Читать книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer - Страница 11
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ОглавлениеAls die Kirschblüten verwelkten und ein satter, grüner Frühsommer ins Land zog, stürzte sich Jasmin gierig auf jedes kleinste Lebenszeichen von Hubertus. Sie hatten sich seit dem Verlobungsfest nicht mehr gesehen. Auf der Suche nach neuen Märkten für sein blühendes Tageblatt war er oft auf Reisen, ließ jedoch keine Gelegenheit aus, Jasmin hier ein Kärtchen, dort eine kurze Liebesnachricht und immer wieder eine neue Idee für die Hochzeitsfeierlichkeiten zukommen zu lassen. Wenn er Zeit hatte, brachte er lange, ausführliche Darlegungen seiner Empfindungen für sie zu Papier, die sie vor Verlegenheit erröten ließen. Ihr Glück an jedem beliebigen Tag hing davon ab, ob der Postbote einen Brief von Hubertus brachte oder nicht. In jedem wachen Augenblick wanderten ihre Gedanken nach London. Ihr Unbehagen, das vertraute Zuhause in Yorkshire zu verlassen, wich nach und nach der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Hubertus, auf die Hochzeit und das rege Leben in der Großstadt.
»Ich fahre bald zu meiner Schwester«, rief Ellen eines Tages aus Jasmins Schlafzimmer, während sie das Bett aufschüttelte und das Nachthemd zusammenfaltete.
»Was geht mich das an?«, rief Jasmin aus dem angrenzenden Wohnzimmer zurück, ohne von dem Brief hochzublicken, den sie gerade schrieb. Ellen zog die Bettdecke über das Kopfkissen und strich sie glatt. »Nichts, Jasmin. Nancy wird nach dir schauen. Aber es wäre schön, wenn du mehr Zeit mit deinem Vater verbringen würdest.«
»Soll er mir doch selber sagen, wenn er mich mehr sehen will.«
»Das würde er nie machen, das weißt du.«
»Ich war gestern eine ganze Stunde bei ihm.«
»Aber nur, um die Preisliste für das Hochzeitsmenü zu besprechen.«
»Und? Hat ihn interessiert.«
Ellen erschien an der Tür, stellte sich vor Jasmins Schreibtisch und nahm mit sanftem, aber festem Griff die Feder aus Jasmins Hand.
»Jasmin, schau mich einmal an und hör mir zu.«
Bevor die junge Frau sie unterbrechen konnte, redete Ellen weiter. Ihre Stimme zitterte.
»Eine Liebesbeziehung, die zu einer Besessenheit wird, verspricht nichts Gutes. Überdenke das Ganze noch mal, Jasmin. Probleme, die vor der Heirat da sind, verschwinden nicht mit der Heirat. Ihr braucht mehr Zeit, du musst ihn besser kennenlernen. Du bist nicht wirklich glücklich. Können wir nicht darüber reden?«
Jasmin erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften und schoss feurige Blicke auf die Bedienstete.
»Ich verbiete dir, noch einmal über dieses Thema zu reden, Ellen! Noch einmal, und du kannst gehen!«
Ellen zögerte.
»Also gut, wie du meinst«, sagte sie leise und verließ den Raum.
Jasmin hatte Ellen nicht verraten, dass die Erinnerung an ihre Mutter sie wie nie zuvor quälte. Ihre Grübeleien ließen nicht nach, sie wurden vielmehr mit der Zeit dunkler und schwermütiger. Sie stürzte sich fieberhaft in jedes Detail der bevorstehenden Feierlichkeiten, setzte alle Hoffnungen auf Seelenruhe auf ihre bevorstehende Heirat. Mit Hubertus an ihrer Seite würde sie ein für alle Mal die Geister der Vergangenheit verbannen, die sich immerzu in den hintersten Winkeln ihrer Fantasie einnisteten, bereit zum Angriff, sobald sie in einem trägen Augenblick ihren Gedanken freien Lauf ließ.
Sie wusste später nicht mehr genau, wann es passiert war. Irgendwann im Frühsommer. Ganz plötzlich. Es war, als ob ein Fremdwesen im Hinterhalt gelauert hätte, bis ihre Seele träge weggedöst war, um dann ohne Vorwarnung zuzupacken. Von dem Moment an war sie diesem Wesen hilflos ausgeliefert. Die Eindrücke, die sie sich jede Nacht vor dem Einschlafen in Erinnerung rief – von Erdbeeren und Edelwicken, vom Gesang der Amsel und dem Bellen des Hundes, von den zärtlichen Küssen ihres Verlobten –, waren in einem Augenblick fort. Stattdessen wieder die Brücke. Ihre Mutter wippte hin und her. Die Haare flatterten im Wind, der Stoff ihres Nachthemdes wehte um ihren dünnen Körper. Schillernde Farben, obwohl es Nacht war. Jasmin war auf einmal selber mitten im Geschehen, fühlte den Wind, der nun gnadenlos gegen ihr eigenes Gesicht peitschte. Sie rannte durch das Gestrüpp, den Berg hoch, hechelnd, schreiend, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Ihre Lungen waren dem Bersten nahe. Als sie die Brücke erreichte, erstarrte sie vor Schreck. Ihre Mutter stand dort nicht alleine. Eine dunkle Gestalt schlich sich von der anderen Seite an sie heran, hielt hinter ihr. Jasmin wollte losspringen, ihre Mutter festhalten, aber sie stand wie angewurzelt, ihre Beine waren wie gelähmt, wie aus Blei. »Jetzt!«, rief eine männliche Stimme, danach sah Jasmin nichts mehr. Es folgte ein durchdringender Schrei, der den Wind übertönte und durch die Luft schallte, auch noch lange, nachdem etwas auf das Wasser weit unten aufgeschlagen war. Schritte auf der Brücke waren zu hören. Jasmin sank zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht. Es war, als ob sie immer weiter hinuntersinken würde, noch weiter und noch weiter, bis sie sich mit einem Ruck in ihrem Bett aufrichtete, schweißgebadet und zitternd am ganzen Leib. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Ellen, wo bist du?«, schluchzte sie – und erinnerte sich sofort daran, dass Ellen am Tag zuvor abgereist war, um ihre Schwester zu besuchen.
