart und weich, sein Haar seidig und rötlich-blond: Wenn das Licht auf bestimmte Art darauf fiel, schimmerte es wirklich rot. Ich neckte ihn und sagte: ›Du bist ein Rotschopf!‹ Er erwiderte: ›Niemals!‹ Aber die Art, wie er lachte, machte deutlich, dass er das nicht zum ersten Mal hörte. Als er sich den Bart wachsen ließ, war er unübersehbar vorwiegend rot. John hatte drei kleine, aber deutliche Muttermale in der Mitte seiner breiten Stirn. Das erste war oben am Haaransatz, das letzte gut sichtbar da, wo sich ›das dritte Auge‹ befindet.

Von Buddha sagt man, er habe ein Muttermal in der Mitte der Stirn gehabt. In der orientalischen Lehre gilt das als ein Zeichen großer Weisheit. Ich sah in Johns wohlgeformtem, länglichem und klar konturiertem Gesicht Ähnlichkeiten mit einer Kabuki-Maske. Es war ein Gesicht, wie man es in Shakespeare-Stücken erwarten könnte. John bewegte seinen Körper mit einer bestimmten Leichtigkeit, die seinen Gesten etwas Würdevolles verlieh. Er war noch keine dreißig Jahre alt, als ich ihn traf. Ich war acht Jahre älter. Aber ich empfand ihn nie als jünger. Wenn man in seiner Nähe war, spürte man eine starke geistige Präsenz, die von ihm ausging, die zu gewichtig für einen jungen Menschen zu sein schien. Manche Menschen werden alt geboren. Das war John«, schreibt Yoko Ono 1998 in der Einleitung des Begleitbuches zur vier CDs umfassenden »John Lennon Anthology«, auf der bis dahin unveröffentlichte Aufnahmen zu hören sind.

Die mit John Lennon lachen dürfen, strahlen ihrerseits Besonderheiten aus. Meine Begegnungen mit Cynthia Lennon, May Pang, Yoko Ono und Klaus Voormann sind geprägt von einmaligen Auftakt-Impressionen. Bei Cynthia bleibt die sich augenblicklich einstellende umsorgende und mütterliche Art nachhaltig in Erinnerung. Das hat mit ihren sanften Gesichtszügen, der entsprechend nachfragenden und fürsorglichen Mimik und ihrer weichen Stimme zu tun. Bei May ist es eine überwältigende Herzlichkeit: Beim Foto schmiegt sie sich an mich. Und Yoko schreibt mir nach einer Podiumsdiskussion, in die ich mich vom Publikum aus einschaltete in ihr Buch »Grapefruit«: Saw you much in love. Ich war tatsächlich gerade frisch verliebt und zugleich begeistert von Yokos Auftritt. Bei Klaus ist es die Unkompliziertheit und die ad hoc hergestellte Nähe schon beim allerersten Willkommensgruß, als er an einem heißen Sommertag den Kopf aus seinem Atelierfenster streckt und »Komm rauf!« ruft.

For goodness sake, I’ve got the hippy hippy shakes! Als der junge Berliner im so nicht mehr existierenden Hamburger Kellerloch namens »Kaiserkeller« die Liverpooler zum ersten Mal sieht, fällt er beinahe vom Hocker. Er ist sofort infiziert, diese Musik, diese Band und diese Menschen sind fortan sein Leben. Betrunken macht er mit dem Bandleader die Reeperbahn unsicher, oder sie ihn. Die beiden trinken in einer Samstagnacht bis zum Umfallen, bleiben aber dank Preludin-Tabletten aufgedreht und torkeln noch weiter in den Sonntagmittag hinein durch St.-Pauli. Als sie sich in einem Pornoclub vor Lachen kugeln, statt den Ladenbesitzer zu bereichern, schmeißt er sie hinaus, woraufhin John auf der Straße liegend Klaus prustend zu erklären versucht, warum sein deutscher Kumpel so weich liegt. »Meine sanfte Landung war kein Wunder, sondern der fette Hintern einer Prostituierten. Seit dieser Hamburger Nacht war klar, dass ich Johns Freund sein würde bis zum bitteren Ende.« Klaus Voormann entwickelt zu allen vier Beatles tiefe und gute Beziehungen, die zu Paul McCartney und Ringo Starr bestehen bis heute weiter. Aber die Verbindung zu John Lennon ist besonders eng, was auch durch die intensive musikalische Zusammenarbeit nach dem Ende der Beatles gefördert wird, wie Voormann in seinem Buch »Warum spielst du ›Imagine‹ nicht auf dem weißen Klavier, John?« betont. »John wird oft als Rebell beschrieben, als ein Mensch, der gern provozierte und sich mit Sarkasmus wehrte. In der Tat genoss er dieses Image, aber es war auch eine Fassade. John war ein hochsensibler, leicht verletzbarer Mensch. Sein Sinn fürs Groteske, seine Ironie, seine Angriffslust waren Ausdruck seiner aufschreienden Seele. Seine Hilflosigkeit veranlasste ihn zu diesen scheinbaren Ausrutschern, zum Nachäffen von Behinderten. Böse gemeint war das nie. Je berühmter John wurde, umso mehr verschwand dieses ohnmächtige Gefühl in ihm, und er wandelte sich vom sarkastischen Rebell zum Friedensbotschafter.«

Ähnlich empfindet Cynthia Lennon: »Als ich John zum ersten Mal traf, dachte ich – ein grässlicher Kerl. Seine Arbeiten auf der Kunstschule waren innovativ – total anders als die der anderen. Ich war eine Kunststudentin, die sich an die Regeln hielt. John dagegen wollte mit allen Regeln brechen. Deshalb war er so eigenwillig und unausstehlich. John verbreitete Angst um sich. Durch sein Benehmen schüchterte er Leute ein, anfangs auch mich. Er war ein Schläger und überhaupt nicht der Typ, mit dem ich anbandeln wollte. Aber er hatte etwas Geheimnisvolles an sich, dem man nicht widerstehen konnte. Er lief damals immer ohne Brille rum, weil es in Liverpool von Schlägern nur so wimmelte. Die hatten es besonders auf Brillenträger abgesehen. Und weil er nichts sehen konnte, dachte er, er wird angegriffen. Deshalb war er immer im Laufschritt unterwegs.«

Cynthia Lennon kommt 2005 anlässlich des Erscheinens ihrer Biografie »John« nach München. Wir treffen uns in einem ruhigen Restaurant zum Lunch. Die Pressedame setzt sich weit weg und lässt uns reden. Cynthia Lennon ist mollig, weich und zart und hat eine sanfte Stimme. Sie strahlt etwas Gequältes aus und wirkt doch so, als wüsste sie sehr wohl, wie man das Leben genießt. Wir trinken einen Wein zum Essen, sie lacht viel und versucht mir, über das Buch hinaus, ihren John näherzubringen. Nie bin ich einer mütterlicher wirkenden Frau begegnet. Mit dieser herzlichen Aura muss sie schon ihren Exmann in Watte gebettet haben; mit dieser Geduld und Empathie hat sie versucht, seine vielen Wunden zu heilen. Cynthia und John – Gegensätze, die sich anziehen.