In der Ferne hörte sie, wie Julius bellte und das Eisen der Kette schepperte, an der er in den Sommernächten im Hof neben der Küche festgebunden war. Sie stolperte aus dem Bett, schwankte zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Eine schwache Morgendämmerung beleuchtete die Bäume am Rand des Parks, ein grauer Schleier hing über der Landschaft. Sogar das warme Hellbraun der Mauer, die den Park umfasste und mit den gleichen für die Gegend typischen Sandsteinen gebaut war wie das Haus selbst, war wie in graue Farbe getaucht.
»Ruhig bleiben, ruhig bleiben«, murmelte sie vor sich hin. Sie schob den Fensterflügel, der nachts einen Spalt offen gewesen war, nach hinten, lehnte ihren Kopf über den steinernen Sims und atmete die frische Nachtluft in tiefen Zügen ein. Die Schwere in ihrem Kopf ließ nach, und sie versuchte, klar zu denken. Gut, dass Ellen nicht da war. Ellen sollte nicht erfahren, was sie geträumt hatte. Sie würde sich nur wieder Sorgen machen, sich beklagen, dass ohnehin alles viel zu schnell gegangen sei. Sie hatte schon immer an Jasmins Freundschaften etwas auszusetzen gehabt. Auch an ihren Freundschaften zu anderen Mädchen. Überhaupt missbilligte Ellen alles. Mit welchem Recht eigentlich? Sie war die Bedienstete der Familie, führte sich jedoch seit Mutters Tod wie eine Herrin auf.
Sollte Jasmins hübscher Kopf einmal durch irgendwelche Sorgen beschwert sein, sollte sie in eine Kutsche springen und nach London kommen. Hubertus hatte das zum wiederholten Mal in seinem letzten Brief geschrieben. Er hatte betont, dass er jetzt mehrere Wochen in London sein würde, somit meinte er das Angebot wohl ernst. Ein erster zarter Sonnenstrahl der aufgehenden Sonne drang durch die Bäume und bildete einen hellgrünen Lichtkegel auf der Fläche des sorgfältig gepflegten Rasens unter ihrem Fenster. Bald würde sich der graue Dunst in der tiefgoldenen Glut der Morgensonne auflösen. Jeder Stein, jeder Baum, jede Pflanze würde das Strahlen wiederspiegeln und die Landschaft in eine goldene Idylle verwandeln. Eine Amsel sang ihr Morgenlied. Ein Funke Hoffnung keimte in Jasmins Herz auf. Sie wandte sich vom Fenster ab, zog den Vorhang wieder zu und fing an, sich für den Tag fertig zu machen.
Sie hängte das Tageskleid weg, das Nancy am Abend vorher für sie herausgelegt hatte, holte stattdessen ein elegantes Reisekostüm aus dem Kleiderschrank, zog es über Kopf und Wäsche und knöpfte es mit Mühe hinten zu. Sie würde Hubertus beim Wort nehmen und zu ihm fahren. Je mehr sie mit dem Gedanken spielte, desto mehr platzte ihr Herz beinahe vor Sehnsucht – nach ihrem Liebhaber, aber auch danach, endlich frei zu sein von der Last der Albträume, die sie plagten. Sie schleppte den Schemel, der vor ihrer Kommode stand, zum Schrank und kletterte behutsam darauf, um einen kleinen ledernen Reisekoffer herunterzuholen, der auf dem Schrank verstaut war. Der Tag war noch jung, aber die Bediensteten waren schon bei der Arbeit.
»Die Kutsche steht bereit, Mylady«, rief Gilbert eine Stunde später, als Jasmin durch die Küchentür in den Hof eilte, wo sich das Kutschhaus und die Pferdeställe befanden. »Adam fährt Sie, die Pferde können in Nottingham und Bedford gewechselt werden. Dort können Sie auch übernachten. Ich habe schon Proviant für Sie und Nancy eingepackt.«
»Eine Portion hätte gereicht, Gilbert. Nancy kommt nicht mit.«
»Wie? Allein, Mylady? Bei drei Übernachtungen und bis zu vier Tagen Fahrzeit?«
»Rede nicht so mit mir, Gilbert. Meinst du, ich fahre zum ersten Mal nach London?«
»Aber doch nicht … Verzeihen Sie mir, Mylady, aber ich bestehe darauf, dass Nancy mitfährt. Weiß Ihr Vater nichts von Ihrem Vorhaben?«
Jasmin antwortete nicht, bedeutete Gilbert stattdessen, ihren Koffer zu nehmen.
»Ich kann nicht verantworten, dass Sie in Gefahr kommen, Mylady. Außerdem arbeite ich gerne hier, Mylady, ich will nach so vielen Dienstjahren nicht in die Missgunst Ihres Vaters geraten!«
Jasmins Ton wurde ungeduldig.
»Ach, seit wann wurde irgendjemand von meinem gütigen Vater jemals entlassen, Gilbert? Ich bin erwachsen genug. Vater ist nicht fähig, zornig zu sein, selbst wenn er es wollte. Ich muss dringend für die Hochzeit etwas regeln und möchte niemanden damit belästigen. Meinem Vater habe ich eine Nachricht hinterlassen. Die Kutsche braucht er nicht. Er wird sich keine Sorgen machen, er weiß, dass ich zu Hubertus fahre.«
Gilbert stand kopfschüttelnd mit dem Koffer in der Hand da.
»Aber Mylady, der Anstand? Was denken die Leute, wenn Sie ohne Begleitung in der Nähe von Mr Argyle gesehen werden?«
»Bitte verstaue meinen Koffer oben auf der Kutsche, Gilbert. Ich kann auf deine Belehrungen verzichten, ich habe es eilig.«
In einem sanfteren Ton fügte sie hinzu: »Und bitte verrate meinem Vater zunächst nicht, dass ich bereits gefahren bin.«
Gilbert schluckte und nickte.
»Hätten Sie die Hochzeitsangelegenheit nicht mit der Post klären können?«, fragte er, während er den Koffer auf die Gepäckablage der Kutsche hievte.
Jasmin stampfte mit dem Fuß.
»Mit der Post, Gilbert? Ich kann nicht glauben, dass du das gesagt hast. Warst du noch nie verliebt? Hol meinetwegen Nancy, wenn es sein muss und wenn dich das in Ruhe schlafen lässt. Sie kann oben neben Adam auf dem Fahrersitz mitreisen und wird nicht im Weg sein.«
Die Pferde schnaubten ungeduldig. Ein paar Minuten später rannte ein junges Dienstmädchen kichernd aus dem Haus und stopfte beim Laufen ein paar zusammengeworfene Kleiderstücke in eine Stofftasche.
»Ich darf wirklich mit, Mylady? Ich kann es nicht glauben! In die Großstadt?«
»Nur weil Ellen nicht da ist«, mahnte Jasmin. »Hoch mit dir, auf den Sitz. Und bitte nicht plappern. Ich brauche meine Ruhe.«
Jasmin hielt sich am Geländer der kleinen Treppe fest und stieg auf die erste Stufe. Als Gilbert versuchte, ihr seinen Arm zu bieten, stieß sie ihn von sich.
»Aber Mylady …«
»Was ist jetzt noch, Gilbert?«
»Sie wissen, dass Mr Turnquist heute zu Besuch kommt, um Erbschaftsangelegenheiten mit Ihrem Vater zu besprechen. Meinen Sie nicht, dass Ihr Vater Ihre Beteiligung an der Aussprache begrüßen würde?«
»Was ist bloß mit dir los, Gilbert? Dass Mr Turnquist hier ist, ist für mich ein weiterer Grund, mich so schnell wie möglich von hier zu entfernen. Er ist der unfreundlichste Mensch, den ich in dieser Welt kenne. Herzlos, hölzern und mager wie sein Spazierstock.«
Gilbert hob eine Augenbraue hoch und schaute zu, wie Lady Jasmin die drei Stufen zur Tür der Kutsche hochstieg. Sie setzte sich auf die Bank und strich ihren Rock zurecht. Gerade als Gilbert die Tür von außen zuschlagen wollte, lehnte sie sich zur Seite und drückte mit ihrer Hand dagegen.
»Und noch eine Sache, Gilbert. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, das belehrt werden muss. Wenn mein Vater mich bei den Beratungen dabeihaben wollte, hätte er es mir selber gesagt. Erbschaftsangelegenheiten gehen mich nichts an. Vater erfreut sich einer tiefen Verbundenheit mit Hubertus, mit dem Vermögen ist also alles bestens bestellt. Mach dir keine Sorgen, Adam bleibt bei mir, und jetzt ist auch Nancy dabei. Sie wird meine Kleider morgens auslegen und dafür sorgen, dass mir kein Ungeziefer in meinen Schlafgemächern auflauert und dass mein Ruf nicht verdorben wird. In acht Tagen bin ich wieder da. Bitte sorge dafür, dass Julius ruhig ist.«
Der Hund bellte inzwischen laut.
Jasmin zog die Tür zu, schnürte ihre Haube unter dem Kinn fest, starrte stur geradeaus und würdigte Gilbert keines Blickes mehr, als Adam die Pferde zu einem schnellen Trab antrieb und die Kutsche über das Kopfsteinpflaster des Hofes durch ein hohes Tor führte. Winzige Steine flogen unter den Hufen der Pferde in alle Richtungen. Das Knirschen der Räder auf den Kieselsteinen durchbrach die morgendliche Ruhe. Die Vögel trällerten ihr Aufwachlied in den Ästen der Kastanienbäume am Rande des Parks. Als Antwort nahmen die jungen Frösche, die den Tümpel unter den Bäumen in Scharen bewohnten, ihren quäkenden Morgengesang auf.
Es war ein erhebendes Gefühl, auf Reisen zu sein. Zum ersten Mal hatte Lady Jasmin eigenständig Befehle erteilt, und diese waren sofort befolgt worden. Zumindest fast. Gilbert war viel zu besorgt, aber er meinte es gut. Jetzt hatte er keine Widerrede mehr gewagt, nachdem Nancy mit von der Partie war. Jasmin beschloss, besonders freundlich zu ihm zu sein, sobald sie wieder zurückkehrte. Ein Gefühl von Macht, Waghalsigkeit, Unabhängigkeit überkam sie. Sie, die zukünftige Herrin von Kebworth Place, Lady Jasmin Devreux, musste nur mit einem Finger schnipsen, und alle sprangen. Und jetzt war sie unterwegs in die Großstadt, um ihre große Liebe aufzusuchen – sie war dabei, einer sonnigen Zukunft entgegenzueilen. Frei von den Schatten der Vergangenheit und den dunklen Fragmenten jener anderen Welt, die immer wieder ungebeten in ihr Bewusstsein hineindrängten. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie an ihrem Ring.
»Nur so schnell wie möglich in deiner Nähe sein, lieber Hubertus, und ab Herbst für immer bei dir geborgen bleiben, dann sind die Schatten dauerhaft aus meiner Seele verbannt«, flüsterte sie.
Der Nebel wich, und der frühsommerliche Morgen entfaltete sich in seiner ganzen Herrlichkeit. Die lange, sich windende Einfahrt zum Haus war gesäumt von Blumenbeeten und ungezähmten Sträuchern, Reste einer Gartenidylle, die bessere Zeiten gekannt hatte. Lavendel breitete sich zwischen den steifen Stämmen der Stockrosen und den langen Blättern der orangefarbenen Schwertlilien aus, Zitronenmelisse wucherte an jeder Stelle, die die anderen Pflanzen frei gelassen hatte, zarte Rapsblüten blickten zögerlich aus den Ritzen der Steinmauer, umgeben von Efeugestrüpp und Brombeerranken.
»Neue Gärtner müssen wir anstellen, das muss ich Hubertus sagen«, überlegte Jasmin. »Er wird dafür sorgen, dass dieses Anwesen zu seinem früheren Glanz zurückfindet.«
Bald ließ sie Kebworth Place hinter sich. Das Leben in der ländlichen Idylle Nordenglands schlummerte noch. Ein Bauer schlenderte pfeifend mit einer Sichel und einer Mistgabel über der Schulter am Straßenrand entlang. Er hielt kurz an und hob die Kappe, als die Kutsche an ihm vorbeiratterte. Mohnblumen nickten am Wegrand ihren morgendlichen Gruß, Königskerzen streckten ihre strammen Blüten zur Sonne. Bienen summten. Jasmin lehnte sich zurück. Eine Last war von ihrem Herzen gefallen. Die düsteren Wolken, der Sturm, die Brücke, die flatternden Gewänder ihrer Mutter, die schattige Gestalt, der Sturz … die Erinnerung an die Bilder verblassten mit jeder Meile, die die Kutsche zurücklegte. Die Aussicht, Kebworth hinter sich zu lassen, erfüllte sie nicht mehr mit einem Gefühl von Ungewissheit, wie sie es anfänglich empfunden hatte. Vielleicht wäre London doch die Erlösung, weit weg von jener Brücke, von Mrs Simmons und ihrer näselnden Stimme, von jenem verhängnisvollen Fluss. Julius würde ja mitkommen.