»Obwohl er aus der Mittelschicht kam, zog er sich wie ein Halbstarker an: die Haare mit Pomade zurückgekämmt, keine Brille, eine Gitarre über der Schulter, und ein Blick, der sagte: ›Töten.‹ Ich glaube, als er seine Mutter verlor – sie starb ein Jahr, bevor ich ihn kennenlernte –, brach für ihn eine Welt zusammen, und damit hatte er zu kämpfen. Er war eine Mischung aus Krieg und Frieden. Es gab viele Kämpfe. Aber schließlich setzte sich der Frieden durch«, beteuert Cynthia in unserem Gespräch im Dezember 2005 im Restaurant des Hotels Le Méridien in München. In der Tat: Der Entwicklungsbogen reicht von den Schlägen, die John als Schüler in Liverpool von seinen Lehrern bekommt, über die Schläge, die er als Jugendlicher austeilt, dem Hin- und Hergerissensein zwischen Frieden und Gewalt im vieldiskutierten Song »Revolution« (you can count me out/in) bis hin zum Bekenntnis zur Gewaltfreiheit beim Kampf für den Frieden, beginnend mit dem Bed-in in Amsterdam. Beim gemeinsamen Espresso denke ich, dass Cynthia für John ein Glücksfall war, sie hat ihn in die richtige Richtung gelenkt. Und Yoko hat Johns Einsatz für den Frieden mit ihren Mitteln weitergezogen.

Im Sommer 1957 kommt der Film »The Girl Can’t Help It« in die Liverpooler Kinos. John Lennons Rock’n’Roll-Idole sorgen für den Soundtrack: Little Richard, Eddie Cochran, Gene Vincent – er sieht sie jetzt nicht mehr als weit entfernte Sterne am Künstlerhimmel, sondern als Wegbereiter für seine künftige Karriere, denn sein Selbstbewusstsein steigt mit jedem Gig. Nicht mehr unerreichbar erscheinen ihm auch die Everly Brothers und sogar Elvis, obwohl er die Tendenz des Kings zu Schnulzen skeptisch beobachtet. Der Beatle pickt sich aus der Masse an Hitproduzenten die Musiker als Vorbilder und Inspirationsquellen heraus, die heute noch durch besondere Originalität in Erinnerung bleiben. Zu ihnen gehören auch die unterschätzten Larry Williams (»Short Fat Fannie«, »Bony Moronie«, »Dizzy Miss Lizzy«), Lloyd Price (»Just Because«) oder Richie Barrett (»Some Other Guy« mit einem Intro, das Lennon zehn Jahre später zur Einleitung für »Instant Karma« nutzen wird).

Yoko Ono veröffentlicht posthum 1986 ein Album mit einigen Rock’n’Roll-Songs und Alternativ-Versionen zum »Mind Games«-Album, die Lennon für zweitklassig hielt. Sie nennt die Platte »Menlove Ave.« und begründet es mit seinen amerikanischen Rock-Wurzeln, die dort bei Mimi Smith gegen deren Willen entstanden sind. »Was ich in Johns Stimme höre, sind auch die anderen Wurzeln, die des Jungen, der in Liverpool aufgewachsen ist.« Eine Hommage an diese verwirrenden Zeiten des Übergangs vom Covern von Klassikern hin zum eigenen Please-Please-Me-Mersey-Sound komponiert John Lennon mit dem Song »Rock And Roll People«, den er aber zu Lebzeiten nicht selbst veröffentlicht, sondern seinem Freund Johnny Winter überlässt, der seine Sache auf dem Album »John Dawson Winter III« von 1974 sehr gut macht. Der schielende Albino-Junkie mit den flinken Fingern und der Raspel-Stimme nutzt die Chance und die Ehre, eröffnet eine seiner besten Scheiben mit dem Stück und posiert selbstbewusst im Smoking mit übergroßer Samtfliege auf dem Cover. Ja, wir sind Rock’n’Roller, geboren, um die News herauszupicken. Ja, wir sind Rock’n’Roll-Menschen, ich könnte es nicht ändern, selbst wenn ich wollte … Mein Vater war eine Mutter, meine Mutter war ein Sohn, mach mir doch nichts vor. Wir waren alle mal 21, heißt es in »Rock And Roll People«.

Von der übersprudelnden Kreativität des Songwriters profitieren einige Kollegen, John Lennon gibt mehrfach seine Kompositionen weg. Meistens passen die Stücke gerade nicht in sein aktuelles Konzept und stattdessen umso besser in das von Freunden. Das vielsagende »I’m The Greatest« beispielsweise überlässt er Ringo Starr für dessen bis heute bestverkauftes Album »Ringo« von 1973. Er nimmt wie »Rock And Roll People« auch diesen Song auf, und es gibt eine gute Studio-Fassung davon, aber sie dient nur dazu, Kumpel Ringo die Richtung zu zeigen, der »I’m The Greatest« dann auch hervorragend umsetzt. Auf »Ringo« sind die Beatles virtuell wiedervereinigt, nebst John singen und musizieren auch Paul und George in verschiedenen Liedern, und alle vier steuern Kompositionen bei. »I’m The Greatest« fällt die Ehre des Eröffnungsliedes zu: Als ich ein kleiner Junge war, damals in Liverpool, sagte mir meine Mutter, ich sei großartig. Als ich dann ein Teenager war, war mir klar, dass ich etwas draufhatte, alle meine Freunde sagten, ich sei großartig. Und jetzt bin ich ein Mann. Eine Frau nahm mich bei der Hand. Und du weißt, was sie mir sagte – ich sei großartig. Ich war in der größten Show der Welt. Nur so nebenbei. Jetzt bin ich erst 32 und alles, was ich will, ist boogaloo. Ich schaute in den Spiegel, sah meine Frau und die Kinder. Und du weißt, was sie mir sagten – ich sei großartig. Ja, mein Name ist Billy Shears … Ich bin der Größte, das kannst du mir glauben, Baby.

Sein erstes Geschenk dieser Art macht John Lennon 1960 dem Sänger Johnny Gentle, den die Beatals als »The Silver Beetles« bei ihrer ersten und nur zwei Wochen dauernden Tournee durch Nordengland begleiten. Die Reise verläuft chaotisch, unter schlechtesten Bedingungen und mit minimaler Publikumsresonanz. Manche Konzerte werden abgesagt. Die Absteigen sind so schäbig, dass die Musiker öfter lieber im Tourbus übernachten, der dann am Ende noch in einen Unfall verwickelt wird. Zum Glück wird niemand ernsthaft verletzt, aber es grenzt an ein Wunder, dass sich die Beatals nach dieser traumatischen Erfahrung immer wieder auf schlecht organisierte Touren begeben.

Johnny Gentle arbeitet während dieser Konzertreise an einem eigenen Song im Buddy-Holly-Stil. Lennon hört ihn hinter der Bühne proben und kritisiert den Mittelteil. Er bietet ihm dafür die eigenen Verse: We know that we’ll get by. Just wait and see. Just like the songs tell us, the best things in life are free. Dieser Text passt fabelhaft und erscheint kurz danach in mehreren Interpretationen von »I’ve Just Fallen«, noch bevor John Lennon seinen ersten eigenen Song professionell aufnimmt.

Beim folgenreichsten Geschenk dieser Art ist Lennon erst 23 Jahre alt, hat aber bereits drei Nr.-1-Hits in den englischen Charts, ist also schon ein britischer Superstar und möchte einer noch unbekannten Band unter die Arme greifen, die bislang erst eine erfolglose Single, eine Chuck-Berry-Cover-Version von »Come On« veröffentlicht hat.