Sie schlief ein.
»Und Sie haben ihr tatsächlich noch nichts gesagt, Mylord?«
»Ich habe immer wieder angesetzt, etwas zu sagen, aber ich konnte mich bisher nicht dazu durchringen, Mr Turnquist. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, voll Hochgefühl und Liebesglück. Ich bringe es nicht übers Herz, ihr diese Freude zu nehmen.«
Die beiden Männer gingen langsam im Schatten der Kastanienbäume am Rande von Kebworth Park. Mr Turnquist war ein großer, hagerer Herr um die vierzig mit strengen, gleichmäßigen Gesichtszügen und dunklen Haaren, die ihm ungeordnet über die Stirn hingen. Er beobachtete sein Umfeld mit scharfen Augen und einer besorgten Miene und lachte selten.
Er hielt an und wandte sich zu seinem Gastgeber.
»Wenn ich das sagen darf, Mylord: Tatsachen, und seien sie noch so unbequem, haben wenig Geduld und sprechen sich schnell herum. Von irgendjemandem wird Lady Jasmin die Wahrheit hören. Sie hängt an Ihnen, Sir, und sie wird am Boden zerstört sein, wenn sie erfährt, dass Sie schon die ganze Zeit krank waren und ihr nichts gesagt haben. Wenn sie die Wahrheit nicht von Ihnen selbst erfährt, wird sie das nicht als Rücksicht verstehen, sondern als Misstrauen. Vergessen Sie nicht, das Kind hat sich noch nicht vom Schock des letzten Verlustes erholt.«
Lord Medway runzelte die Brauen, schwang seinen Spazierstock in die Höhe und klopfte an einen tief hängenden Ast, der über seinem Kopf hing.
»Ja, eben.«
»Lassen Sie mich mit ihr reden, Mylord, wenn Sie es nicht übers Herz bringen. Nur fürchte ich, Ihre Tochter ist nicht gut auf mich zu sprechen, nachdem ich es gewagt habe, Mrs Simmons in Schutz zu nehmen. Sie würdigt mich seit Monaten keines Blickes mehr.«
»Ach, das müssen Sie dem Kind nachsehen. Jasmin braucht einen Sündenbock, um den Tod ihrer Mutter zu verkraften, und ihre unglückliche Wahl ist auf Mrs Simmons gefallen. Sie trauert noch. Die Wunde ist frisch, und ihr flatterhafter Dickkopf führt sie manchmal auf Irrwege. Es wird vorbeigehen.«
»Das tut mir nur leid für Mrs Simmons. Dann sagen Sie mir, wo ich Ihre Tochter finden kann, Sir. Wir müssen in den sauren Apfel beißen und sie über Ihren Gesundheitszustand aufklären.«
»Heute nicht, Mr Turnquist. Sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie verreist ist. Ich werde es machen, keine Sorge. Irgendwann ergibt sich die Gelegenheit. Diese Nachricht muss sie aus meinem Mund hören.«
Er beschleunigte seine Schritte, während er redete, und versuchte dann, seiner Stimme einen heitereren Klang zu verleihen.
»Sie wollten doch die Frösche sehen. Mr Argyle will den Tümpel übrigens ausgraben, vom Schlamm befreien und zu einem kleinen See ausbauen lassen.«
Er führte seinen Gast zu einer Bank unweit des Tümpels, wo die beiden sich setzten.
»Wenn ich hartnäckig bleiben darf, Sir: Der Tümpel interessiert mich weniger als die Lage, in der Sie sich befinden. Die Gelegenheit für ein ungewolltes Gespräch ergibt sich nie von alleine.«
Lord Medway seufzte.
»Ich weiß, ich schiebe ungewollte Gespräche gerne auf die lange Bank, Mr Turnquist. Aber bald ist das Kind in besten Händen, auch mit ihrer Trauer, wenn ich sterbe. Ich kann mir keine bessere Partie für sie vorstellen als Mr Hubertus Argyle. Wenn es einen gibt, der ihren Kindskopf liebevoll mit Vernunft füllen und aus ihr eine besonnene Dame machen kann, dann er. Er ist völlig in sie vernarrt.«
Mr Turnquist stocherte mit seinem Spazierstock im Boden, der noch vom Regen der vergangenen Tage weich war. Er holte tief Luft.
»Verzeihen Sie die Frage, aber sind Sie sich sicher, dass Mr Argyle es nicht auf Ihr Vermögen abgesehen hat, Sir? Es steht eine Menge auf dem Spiel, und die Verlobung kam allzu schnell.«
Lord Medway warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Was fragen Sie da, Mr Turnquist? Begraben Sie bitte diesen Gedanken gleich und für immer! Vorurteile gegen die neureiche Bourgeoisie sind in diesem Fall fehl am Platz. Die Zeiten ändern sich. Mein zukünftiger Schwiegersohn ist ein ehrenhafter Mann. Warum sollte er hinter Geld her sein? Er hat mehr davon als wir! Nennen Sie mir einen einzigen Vorteil, den er von der Verbindung hat!«
Ein Hustenanfall unterbrach Lord Medways Rede. Mr Turnquist blickte ihn besorgt an.
»Ich wollte Sie nicht in Unruhe versetzen, Mylord. Sie wissen, Anwälte sind misstrauisch und drehen gerne jeden Stein um.«
»Aus dieser Verbindung hat die Argyle-Familie nur Nachteile, Mr Turnquist«, fuhr der Lord fort, als sein Husten vorbei war. »Es ist reine Liebe. Eine solche Anhänglichkeit einer Frau gegenüber habe ich selten bei einem jungen Mann gesehen. Vor allem nicht bei einem, der aus dem Geschäftsviertel Londons kommt.«
Mr Turnquist lehnte seinen Stock an die Bank, verschränkte die Arme und starrte brütend auf den Teich. Eine leichte Brise wehte durch die herunterhängenden Äste der Weide, die sich beugten und die Wasseroberfläche streichelten. Die beiden Männer folgten mit ihren Augen dem Flug einer Libelle, die ihre Kreise um das Schilf am Ufer zog; ihre Flügel glitzerten in der Sonne.
»Verzeihen Sie mir, Mylord.« Mr Turnquist unterbrach endlich das Schweigen. »Vorurteile sind seltsame Gesellen. Manchmal muss man sie einfach ablegen.«
»Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wäre Hubertus in der Woche nach Susannes Tod nicht zufällig bei uns zu Gast gewesen«, antwortete Lord Medway. »Seine Nähe hatte so eine beruhigende Wirkung auf Jasmin wie nichts anderes. Ja, es ging schnell. Aber wer hat heutzutage schon Zeit, die Tragfähigkeit jeder Lebensentscheidung zu prüfen? Manchmal muss man einfach vertrauen. Aufrichtigkeit geht vor Adel, und der Mann ist aufrichtig.«
Mr Turnquist nickte.
»Ich stimme Ihnen zu, Mylord, dass der Gesellschaftsstand nicht das Entscheidende ist.«
»Sehen Sie, Mr Turnquist, das Schicksal ereilte uns, bevor wir unsere Tochter in die feine Gesellschaft Londons einführen konnten, um den Heiratsmarkt zu begutachten. Familienausflüge nach Covent Garden zu Theaterbesuchen, Ballabenden, Konzerten mit den neuesten Werken von Brahms und Mendelssohn oder auch Musikunterricht und Teegesellschaften mit Kartenspielen bei uns hier – das war alles ein Luxus, den wir uns durch die Krankheit meiner Frau nicht leisten konnten.«
Der alte Mann machte Anstalten, sich zu erheben. Mr Turnquist sprang auf, griff nach seinem Stock und bot seinem Begleiter den Arm. Langsam schlenderten sie, ohne zu reden, zurück zum Haus. Bevor sie den Eingang erreichten, hielt Lord Medway an und wandte sich zum Anwalt.
»Mein lieber Mr Turnquist, womit habe ich solch einen treuen Freund wie Sie verdient? Auch Sie haben keine Vorteile von Ihrer Freundschaft zu uns.«
»Wenn ich Vorteile suchen würde, wäre es keine Freundschaft, Mylord.«
»Und dennoch sind Sie da, immer wenn wir in Not sind. Sie werden auch weiterhin auf meine Tochter aufpassen, das weiß ich. Wie kann ich Ihnen das jemals zurückerstatten?«
»Das haben Sie, wieder und immer wieder, Mylord. Vergessen Sie nicht, dass auch ich eine Ehefrau und ein Kind verloren habe. Gemeinsame Schicksale schaffen eine tiefe Verbundenheit.«
Lord Medway drückte seinen Arm.
»Ich wünsche dem jungen Paar alles Glück der Welt«, sagte Mr Turnquist, als sie die Haustür erreicht hatten. »Ich will fest darauf vertrauen, dass der Charme des jungen Mannes anhält. ›Bis der Tod uns scheidet‹, das kann unter Umständen eine lange Zeit werden!«
»Sie bleiben doch noch eine Weile und nehmen mit mir zusammen eine Mahlzeit ein, Mr Turnquist?«
»Mit Vergnügen«, sagte der Anwalt.
Das Donnern von Pferdehufen, das Klirren von Metall, das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster, die schwankenden Bewegungen der Kutsche – es war Jasmin zunächst, als ob sie schon immer auf der Fahrt nach London gewesen wäre, als ob Kebworth, die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit und die Sorglosigkeit ihrer frühen Jugend nur ein Traum gewesen wären. Je mehr die friedliche Idylle ländlicher Dörfer den Backsteinhäusern der Londoner Vororte wich, desto launischer wurde Jasmins Stimmung. Es war mittlerweile der dritte Tag ihrer Reise.
Zwei Nächte lang hatte sie in fremden Betten unruhig geschlafen. In den Wirthäusern war es wie im Taubenschlag zugegangen. Selbst in den abgelegenen Räumen, die Adam für Jasmin besorgt hatte, waren die Rufe der anreisenden Kutscher, das Wiehern der Pferde, das Getrampel der Knechte und, später am Abend, das laute Gejohle der Betrunkenen zu hören gewesen. Nancy hatte sich sehr darum bemüht, jedes Bedürfnis ihrer Herrin vorauszusehen, aber ihre dauerhafte Nähe ging Jasmin auf die Nerven. Das anfängliche Gefühl der Freiheit und der Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Liebhaber war längst vorbei. Inzwischen plagten sie Zweifel, ob ihre hitzköpfige Entscheidung richtig gewesen war. Sie hätte Hubertus von ihrem Vorhaben in Kenntnis setzen sollen. Vielleicht würde ihr Besuch ihm ungelegen kommen, vielleicht war er doch nicht in London. Würde er sie überhaupt sehen wollen? Warum hatte sie nicht alles gründlicher durchdacht, auf Gilbert gehört, gewartet, bis Ellen nach Kebworth zurückkehrte, und sie gebeten mitzufahren?
Adam war angespannt und mürrisch geworden. Immer wieder fragte er, ob ihr Vater wirklich zugestimmt hätte, dass sie nach London reist. Sie log ihn an, wohl nicht sehr überzeugend. Eine Lüge im eigentlichen Sinn war es nicht, redete sie sich ein, nur nicht die ganze Wahrheit. Dass ihr Vater über ihre Pläne, nach London zu reisen, benachrichtigt wurde, dieser Teil stimmte. Sie hatte jedoch verschwiegen, dass ihr Vater keine Zeit gehabt hatte, darauf zu reagieren, und dass sie ihm außerdem den eigentlichen Grund nicht genannt hatte, warum sie fahren wollte. So musste er annehmen, dass es wegen Hochzeitsangelegenheiten war, und darüber war er zwar sicher nicht glücklich, aber wie immer nachsichtig und vertrauensvoll. Nun plagte sie ein schlechtes Gewissen. Was, wenn Adam ihretwillen bei seiner Heimkehr auf unbequeme Fragen antworten müsste?
Sie würde Hubertus fragen, was sie tun solle. Er könnte ihrem Vater einen Brief schreiben, ihm versichern, dass alles rechtens sei, Nancy sei als Begleiterin bei der Reise dabei. Hubertus hatte schließlich nicht nur Jasmins Herz, sondern auch das Herz von Lord Devreux wie im Sturm erobert. So würde alles gut gehen. Sie schloss die Augen, ließ ihren erschöpften Gedanken freien Lauf und schlief ein.