Während jedes London-Aufenthalts und auch noch als die frischgebackenen Fab Four bereits ihr Domizil dort aufgeschlagen haben, besuchen sie meist gemeinsam und mit weiteren Freunden Konzerte junger Bands. Die Rolling Stones sehen sie zum ersten Mal 1963 im Crawdaddy Club. Lennon ist fasziniert von der Ausstrahlung der Band, von Brian Jones’ musikalischem Können und Mick Jaggers instrumentenfreier Frontman-Aura. Auch Paul und die anderen sind überzeugt von den Qualitäten der Rolling Stones, freunden sich mit ihnen an und überlassen schließlich Mick Jagger und Keith Richards den Song »I Wanna Be Your Man«, der zum ersten Top-Ten-Erfolg der späteren großen Rivalen wird. Mick und Keith kopieren bald die Lennon-McCartney-Methode und komponieren immer mehr eigene Songs im Duo.

Nach außen hin versammeln die Beatles und die Stones vor allem in Europa verschiedene Fangemeinden um sich, die sich manchmal gegenseitig verachten. Das Phänomen »entweder Beatles oder Stones« existiert jedoch in England und in den USA nur in abgeschwächter From. Man darf dort Fan beider Bands sein. Kein anderer hat das Thema gründlicher untersucht als der Historiker John McMillian in seinem sehr lesenswerten Buch »Beatles vs. Stones – Die Rock-Rivalen« (2014). John Lennon hält bis zuletzt Kontakt vor allem zu Mick und Bianca Jagger, tritt mehrfach gemeinsam mit ihnen in der Öffentlichkeit auf, und es gibt auch gemeinsame Aufnahmen. Herausragend ist der Auftritt John Lennons im »Rock and Roll Circus« 1968, als er nach einem Dialog mit Mick Jagger gemeinsam mit Eric Clapton, Keith Richards und Mitch Mitchell den »Yer Blues« singt. Lennon nennt die Gruppierung in Anspielung auf Fleetwood Mac »The Dirty Mac«, eine Band, die nur für diesen einen Gig existiert. »Rock And Roll People« wäre der ideale Song für den »Rock and Roll Circus« und »The Dirty Mac« gewesen, aber er komponiert den Song erst fünf Jahre später.

Für das Album »Mind Games« ist »Rock And Roll People« zu hart, die Stimmung in Lennons letzten Teenagerjahren und in seinen beginnenden Twenties trifft das Stück jedoch genau. Wie später nach dem Beatles-Bruch seine Aktionen in unheimlichem Tempo aufeinanderfolgen, so dass vieles intuitiv und unreflektiert geschieht, so stürzt sich John Lennon beim Wechsel von der Menlove Avenue ins Zentrum von Liverpool in viel Alkohol, Sex und Rock’n’Roll. Nach den ersten Skiffle-Versuchen, nach geschwänzten Schulstunden, um mit Paul zu komponieren, zu schreiben und Scherze zu treiben, beginnt das große Abenteuer seines Lebens, des Erwachsen- und Berühmtwerdens. Dabei weist er alle Vorsichtsmaßnahmen zurück. Ein Dozent der Kunstakademie, an der er sich im September 1957 einschreibt, stellt fest, man habe bei diesem Studenten vergessen, eine Bremse einzubauen. John Lennon gibt Vollgas und rast in hohem Tempo weiter bis 1975. Er riskiert dabei mehrfach seinen guten Ruf und vollkommenes Scheitern. Aber was ihn nicht umhaut, macht ihn stärker. Und exakt das passiert von 1957 bis 1967: Er wird selbstbewusster, erfahrener und geschickter. Seine ihm innewohnende Gewaltbereitschaft und Rücksichtslosigkeit setzt er ein, um selbst voranzukommen, ohne jeweils genau zu wissen, wie und wohin. Als Motto und Leitplanke dient ein kleiner Dialog zwischen den Jungs aus Liverpool auf dem harten Weg zu den späteren Fab Four, aber auch danach auf dem Gipfel des Erfolgs, wenn sich die Sorge vor dem Rückfall in die Bedeutungslosigkeit breitmacht, der viele vor ihnen und viele nach ihnen ereilt. John fragt, und die anderen drei erwidern im Chor:

»Wo wollen wir hin, Leute?«

»An die Spitze, Johnny!«

»Und wohin genau, Jungs?«

»An die Spitze der Spitze der Popmusik!«

»Genau!«

Der Dialog stammt aus dem Hollywood-Musical »The Band Wagon« von 1953, mit Fred Astaire: »Where are you going, fellas? To the top, Johnny! And where’s that? To the toppermost of the poppermost, Johnny!«

Noch als Solokünstler plagen ihn vor allem in der Entstehungsphase der Songs Zweifel, ob sie gut genug sind. Mit der Wahl des Produzenten für »Double Fantasy« lässt sich Lennon viel Zeit. Er bittet schließlich Jack Douglas, seine Stimme mit viel Hall aufzunehmen, aus Sorge, ohne Verfremdung nach fünfjähriger Showbusiness-Abstinenz nicht zu überzeugen. Ängste und Schüchternheit begleiten ihn bei aller Gewissheit, genial zu sein, immer auch im Studio, ausgerechnet wenn es ums Singen geht. Aber dann sucht er sich einen meist autosuggestiven Weg, die Zweifel zu überwinden. Mit den Beatles thematisiert er sie (»I’m A Loser«, »Help!«), später werden sie von der neu gewonnenen Lebensfreude verdrängt (no longer riding on the merry-go-round). Doch woher kommt dieser große Ehrgeiz des Künstlers, der sich noch kurz vor seinem Tod darin manifestiert, dass er die Seite mit den Charts neben die Eingangstür hängt, »Double Fantasy« mit Filzstift einkreist und mit einem Pfeil nach oben hin zur Nr.1 versieht? Was treibt ihn an die Spitze? Meist steht er doch schon ganz oben und kann nur sich selbst von dort vertreiben. Seine Reden an die Außendienstmitarbeiter von EMI bei Veröffentlichungen neuer Platten sind Legende. Darin beweist er enorme Fähigkeiten als Motivator und schließt gerne die Lobpreisung seiner Songs mit den Worten: »Wenn ihr sie mögt, verkauft sie. Wenn ihr sie nicht mögt, verkauft sie trotzdem.«

Als eine seiner Antriebskräfte lässt sich Tante Mimi ausmachen. Cynthia Lennon analysiert die Situation so: »Mimi erwartete anscheinend, dass sich in Johns Leben alles nur um sie drehte, und wehe, wenn ihr da jemand dazwischenkam. Mir gegenüber beklagte sie sich oft, dass er es ihr nicht recht machen konnte – selbst Jahre später, als er längst weltberühmt war und reich, buhlte er immer noch um ihre Anerkennung, erntete aber oft nur Hohn und Spott. Mimi überlebte John um elf Jahre, und nach seinem Tod stilisierte sie sich gern als zwar strenge, aber doch liebevolle Tante, die ihm die Sicherheit gegeben habe, auf der sein Erfolg letztlich beruhte. Aber das war nicht die Mimi, die ich kannte: Ich kannte sie als eine Frau, die Johns Selbstvertrauen ständig aufs Neue erschütterte und ihn oftmals wütend und verletzt zurückgelassen hat. Meiner Meinung nach beruhte Johns stetes Erfolgsstreben zumindest zum Teil auch auf der Unmöglichkeit, vor Mimis Augen bestehen zu können. Vermutlich war ihm gerade deshalb die bedingungslose Liebe und Unterstützung, die er von mir bekam, so wichtig. Als seine Freundin wusste ich, wie viel ihm etwas Freundlichkeit oder gar Ermutigung von ihrer Seite bedeutet hätte – deshalb mochte ich ihr die ständigen Nörgeleien nicht verzeihen.«

Wir sitzen 2005 im Restaurant in München und ich wünschte, Tante Mimi einmal begegnet zu sein (sie starb 1991). Ohne Zweifel ist die strenge Dame, der man nachsagt, sie habe nie Sex mit ihrem Mann George gehabt, habe aber nach dessen Tod eine wilde Affäre mit einem Studenten angefangen, der bei ihr zur Miete wohnte und kaum älter als ihr Ziehsohn war, mitverantwortlich für Lennons Ehrgeiz.

Liverpool: Der Seehafen mit den Matrosen aus aller Welt und dem Gefühl von Weite und Freiheit bietet ein multikulturelles, raues und exzentrisches Leben. Liverpool: die Stadt der Dialekt- und Sprachenvielfalt, der großen Zahl arbeitsloser und gewaltbereiter Jugendlicher, der vielen Prostituierten, der fremdländischen Bewohner aus den britischen Kolonien. Eine Stadt mit engagierten Gewerkschaften und kämpferischen linken Politikern, die sich von der Metropole London nichts vorschreiben lassen wollen. Trotz kommt auch im musikalischen und künstlerischen Gefälle zum Ausdruck. Der Junge aus der Menlove Avenue will nicht akzeptieren, dass Erfolg zwangsläufig in London geboren werden muss. Warum nicht auch einmal in Liverpool?

In seiner Heimatstadt gründet John Lennon nicht nur die Beatles, sondern gemeinsam mit Freunden The Dissenters, eine lose Verbindung, die Liverpools Dialekt, Kunst und Musik gegen die Hauptstadt-Arroganz aus dem Süden verteidigen soll. Der Maler Stuart Sutcliffe, der Autor Bill Harry und John, der Musiker, diskutieren nächtelang über die Autonomie der Mersey-Art und über die Möglichkeiten, Eigenheiten über den Weg der Nachahmung zu entwickeln. Hier in Liverpool experimentiert John Duette à la Everly Brothers mit dem 18 Monate jüngeren Paul, hier tritt er erstmals im Cavern Club auf, dem schlechtbelüfteten Kellergewölbe mitten im Geschäftsviertel, einen Steinwurf von einem Elektro- und Plattengeschäft entfernt, das den Eltern von Brian Epstein gehört. In diesem Umfeld muss er gegen echte Prolos bestehen, gegen authentische Working Class Heroes, die nicht wie er Bücherwürmer sind und Kunstausstellungen besuchen. Und er muss gegen Jazz- und Skiffle-Puristen antreten. Das beste Mittel ist einmal mehr der Rock’n’Roll. Die rasenden Sounds von Jerry Lee Lewis und die Ekstase eines Little Richard bringen alle zum Schweigen, flößen dem Publikum Respekt ein. Das Trio John, Paul und George tritt immer öfter bei Gelegenheitsgigs auf. Sei es in der Kunstakademie, sei es im Vorprogramm anderer Bands, sei es bei Wettbewerben, bei denen sie öfter mitmachen und nie gewinnen. Aus einer Hobby-Gruppe wird allmählich eine ernst zu nehmende Band, die ihr erstes Geld verdient, die gegen den noch vorherrschenden Musical-, Schlager-, Jazz- und Skiffle-Geschmack ankämpft und die verschiedene Images testet: mal mit Krawatte und im Anzug, mal in Lederkluft.

Pauls Schule befindet sich neben Johns Kunstakademie. Die beiden verbringen viel Zeit beim Hören der neuen Platten und mit dem Üben eigener Songs. Allerdings besitzen sie kein Tonband, um Demos aufzunehmen. Sie schreiben auch längere Nonsens-Texte oder Theaterstücke à la Godot, gehen ins Theater und besuchen Musicals, klopfen die Bereiche ab, in denen sie mit ihrem Überschuss an Kreativität Erfolg haben könnten. Gemeinsam mit George, einem Pianisten und einem Schlagzeuger gehen sie 1958 in ein Studio, in dem Amateure für wenig Geld professionelle Aufnahmen machen können. Sie entscheiden sich für Buddy Hollys »That’ll Be The Day« sowie für ein Country- und Western-Stück. Für jeden Song haben sie nur einen Versuch, wonach davon sofort eine Platte gepresst wird. Dieses eine Exemplar wandert dann von einem zum anderen, wird da und dort gespielt, verbleibt schließlich beim Pianisten, einem Schulfreund Pauls, und gilt heute als eine der teuersten Vinylplatten überhaupt.

Die Freundschaft von John Lennon und Paul McCartney beruht auf einer komplexen Basis. Einerseits wirken sie charakterlich wie Gegensätze, andererseits weisen ihre Lebensläufe erstaunliche Ähnlichkeiten auf: John ist herrisch, zielgerichtet, willensstark, rau und kompromisslos, Paul ist verständnisvoll, verspielt, freundlich und tolerant. Dank der musikalischen Ambitionen von Pauls Vater – er spielt in der Freizeit leidenschaftlich gerne verschiedene Instrumente – lernt John viel von Paul, was Harmonien, Melodien und Grifftechnik betrifft. Dafür profitiert Paul von Johns musikalischer Kraft und Härte und von seiner Jabberwocky-Rock’n’Roll-Lyrik. Die beiden ergänzen sich auf eine musikhistorisch einmalige Art, nach der definitiven Trennung 1969 zeigt sich allerdings, dass Paul auf Johns schnörkellosen Antrieb stärker angewiesen ist als John auf Pauls Girlanden. John zieht die klare Linie, Paul koloriert. Und selbstredend gilt in verminderter Form in allem das Gegenteil, was spätestens mit dem »White Album« deutlich wird: Mit die schönsten Songs entstehen, wenn Paul versucht, wie John zu komponieren, und umgekehrt. In den Anfangsjahren wirkt jedoch die unmittelbare Kooperation – das musikalische Spiel im selben Raum, das direkte Austauschen von Klang- und Satzfetzen und das Rumprobieren, Weiterführen und Ausgestalten – als Basis für die späteren Welterfolge. Zu zweit wühlen sie sich von einer ersten Liedidee bis zur herzeigbaren Rohfassung. Bei diesem Prozess landen Dutzende von Versuchen im Müll. Erst die Ausdifferenzierung von originellen und fesselnden Songs im Gegensatz zu Massenware, die im schlimmsten Fall direkt abgekupfert ist, schärft das Bewusstsein des Singer-Songwriter-Duos für Qualität. George, der Benjamin der Band, braucht einige Jahre, bis er sich traut, John und Paul eigenes Material gegenüberzustellen. Erst mit dem fünften Beatles-Album »Help!« darf der Sologitarrist ab 1965 pro Schallplattenseite einen Song veröffentlichen. Die Zurückhaltung des Duos Lennon/McCartney gegenüber Harrisons spiritueller Suche führt zu einem musikalischen Stau beim »Ruhigen« der vier Beatles, der sich kurz nach der Trennung der Fab Four im Dreifachalbum »All Things Must Pass« Bahn bricht.

Im Buch »I, Me, Mine« (1980, erweitert 2017) berichtet George Harrison, wie lange sein Lernprozess dauert, bis er so weit ist wie seine älteren Bandleader, bis er sie mit Kompositionen wie »Something« oder »Here Comes The Sun« überflügeln kann, um schließlich in den ersten Post-Beatle-Jahren der erfolgreichste der vier zu sein. Martin Scorsese und Georges Witwe Olivia realisieren 2011 die sehr sehens- und lesenswerte Dokumentation »Living in the Material World: George Harrison« als Film und Buch, worin Georges besondere Stellung innerhalb der Beatles viel Raum einnimmt.