Mit einem Ruck wachte sie auf. Sie tastete fieberhaft im Dunkeln nach einem Taschentuch, um den Schweiß von ihrem glühenden Gesicht zu wischen. Ihre Finger streiften eine Wasserflasche, die neben ihr auf dem Sitz stand. Mit zitternden Fingern nahm sie den Korken ab und kippte das kühle Nass in ihren trockenen Hals. Sie hatte wieder geträumt, neue Einzelheiten gesehen. Dieses Mal stand ihre Mutter nur einen Steinwurf von ihr entfernt. Der Wind peitschte um sie, griff nach dem weißen Stoff ihres Nachthemdes und füllte ihn wie das Segel eines Schiffes. Sie wippte hin und her und blickte mit glasigen Augen hinunter in den Abgrund. Jasmin kauerte auf einem Felsen am Hang unter der Brücke und konnte direkt in die Augen ihrer Mutter schauen. So nah war sie bisher noch nie bei ihrer Mutter gewesen.
»Mama, nein!«, schrie sie. Aber es kam kein Laut aus ihrem Mund. Sie kroch auf allen vieren auf die Brücke, versuchte, nach den Beinen ihrer Mutter zu greifen, aber ihre Arme griffen ins Leere. War es nur ein Gespenst? Auf einmal spürte sie, wie eine Hand ihren Arm festhielt. Wie eine Kralle. Das war ganz und gar kein Gespenst. Jemand hechelte neben ihrem Kopf, sie fühlte feuchte Atemstöße auf ihrem Gesicht, die nach Alkohol und Schweiß rochen. Sie wollte nach Hilfe schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Zwei feste Hände drückten ihr den Hals zu wie mit einer Klammer. Sie rang nach Luft, kämpfte, würgte, zwei Arme stießen sie zu Boden. Jemand hielt eine Laterne hoch. Mit Mühe drehte sie ihren Kopf zur Seite und sah im flüchtigen Licht das feuchte Gras und die große, behaarte Hand, die ihren Arm festhielt. Ein Finger fehlte. Der Zeigefinger. Nur ein Stumpf. Der einzige Teil seiner Hand, der nicht dicht behaart war. Die Haut war glatt, sie leuchtete rötlich. Komisch, welche nichtigen Einzelheiten einem sogar im Traum auffallen. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Wo hatte sie diese Hand schon einmal gesehen?
Sie wusste eine Weile nicht, ob sie noch träumte oder schon wach war, bis ihr auffiel, dass die Räder nicht mehr donnerten und die Kutsche nicht mehr hin und her geschüttelt wurde.
»Lady Jasmin, Lady Jasmin! Was war mit Ihnen?«
Sie spürte ein sanftes Rütteln an ihren Schultern, kaltes Wasser in ihrem Gesicht, eine scharfe, bittere Flüssigkeit in ihrem Hals. Zunächst wie im Nebel, dann aber immer klarer, erkannte sie Adams und Nancys Gesichtszüge, die besorgt über ihr schwebten. Sie lag auf dem Sitz in der Kutsche, Adam hielt ihr eine Schnapsflasche an den Mund.
»Wir suchen einen Arzt, Mylady, und danach fahren wir im Galopp wieder nach Hause. Sie sind krank. Sie haben so geschrien, dass sogar die Pferde vor Angst losgaloppiert sind.«
Seine Stimme zitterte, er war sichtlich erschrocken. Nancy heulte. Jasmin schüttelte den Kopf.
»Mit allem Respekt, Mylady«, fuhr Adam fort. »Ich habe diese Reise schon die ganze Zeit für eine dumme Schnapsidee gehalten. Ich bringe Sie gleich wieder nach Hause. Den Rat, den Sie von Mr Argyle holen wollten, können Sie in einem Brief erfragen.«
Jasmin richtete sich kerzengerade auf und blickte ihm direkt in die Augen.
»Seit wann erteilst du mir Befehle, Adam? Hast du etwas missverstanden und deine Stellung vergessen?«
»Verzeihen Sie, Mylady, ich bin nur sehr besorgt.«
»Nein, Adam. Wir fahren nicht zurück. Wir sind beinahe am Ziel. Ich bin nicht krank. Ich habe nur schlecht geträumt, das ist alles. Mein Schreien klingt schlimmer, als es wirklich ist. Ich bin kerngesund. Wie spät ist es denn? Wie weit haben wir noch zu fahren?«
»Es ist um die Mittagszeit. Wir brauchen noch eine halbe Stunde bis zur Stadtmitte. Sie wollten doch im ›Prince and Carriage‹, nicht im Haus der Medways übernachten. Mr Argyle wird sich vermutlich in der Fleet Street bei der Arbeit aufhalten, Mylady.«
Jasmin hob ihre Wasserflasche, die sie immer noch fest in der Hand hielt, an den Mund und trank daraus. Ihre Hände zitterten.
»Ich beziehe mein Zimmer, und nach einem guten Nachtschlaf bin ich wieder frisch. Du kümmerst dich um alles Weitere. Morgen gehe ich zu Fuß zur Fleet Street, da brauche ich keine Kutsche, Du kannst dich ausruhen. Ich … ich werde immer ruhig, wenn ich bei Hubertus bin.«
Adam nickte grimmig, stieg aus der Kutsche, sprang auf seinen Sitz, wartete, bis Nancy auf den Nebensitz gestiegen war, und trieb die Pferde in einen schnellen Trab. Ihre Hufe hallten auf dem Kopfsteinpflaster.
Bald rissen neue Geräusche Jasmin aus ihren dunklen Grübeleien. Passanten huschten in immer dichteren Mengen auf den Gehsteigen vorbei. Die Luft war erfüllt von den Rufen der Hansomfahrer, dem Klappern der zahlreichen Räder, dem Schimpfen der Bauern auf ihren Fuhrwerken und den Schreien der Bettler nach Almosen. Eine große Traube ungeduldiger Passanten drängte sich zur Straße, als ein Pferdeomnibus anhielt. Taschendiebe witterten Beute und flitzten hin und her auf der Suche nach unbewachten Portemonnaies, krochen zwischen den Beinen der stampfenden Pferde hindurch, versteckten sich hinter den Rädern. Das leuchtende Rot von Soldatenuniformen stach hier und dort aus der Menge heraus. Alles in allem war hier eine sich ständig bewegende Masse von Menschenschicksalen mitten in einem riesigen Durcheinander von Lärm und Geräusch.
Sie waren in London angekommen.