Der Linkshänder Paul beschreibt die Besonderheiten der Zusammenarbeit mit John auch im Kontext ihrer spiegelbildlichen Gitarren-Haltung: »Wir konnten gegenseitig unsere Akkorde sozusagen umgekehrt lesen. Das bedeutete auch, dass wir, wenn wir die Gitarre des anderen ausborgten, verkehrt herum greifen mussten. Daraus entwickelte sich bei uns beiden diese kleine Kunstfertigkeit, auch auf einer falsch bespannten Gitarre zu spielen. Denn keiner von uns ließ es zu, dass der andere die eigene Gitarre umspannte.«

John und Paul im kleinen Zimmer bei Mimi, im Badezimmer von Julia, die es den Jungs zwecks besserer Akustik zur Verfügung stellt, zu Hause bei Paul, in Künstler-Wohngemeinschaften in Liverpool, in schicken Appartements in London, in freistehenden Villen mit professionellen Studios: Egal, wann und wo in ihrem Leben, sie sehen die Griffe des anderen spiegelbildlich und müssen den Akkord für sich selbst umsetzen.

Diese handwerklichen Ergänzungs- und Übersetzungsleistungen finden auch im emotionalen Bereich statt. John, äußerlich schlagfertig, ätzend, böse, aber verletzlich und warmherzig. Paul, äußerlich locker, lächelnd, lieb, aber innen zu harten Schnitten fähig, auch zum härtesten überhaupt: zur Klage 1969 gegen John, George und Ringo als letzten Ausweg, um die Unterzeichnung eines aus seiner Sicht unhaltbaren Vertragsentwurfs des Managers Allen Klein zu verhindern, was letztlich zum unwiderruflichen Ende der Beatles führt.

Bis dahin aber bauen sich eine tiefe Freundschaft und ein nahezu blindes Vertrauen auf, die bei späteren Geliebten und Frauen für heftigste Eifersucht sorgen. Schritt für Schritt werden John und Paul Blutsbrüder: Pauls Mutter ist schon über ein Jahr tot, als auch Julia stirbt. Als eine freundliche Bekannte, eine ältere Dame, den beiden musikbesessenen Jugendlichen in den Straßen Wooltons begegnet, erkundigt sie sich ausdrücklich nach dem Wohlbefinden der Mütter. Kaum ist die Frau außer Hörweite, prusten die beiden Halbwaisen los.

Unsicherheit angesichts des Todes. Verlegenheit. Nicht wissend, wie man sich verhalten soll. Dieses Thema begleitet John Lennon sein Leben lang. Gemeinsame Trauer, gemeinsamer Triumph und geheimes Verstehen. Hysterisches Lachen … auch als Reaktion auf den Verlust geliebter Menschen. Es erfasst ihn nicht nur beim tragischen Tod seiner Mutter, die von einem angetrunkenen Polizisten außer Dienst überfahren wird, sondern auch beim Tod eines seiner besten Jugendfreunde, Stuart Sutcliffe, der mit erst 21 Jahren 1962 in Hamburg an einer Gehirnblutung stirbt. Bis heute rätselt man, bei welcher Schlägerei möglicherweise das tödliche Gerinnsel entstanden ist.

Stuart Sutcliffe und John Lennon lernen sich auf dem College of Art in Liverpool kennen. Seit Beginn des Studiums bis zu seinem Tod ist Stuart Johns bester Freund. Er ist ein begabter Maler, aber John drängt ihn, in der Band mitzumachen. Widerwillig übernimmt der Freund den Basspart, nachdem John ihn überredet, das Honorar eines gewonnenen Kunstwettbewerbs in einen Höfner-Präsident-Bass zu investieren. Er spielt schlecht, auf der Bühne wendet er sich oft vom Publikum ab, und er hat keine Ausdauer, weshalb sich auf seinen Fingerkuppen bis zuletzt keine Hornhaut bildet. Dann begleitet er seinen Freund nach Hamburg und verliebt sich dort in Astrid Kirchherr. John bewundert die deutsche Fotografin, bewundert die Kreativität Stuarts und beneidet das schöne Paar. Es entstehen fabelhafte Fotos, die Astrid Kirchherr von den Beatles macht. Dank Astrid verändert Stuart seine Frisur und bald ziehen die anderen Jungs nach: Die Pilzköpfe wachsen.

Als die Beatles zum zweiten Mal nach Hamburg kommen, stirbt Stuart, der bereits bei Astrid war, in der Nacht vor ihrer Ankunft. John soll es am Flughafen erfahren haben und augenblicklich in hysterisches Lachen verfallen sein. Noch am selben Abend tritt er wie vertraglich vereinbart im Star Club auf. Musik und sofortige Trostsuche bis hin zur Erleichterung, überlebt zu haben und noch freier zu sein, als Reaktion auf Verlust. Zum Tod Julias sagt er: »Julia und ich hatten in wenigen Jahren so viel aufgeholt. Wir konnten uns austauschen. Wir kamen gut miteinander aus. Sie war so großartig. Ich dachte: Fuck it, fuck it, fuck it.«

Tante Mimis Nachbar sieht ihren Neffen später in der Nacht nach Julias Tod auf der Veranda im Haus an der Menlove Avenue sitzen und Gitarre spielen. Seine Trauer über diesen Verlust ist unermesslich. Aber gleichzeitig offenbart sich seine aggressive Note. Sieht er bei aller Trostlosigkeit einen befreienden Aspekt, der seiner Person, seiner Identität, seinem Ich eine größere Bedeutung verleiht? Wäre er ohne diese frühen Verluste so radikal und zielstrebig geworden? Hätte er ohne diesen Schmerz wenig später Songs komponieren können, die so oft eng verbunden sind mit tiefer Trauer? John Lennon leistet Trauerarbeit, indem er sich rasch für das Leben, das freie Leben, sein freies Leben entscheidet.

Astrid Kirchherr erinnert sich an Gespräche nach dem Tod ihres Verlobten; John, der mit Stuart selbst seinen damals besten Freund verliert, spendet ihr zunächst einfühlsam und geduldig Trost. Aber dann, eines Nachts nach dem Auftritt der Beatles, fährt er sie hart an: Sie müsse sich entscheiden, für den Tod oder für das Leben. Astrid ist sicher, dass John sie mit seiner plötzlich so groben Art gerettet hat. Das erzählt sie ihrem Freund Klaus Voormann, mit dem sie liiert ist, bevor Stuart auftaucht. Es ist eine große Clique, die sich Anfang der 1960er Jahre in Hamburg um die Beatles schart. Man experimentiert mit verschiedenen Kunstformen, die deutsche und die englische Mentalität reiben sich intensiv aneinander, es entsteht Aufregendes.

Es ist auch eine explosive Stimmung, in der heftige Leidenschaft manchmal auf zerstörerische Eifersucht stoßen kann. Eine Schwester von Stuart Sutcliffe veröffentlicht 2001 Memoiren, in denen sie behauptet, John Lennon habe sich während des ersten Hamburg-Aufenthalts mit ihrem Bruder geprügelt und ihn schwer am Kopf getroffen. Andere glauben, dass eine Schlägerei in Liverpool 1961 den Tod des Bassisten verursacht hat, als John und Pete Best mit ihm gegen andere Schläger kämpften.

Es sind raue, zornige und zärtliche junge Männer, die ihren Weg suchen.

Jahrzehntelang hält das Band, das damals entstanden ist. Je länger John Lennon tot ist, desto offener bekennt sich Paul McCartney zu seiner Bewunderung für den Weggefährten. Als McCartney im Winter 2009 Konzerte in Deutschland gibt, widmet er einen Teil der Show dem Freund. Der YouTube-User TheBeatlesJohnPaulGe kommt nicht umhin, den von ihm hochgeladenen Clip »Paul McCartney Tribute to John Lennon« aus Pauls Konzert mit den Worten zu kommentieren: »Paul loves John!« McCartney sagt einleitend: »Manchmal möchte man im Leben etwas sagen, aber man tut es nicht zur richtigen Zeit. Manchmal will man jemandem sagen, dass man ihn liebt, aber dann denkt man ›hmm‹.«

Die Szene entbehrt nicht der Tragikomik. Einerseits wirkt Paul McCartney etwas verlegen bei der Vorstellung dieses Songs, den er auf zurückhaltendere Art schon auf einer Tour 2002 präsentiert hat, andererseits lockert eine Frau aus dem Publikum die Stimmung auf, indem sie just in diesem Moment schreit: »We love you!« Das gibt ihm die Gelegenheit zu scherzen, das sei jetzt tatsächlich der passende Augenblick für diese Bemerkung. Dann setzt er seine einleitenden Worte fort: »Man spricht nicht immer zur richtigen Zeit mit den richtigen Menschen. Man denkt sich, ich werde es ihm nächstes Mal sagen. Und wenn sie dann sterben, denkt man sich, hätte ich es nur damals gesagt. Also habe ich den nächsten Song für meinen lieben Freund John geschrieben. Dieses Lied ist wie ein Gespräch, das ich mit ihm hätte führen können. Dieses Lied ist für meinen Freund John.« Und er singt: »Und wenn ich dir sagen würde, dass ich dich richtig gut kenne, was wäre dann deine Antwort? Wenn du heute hier wärest – woooouuuu – heute hier. Wie ich dich kenne, würdest du wahrscheinlich lachen und sagen, dass uns Welten trennen. Wenn du heute hier wärest – woooouuuuu – heute hier. Was mich betrifft, erinnere ich mich immer noch, wie es damals war, und ich halte meine Tränen nicht mehr zurück. Ich liebe dich.« Es gibt frühere Aufnahmen, in denen Paul McCartney wirklich weint bei diesen Worten.

Das Rätsel der Liebe: Es holt den Rockpoeten John Lennon auch posthum immer wieder ein. Viele Menschen fragen sich, wie er all seine wunderschönen Liebeslieder hätte schreiben können, wenn er nicht in seinem eigenen Leben so viel Liebe erfahren hätte. Er hat sie nicht nur erfahren, er hat sie auch gesucht. Lennon erzählt mehrfach in Interviews von seiner Pubertät, von seiner Schwärmerei für die 21-jährige Brigitte Bardot und von ihrem Bild, das er ausschneidet und an seine Zimmerwand klebt.

Die alles und immer wieder bestimmende Liebe: Teenager John, der sich mit knapp 17 Jahren in seine Kindergartenfreundin Barbara Baker verliebt, die glücklicherweise dieselben Initialen trägt wie Brigitte. Mit BB verliert John seine Unschuld und treibt es mangels Gelegenheiten auch auf Friedhofssteinen.

John und Cynthia: In der Kunstakademie hänselt er sie zunächst, weil sie offenbar etwas Feineres ist, schon einen festen Freund hat und für ihn eine gute Partie wäre, aber unerreichbar scheint. Cynthia ist ein Jahr älter als John. Monatelang bleiben die beiden auf Distanz, der Kontrast scheint zu groß zu sein, ist aber nur der Gegenpart zu den Anziehungskräften, die im Verborgenen immer stärker werden und bei Cynthia zu plötzlicher Eifersucht führen, als eine andere Frau mit ihm flirtet. Die bisherige gegenseitige Abstoßung wandelt sich plötzlich in Attraktion und Sympathie, als sie bei einem Sehtest bemerken, wie kurzsichtig beide sind und dass Cynthia ein Jahr davor ihren Vater verloren hat. John kann mit Cynthia seiner Trauer Ausdruck verleihen, und schließlich kriegt er bei einer Party den ersten Kuss von ihr. »Cynthia hätte jeden haben können«, erinnert sich eine Kommilitonin in einem TV-Interview, das auf der DVD »Inside John Lennon« enthalten ist, ein Porträt mit vielen Stellungnahmen weniger prominenter Zeitzeugen, beispielsweise den alten Quarrymen-Mitgliedern.

Bei der Kunststudentin findet John Lennon Halt, Sicherheit, Ermunterung, Zuversicht, mütterliche Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit in einem Maß, das ihn vollkommen überrascht. Cynthia Powell ist das Kontrastprogramm zu Mimi Smith und die Möglichkeit, sich endgültig abzunabeln. Zudem kommt sie aus gutem Haus, ist attraktiv und eine echte Zierde für den Macho-Rebell. Ihr Liebesnest befindet sich in einer Wohnung in der Percy Street Nummer 9, in der Stuart Sutcliffe mit Freunden in einer Wohngemeinschaft haust. John schlägt Cynthia vor, sich wie Brigitte Bardot zu stylen, was Cynthia umgehend in die Tat umsetzt. Und dann geht es los mit Johns Besuchen bei Cynthias Mutter und Cynthias Besuchen bei Mimi. John ist guter Dinge, dass seine Tante begeistert sein wird von seinem Fang. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall: Mimi lehnt Cynthia ab, obwohl sie ganz offensichtlich eine ideale Frau für ihren John wäre. Sie will ihren Goldjungen wohl einfach noch nicht hergeben. Zu allem Übel gibt es auch noch Krach zwischen Mimi und Cynthias Mutter. Aber all das hindert John und Cyn nicht daran, ihre Beziehung fortzuführen. Die eigentlichen Schwierigkeiten bestehen eher darin, dass John schon damals der »Jealous Guy« ist. »Ich forderte absolutes Vertrauen und Zuverlässigkeit von Cynthia, weil ich selbst so unzuverlässig war. Ich war neurotisch und ließ alle meine Frustrationen an ihr aus.«