»Sie können gehen, Limbrose. Rufen Sie Mr Trentham zu mir hoch, ich muss vor Feierabend mit ihm reden.«
»Yes, Sir.« Mr Limbrose neigte seinen Kopf und verließ den Raum. Die Aufgabe, Mr Trentham vorzuladen, erwies sich als überflüssig, da dieser schon die Treppe hocheilte und einen frontalen Zusammenstoß mit Mr Limbrose knapp vermeiden konnte.
»Boah, Trentham, so eilig? Wir kommen in die Jahre, mein Freund. Auch Sie sind kein junger Springhase mehr.«
»Ich habe es eilig, Limbrose. Keine Zeit für Geplauder.«
Mr Trentham hatte sich bereits an Mr Limbrose vorbeigeschoben und sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal.
»Geben Sie bloß acht, Trentham, unserem Meister ist eine Laus über die Leber gelaufen«, rief ihm Limbrose hinterher. Er schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinunter zum Haupteingang des Zeitungshauses Argyle & Johnson.
Als er das Haus verließ und die Treppe zur Straße hinunterging, stieß er beinahe mit einer jungen Frau zusammen, die auf dem Gehweg stand und stirnrunzelnd zu den oberen Stockwerken des Hauses hochblickte.
»Entschuldigen Sie, kennen wir uns irgendwoher?«, fragte er.
»Ich wüsste nicht, woher«, antwortete sie, ohne ihn anzuschauen. Sie huschte an ihm vorbei auf die Steintreppe zu, die er gerade heruntergekommen war.
Sosehr Jasmin gehofft hatte, dass die Flucht aus Kebworth sie vom Grauen ihrer Albträume erlösen würde, sosehr musste sie erschrocken erkennen, dass das Gegenteil der Fall war. Sie waren in das Gasthaus »Prince and Carriage« eingekehrt. Wie anders war ihre Stimmung jetzt.
Weit entfernt war die ausgelassene Freude, die bei ihrem letzten fröhlichen Aufenthalt in London geherrscht hatte! In der Nacht nach ihrer Ankunft hatte sie wieder geträumt, sich schweißgebadet im Bett aufgerichtet, den Schrei unterdrückt, der in ihrer Kehle aufgestiegen war. Dieses Mal hatte sie wieder den Aufschlag aufs Wasser gehört, nachdem ihre Mutter von der Brücke gesprungen war. Das hämische Lachen eines Mannes ertönte anschließend von irgendwoher. Sie sprang ihrer Mutter nach und stellte sich auf ihr Ende ein, hoffte, dass es schnell ginge. Ihr Gesicht schlug auf die Wasseroberfläche auf. Dann wachte sie auf. Wie viel schlimmer konnten die Träume noch werden? Würde es eines Tages kein Aufwachen mehr geben? War das die eigentliche Wirklichkeit ihres Lebens und das andere nur ein Traum?
Jetzt ruhten all ihre Hoffnungen auf Hubertus. Sie war bis zur Erschöpfung ermüdet. Ihr Kopf kannte nur noch einen Gedanken: ihn so schnell wie möglich irgendwo zu entdecken. Sich in seine Arme zu werfen und dort Schutz vor den dunkeln Pfeilen zu finden, die von allen Seiten in ihre Seele eindrangen. Sie versuchte, in Adams Anwesenheit ihren Kummer zu überspielen und sich betont fröhlich zu geben. Am späten Nachmittag würden sich bestimmt die Sekretäre, Berichterstatter und Schriftführer von Argyle & Johnson auf den Weg nach Hause machen und Hubertus wäre hoffentlich allein in seinem Dienstraum. Aber was, wenn er gar nicht da wäre? Und falls er doch da wäre, wie würde sie beginnen zu erzählen?
Nun stand sie vor der Steintreppe. Sie zögerte. Ein Stimmengewirr war durch das offene Fenster von einem der oberen Stockwerke zu hören. Es fing an zu nieseln. Sie wandte ihr Gesicht von dem lästigen Herrn ab, der sie begrüßt hatte und sie zu kennen meinte, hob ihren Rock hoch und stieg die Treppe hinauf. Die Tür ging mühelos auf. Sie betrat das große Haus. Obwohl sie auf Zehenspitzen lief, hallten ihre Tritte auf den Marmorfliesen in der Eingangshalle wider. Vor ihr führte eine Holztreppe in die oberen Stockwerke. Alles duftete nach Poliermittel und nagelneuem Holz. Sie konnte sich nicht erinnern, dass dieser Teil des Hauses mit Marmor gefliest gewesen war. Auch nicht, dass die Treppe aus edlem Mahagoni war. Sie war nur einmal hier gewesen. Kurz vor dem Verlobungsfest hatte Hubertus ihr und ihrem Vater das Haus voller Stolz gezeigt. Die Fliesen waren wohl seitdem frisch gelegt und das Holz erneuert worden. Oder sie war damals in ihrer Verliebtheit so betört gewesen, dass ihr solche Einzelheiten nicht aufgefallen waren. Das Treppengeländer war mit feinen Schnitzereien verziert, Motive von winzig kleinen Federn, Tintenfässern, verschnörkelten Buchstaben. Auf den Stufen waren weder Kratzer zu sehen, noch war die Farbe verblichen. Also doch neu. Ganz sicher waren hier noch keine Armeen von Sekretären, Postboten und Paketlieferanten Hunderte von Malen hoch- und runtergegangen.
Es war hier unten im Haus ruhig. Hinter einer verschlossenen Tür las irgendwo jemand einen Text laut vor sich hin. Eine Tür zu ihrer Rechten trug ein Schild mit der Aufschrift »Herausgeber«. Sie erinnerte sich schwach daran, dass der geräumige Arbeitsraum von Mr Argyle sich im Erdgeschoss befand. Zögerlich klopfte sie an die Tür. Keine Antwort. Auch nicht, nachdem sie ein zweites Mal lauter geklopft hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich also bestätigt. Er war nicht im Haus. Sie ließ ihre Hände fallen und kämpfte mit den Tränen. Die Stimmen im oberen Stock, die sie von draußen gehört hatte, wurden plötzlich lauter. Aus dieser Entfernung konnte sie sie nicht voneinander unterscheiden, klar war nur, dass es Männerstimmen waren. Wie von einer magischen Kraft geschoben, stellte sie einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, die nach oben führte. Sie erschrak, als das Holz quietschte, und sprang auf die nächste Stufe, dann auf die nächste und wieder auf die nächste.