Eine von Cynthias Fähigkeiten besteht – ähnlich wie bei Yoko Ono – darin, Johns unterschwellige Ängste und seine Selbstzweifel aufzufangen und in positive Erlebnisse umzuwandeln. Das geschieht nicht nur, indem sie ihn umsorgt, ihm Sandwiches bringt, wenn er ununterbrochen komponiert und dabei die Zeit vergisst. Sie renoviert mit ihm Kenwood, das Gebäude im Tudor-Stil mit 16 Zimmern und erlebt dort unzählige Alltagssituationen, in denen Meisterwerke der Popmusik entstehen. Cynthia ist der erste Mensch, der Songs wie »You’re Going To Lose That Girl« zu hören bekommt und Verbesserungsvorschläge macht. Sie singt alleine mit John »Blue Moon«, worauf sich die beiden kugeln vor Lachen. Und von seinen Tourneen schickt er ihr Liebesbriefe, die in ihrer Intensität und Offenheit unvergleichlich sind. Schon 1965 schreibt er Zeilen, in denen er klar seine Versäumnisse Sohn Julian gegenüber einsieht: »Ich sitze stundenlang in Garderoben herum und denke darüber nach, wie viel Zeit ich vergeudet habe, weil ich nicht mit ihm zusammen war und mit ihm gespielt habe – all die Scheißzeit, in der ich nur diese verdammten Zeitungen und solchen Mist gelesen habe, obwohl er im Zimmer war, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das ALLES FALSCH war! Er sieht mich zu selten, ich will, dass er mich kennt und liebt und mich vermisst, so wie ich euch beide vermisse. Ich hör jetzt auf, weil es mich so runterzieht, wenn ich dauernd darüber nachdenke, was ich für ein rücksichtsloser Scheißkerl bin – dabei ist es höchstens drei Uhr nachmittags, nicht die Zeit für solche Gefühle – mir ist richtig nach Heulen zumute – so was Dummes – ich schluchze hier schon rum beim Schreiben – ich weiß nicht, was mit mir los ist – es ist nicht die Tournee, die so anders ist als andere – ich mein, ich lache viel (du weißt schon: Hahaha!), aber mittendrin gibt’s so Abstürze – und Gefühle, die sich dazwischen bewegen, gibt’s offenbar nicht. So, jetzt hör ich auf, sonst wird der Brief noch zu trübsinnig. Ich liebe dich, Cynthia. John.« Es tauchen später zahlreiche Frauen auf, die alle nach demselben Muster behaupten, eine Geliebte des Stars gewesen zu sein: Cynthia habe nichts von Johns Eskapaden bemerkt, und John habe aus Diskretionsgründen die Affären nie öffentlich bestätigt. Vielleicht geben seine Tagebücher dereinst darüber Auskunft. Nach bisherigem Kenntnisstand sind die beiden Ehefrauen auch die wirklich wichtigen Frauen in seinem Erwachsenenleben.

Als Cyn im Mai 1962 ungewollt schwanger wird, ist schon der sensible Beatles-Manager Brian Epstein da, der sich um das Wohl des Paares kümmert – nicht ganz uneigennützig: Er tut viel für seine Schützlinge John und Cyn, aber immer auch mit dem Ziel, dass die weiblichen Fans des inzwischen landesweit populären Beatle nichts von seiner Ehefrau erfahren.

Schwangerschaft, Hochzeit – am 23. August 1962, George und Paul sind die Trauzeugen –, Geburt Julians (am 8. April 1963) und Babyjahre nehmen nicht viel Raum ein in Cynthias Erinnerungen. Da Johns Vaterschaft mit dem ersten Plattenvertrag und dem nun rasch einsetzenden Erfolg zusammenfallen, überlagert die Karriere der Beatles in jeder Hinsicht das Privatleben so stark, dass auch Cynthia als ruhender Pol von der Beatlemania überwältigt wird und nicht recht weiß, wie ihr geschieht. Die sich Monat für Monat schnell verbessernde finanzielle Situation steigert sich bald zur ersten Million und dann zu vielen weiteren und federt Alltagssorgen ab. Cynthia sieht die Notwendigkeit, im Hintergrund zu bleiben, ein, und sie tut dies aufgrund ihrer Schüchternheit ebenso gerne wie die anderen Freundinnen der Beatles. Es ist John selbst, der sie immer wieder zu öffentlichen Anlässen mitnimmt und sich damit gegen die Autorität Brian Epsteins auflehnt. Schon im Dezember 1963 findet das große »Outing« statt. Alle britischen Zeitungen sind voll mit Fotos von John Lennons Ehefrau und Baby. Der Karriere tut es – wie zuvor befürchtet – keinen Abbruch. Im Gegenteil: Aus dem vermeintlichen Problem wird eine Attraktion, und bald entstehen Gruppenfotos der Gefährtinnen der Beatles, die für die weiblichen Fans stilbildend sind.

Hartnäckig halten sich seit jener Zeit die Gerüchte, John Lennon sei bisexuell gewesen. Trotz eindeutiger Aussagen Cynthias, Yokos, der anderen drei Beatles und vieler weiterer Zeitzeugen, John sei nur heterosexuell gewesen, wünschen sich manche Musikhistoriker und Lennon-Biografen heute einen schwulen John. Eine Urlaubsreise im Sommer 1963 mit Brian Epstein ist der Hauptgrund für die Spekulationen. John Lennon kommentiert: »Fast war es ein Liebesverhältnis, aber eben nur fast. Es wurde nie vollzogen, aber es war eine schöne, intensive Beziehung. Zum ersten Mal verbrachte ich meine Zeit mit einem Homosexuellen. Wir ließen Cyn mit dem Baby zu Hause und fuhren nach Spanien, wo wir eine Menge Spaß hatten. Wir saßen in den Cafés, und ich deutete auf die Jungs, die vorübergingen. ›Gefällt dir der? Oder der?‹ Irgendwie genoss ich die Erfahrung, ständig wie ein Schriftsteller zu denken«, erläutert er im »Playboy«-Interview mit David Sheff im September 1980.

Cynthias Memoiren basieren auf nachprüfbaren Ereignissen, auf Fakten: die Geburt Julians, die Begeisterung Johns über seinen Sohn, der gemeinsame Hauskauf, die Reisen, die gemeinsame Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen seit seinem Coming-out als Ehemann und Vater. Trotz der Tourneen, der Aufnahmen, der Proben der Beatles ist sein Zuhause bei Cynthia und Julian. Alle seine angeblichen Geliebten wissen um Cynthia und bleiben in deren Schatten, führen – wenn überhaupt – ihre Affären im Verborgenen und können den Beatle nicht von seiner Ehefrau trennen. Das gelingt erst Yoko Ono. Davor spielt Cynthia vor Mimi und möglichen anderen Frauen die erste Geige. Das Foto der beiden im Flugzeug unterwegs zur ersten USA-Tournee 1964 drückt Glück aus, die Gesichtszüge des Beatles sind darauf so entspannt wie sonst nie auf den Tausenden von Aufnahmen, die es von ihm gibt. Verständlicherweise mag Yoko Ono dieses Bild nicht. Da ihr Einfluss auf das heutige Image des Stars in der Öffentlichkeit unangefochten ist – Cynthia stirbt 2015 auf Mallorca – gehört das Foto zu den Raritäten, findet sich aber in Cynthias Erinnerungsbuch »John« (2005). Dort ist John Lennon auch mit dem 18 Monate alten Julian im Arm abgebildet. Diese beiden Bilder gehören gemeinsam mit einem Foto, das 1964 in Florida gemacht wurde, zu den erstaunlichsten im Leben des Vielfotografierten. John und Cyn stecken die Köpfe zusammen, sie befinden sich im Freien, tragen Bademäntel und lächeln ein ähnliches Lächeln. Augenbrauen, Augen, Nase, Mundpartie, ja, die ganze Gesichtsform der jungen Eltern passen auf verblüffende Weise zusammen. Hätte man mit diesen beiden Gesichtern Foto- und Filmspiele wie später bei John und Yoko gemacht, bei denen die Gesichter ineinander übergehen, wäre der Effekt bei den beiden Liverpoolern noch viel verblüffender gewesen, was die Ähnlichkeit betrifft, als bei John und Yoko.

Erstaunliche Leichtigkeit und Lebensfreude drücken auch die Fotos von 1965 in St. Moritz während des Skiurlaubs von Cynthia und John aus. Ohne Bagism, ohne Bed-in, ohne »unfinished music« oder auch ohne »Nutopia« finden damals normale Erholungsurlaube statt, deren entspannte Atmosphäre auf den Fotos deutlich wird. In der dortigen Ruhe kann sich die Kreativität weiterentwickeln: Sag das Wort, und du wirst frei sein. Sag das Wort und sei wie ich … Es ist das Wort Liebe. Am Anfang habe ich es nicht verstanden. Aber jetzt ist mir klar, das Wort ist gut … Überall höre ich es. Es steht in den schlechten und in den guten Büchern … Gib dem Wort eine Chance, damit es zeigen kann, dass es der richtige Weg ist … Es ist das Wort Liebe. John Lennon schreibt »The Word« 1965. Es markiert die Weiterentwicklung der naiven Liebeslieder hin zu Grundsätzlicherem. Drei Jahre vor dem »Summer of Love«, vor dem Hippie-Höhepunkt in den USA, gibt er die Richtung vor, in der die »Peace and Love«-Bewegung ihren ersten Ausdruck findet. Sag das Wort, an das ich denke. Hast du gehört, das Wort heißt Liebe … Es ist so schön, es ist Sonnenschein, es ist das Wort Liebe … Ich bin hier, um allen das Licht zu zeigen.

Lennon ist einer der ersten Singer-Songwriter, der den Begriff »Liebe« so radikal thematisiert, ihn in den Mittelpunkt eines Liedes stellt und zugleich prophetisch vom Weg spricht, den es einzuschlagen gilt. Der Song lädt zum Fingerschnippen und Tanzen ein und enthält zugleich klare Botschaften. »The Word« ist der Beginn der »Message-Songs«, die Lennon fortan in den Sinn kommen, viele davon noch vor seiner ersten Begegnung mit Yoko Ono. Damit wird der Musiker frühzeitig zur kulturellen Leitfigur, zum Vorbild für Jugendliche, die seither von ihm Antworten erwarten – auf persönliche Zweifel, auf soziale Unsicherheiten, auf private Probleme oder auf spirituelle Sehnsüchte. Lennon – auch das zeichnet ihn aus – macht sich jeweils einige Zeit vor der breiten Masse Gedanken und setzt Trends, indem er vage Stimmungen und Visionen auf Kernaussagen fokussiert.

Im selben Jahr schreibt er Cynthia wieder einen seiner Reue-Briefe: »Ich bin so traurig und es tut mir leid, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie groß Julian schon geworden ist. Er ist jetzt ein kleiner Mann, und er fehlt mir schrecklich. Ich war ein richtiger Scheißkerl. Ich habe keine Notiz von ihm genommen, und beim Zeitunglesen habe ich ihn aus dem Zimmer geschafft, weil er zu laut war.«

Das Rätsel um John Lennons Eigensinnigkeit und Isolation jener Jahre ist auch das Rätsel um seinen Egoismus und vor allem um seine Gewaltausbrüche. Am deutlichsten wird das in Cynthias Erinnerungen: »Stuart und ich kamen ebenfalls gut miteinander aus. Ich hatte einen Heidenrespekt vor seiner Begabung, aber er konnte auch amüsant sein und ein angenehmer Unterhalter. Ich war froh, dass John einen Freund hatte, der die Kunst ernst nahm, sah in Stuart aber nie viel mehr als einen Kumpel, der sich mit John und mir die Zeit vertrieb. Eines Abends waren wir auf einer Party, und ich tanzte mit Stuart, ohne mir etwas dabei zu denken. Aber John drehte schier durch. Wir brachen den Tanz sofort ab, als ich Johns wütenden Gesichtsausdruck sah, und daraufhin versicherte ich ihm einmal mehr, wirklich nur ihn zu lieben. Damit schien er sich auch zufriedenzugeben, doch am nächsten Tag ging er mir in der Kunstakademie bis zu den im Keller gelegenen Mädchenklos nach. Als ich herauskam, empfing er mich mit einem finsteren Gesichtsausdruck. Bevor ich etwas sagen konnte, hob er die Hand und schlug mir mitten ins Gesicht, so dass mein Kopf gegen die Rohre hinten an der Wand schlug. Dann trabte er ohne ein Wort davon und ließ mich zitternd, benommen und mit einer Verletzung am Kopf zurück.«

Imagine all the people living life in peace. Die Angst vor seiner eigenen Aggressivität lässt Lennon zum Friedensbotschafter werden. Unsicherheit, Besitzansprüche, Eifersucht, Verlustängste, Größenwahn: Ein explosives Gemisch manifestiert sich in seiner Macho-Attitüde, die Cynthia zutiefst verunsichert. »Ich war völlig schockiert: Es war das erste Mal, dass John nicht nur verbal gewalttätig wurde. (…) Nach diesem Vorfall wollte ich lange nichts mehr mit John zu tun haben. Ich tat mein Bestes, den Rückstand im Studium aufzuarbeiten, und verabredete mich sogar ein paarmal mit einem Jungen aus meiner Nähe. Aber in der Schule lief er mir natürlich ständig über den Weg. In der Kantine oder im Unterricht sah er häufig zu mir herüber, und wenn sich unsere Blicke trafen, wusste ich, dass wir einander nach wie vor sehr viel bedeuteten. (…) Drei Monate später rief er mich an und bat mich, zu ihm zurückzukehren. (…) Er entschuldigte sich dafür, dass er mich geschlagen hatte, und versprach, es würde nie wieder vorkommen. Ich zögerte einen Moment, aber dann sagte ich doch ja, und John hatte es ehrlich gemeint: Er schämte sich zutiefst für das, was er getan hatte – ich glaube, es schockierte ihn selbst, dass er zu so etwas überhaupt fähig gewesen war. Und er hielt sein Versprechen: Verbal konnte er zwar weiterhin manchmal unfair und verletzend sein, aber körperlich wurde er mir gegenüber nie mehr gewalttätig. Und mit der Zeit ließen auch seine verbalen Demütigungen und Angriffe nach. Offenbar brauchte er diese Zeit, um sich meiner Liebe noch sicherer zu werden und seine oftmals rüden, rüpelhaften Attitüden mehr und mehr aufzugeben.«

Diese Erinnerung zeigt wie keine andere, wie es Cynthia dank ihrer Geduld und Einfühlsamkeit gelingt, John zu zähmen und ihm zu zeigen, dass Emotionen wie Trauer, Wut und Unsicherheit nicht in Gewalt münden müssen. Es setzt ein langer Prozess ein, auch hinsichtlich des Songschreibens, der unter anderem durch Bob Dylans unnachahmliche Artikulationsfähigkeit dazu führt, dass sogar der Tod der Liebsten einen Ausdruck finden kann.

»Only the good die young« – in jungen Jahren verliert John Lennon gerade die Menschen, die er am meisten braucht: Mutter Julia, Freund Stuart, Manager Brian und viele Freunde wie Brian Jones. Unschwer lässt sich hier eine Wurzel seiner Gewaltbereitschaft erkennen. An seinem eigenen Todestag, am 8. Dezember 1980, also kurz bevor die Menschen den einen verlieren, den sie besonders lieben, sagt er zu Dave Sholin: »Ich betrachte mich als glücklich. Aber das brauchte Zeit. Man muss durch Versäumnisse lernen. Und ich habe viele Fehler gemacht. Ich glaube noch immer an Liebe und Frieden. Es dämmerte mir, dass Liebe die Antwort sei, als ich noch jünger war, auf dem Beatles-Album ›Rubber Soul‹. Ich drückte es zuerst in einem Lied mit dem Titel ›The Word‹ aus. Das Wort ist Liebe in den guten wie in den schlechten Büchern, die ich gelesen habe. ›Das Wort ist Liebe‹ schien mir immer das zugrunde liegende Thema. Und es war ein Kampf, zu lieben, geliebt zu werden und das auszudrücken. Liebe ist etwas Phantastisches, auch wenn ich nicht immer eine liebende Person bin. Ich will es sein.«

John Lennon

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