»Das Gebäude ist geschlossen, Ma’am. Keine Kunden mehr nach fünf Uhr. Oder suchen Sie den Kommissar?«
Jasmin zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Ein kleiner Mann mit einer Brille auf der Nase streckte seinen Kopf durch eine Türöffnung, die sie beim Betreten der Vorhalle nicht gesehen hatte. Offensichtlich das Gesicht hinter der Stimme, die einen Text in irgendeinem Raum neben der Halle vorgelesen hatte.
»Ich … ich bin keine Kundin. Privatbesuch. Ich suche Mr Argyle.« Ihre Stimme zitterte.
»Zeugenaussage, Ma’am?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Dann dürfen Sie hoch. Nur Zeugenaussagen. Der Herr Polizeihauptmann ist schon abgezogen, Leiche mitgenommen, es gibt keinen Tatort mehr.«
Der kleine Mann lachte höhnisch, es klang fast schadenfroh. Jasmins Blut gefror in den Adern. Ihr kam auf einmal ein schrecklicher Gedanke. Zeugenaussagen? Ein Polizeihauptmann? Träumte sie noch? War diese Szene die Fortsetzung ihres Albtraums? Würde sie aus einem neuen Traum schreiend und zitternd erwachen? Es fühlte sich so unwirklich an. Die Stille, der Marmor, das Mahagoni, das geschnitzte Geländer, die Atmosphäre. Das alles gehörte doch zu der Welt, aus der sie geflüchtet war, nicht zu der fröhlichen Welt der Liebe und des Lachens, die sie suchte. Ein Wassereimer fiel ihr auf, der wie ein Fremdkörper auf der Treppe stand. Ein leichter Geruch von Branntkalk stieg von ihm auf und mischte sich mit dem Duft des polierten Holzes. Er kam ihr bekannt vor. Plötzlich wusste sie, warum. Es war der gleiche Geruch, der im Schlafgemach ihrer Mutter hing, als diese aufgebahrt auf ihrem Bett lag. Ellen schüttete immer Mengen von Branntkalk und Holzasche ins Putzwasser, wenn ein Boden besonders gründlich geschrubbt werden musste.
An jenem Tag damals hatte es auch Zeugenaussagen gegeben, auch einen Kommissar und einen Polizeihauptmann. Es stimmte also. Ihre Flucht hatte sie nur tiefer in die Welt ihrer Albträume hineingezogen. Vielleicht gab es jetzt kein Entkommen mehr. Vielleicht steckte sie in dem Traum fest, und alles in ihrem Leben war nun Teil der schrecklichen Kette von Ereignissen vor über einem Jahr, die ihre Seele vollends zu erobern drohten.
»Folgen Sie nur den Stimmen, Ma’am!«
Es gab nur einen Weg: die Flucht nach vorne. Oder vielmehr: nach oben.
»Guten Tag, Sandford! Nehmen Sie Platz.«
»So eine ernste Miene heute, Beechwood?«
Mr Beechwood stieß mit seinem Zeigefinger auf die Zeitung, die auf seinem Lieblingstisch im »Kingston Arms« ausgebreitet vor ihm lag.
»Na, lesen Sie wieder die Hofnachrichten? Wer hat sich jetzt verlobt?«
»Schön wäre es, Sandford! Heute lese ich über die neuesten Verbrechen. Haben Sie es noch nicht gehört?«
Mr Sandford ließ sich im Sessel gegenüber von seinem Freund nieder. Mr Beechwood lehnte sich über den Tisch und schaute ihn mit einem ernsten Blick an.
»Dieses Mal direkt vor der Haustür.«
»Was, vor der Haustür? Vor welcher Haustür?«
»Fellham. Mitten in der Nacht. Fleet Street. Einen Katzensprung von Argyle & Johnson entfernt.«
Mr Sandford biss sich auf die Lippen, zog die Zeitung auf seine Seite des Tisches und schob seine Brille auf dem Nasenrücken hoch.
Es war eine Weile still, als er die Zeilen zunächst flüchtig überflog, danach seine Brille abnahm, sein Vergrößerungsglas aus der Tasche holte und den Text erneut anstarrte. Mr Beechwood kaute eine Weile an seiner Zigarre. Irgendwann zog er daran und blies anschließend den Rauch in kleinen Kringeln in die Luft.
»Trentham hat mit seinem Bericht aber ganze Arbeit geleistet«, sagte Mr Sandford schließlich, bevor er die Zeitung wieder auf den Tisch legte und seine Brille wieder aufsetzte.
»Na ja, für reißerische Schlagzeilen nicht schlecht«, antwortete Mr Beechwood. »Aber über diese Art von führender Schlagzeile wird sich Argyle & Johnson bestimmt nicht freuen.«
»Wer war das Opfer?«
»Ach, irgendeine arme Kirchenmaus, die halb besoffen auf der Straße herumstreunte. Niemand von Bedeutung.«
»Und dieser niederträchtige Schurke ist wieder davongekommen?«
»Klar. Er kommt immer davon. Was erwarten Sie denn sonst, Sandford? Er hat den Teufel in Person als Leibwächter.«
»Für immer kann es nicht so weitergehen. Fast hat man ihn bei der letzten Tat erwischt. Der Kommissar ist ihm dicht auf der Spur, heißt es in dem Bericht.«
»Das war er anscheinend schon das letzte Mal, Sandford. Für diese arme Kreatur hat es leider nicht gereicht. Ihr Bier – Sie haben es vor lauter Aufregung vergessen.«
Mr Sandford nahm einen Schluck, wischte den Bierschaum von seinem Schnurrbart und schüttelte den Kopf. Er hob die Zeitung noch einmal auf und starrte die Schlagzeile an.
»Das Grauen rückt immer näher. Fellham wird fahrlässiger«, las er vor. »Aber es hat sein Gutes. Beim nächsten Mal wird er mit Blut an den Händen bei frischer Tat ertappt und verhaftet werden. Indizien zum Verbleib und zu den Unternehmungen des Mörders mehren sich. Nicht wenige Bewohner Londons werden mit Erleichterung aufatmen, wenn das Seil um den Hals dieses Verbrechers sich endlich festschnürt.«
»Na, dann hoffen wir, lieber Sandford, dass diese Misere bald zu Ende ist! Trübsal blasen bringt nichts! Noch ein Bier?«
»Ich frage mich nur, wie viele Opfer es noch geben wird.«
»Sicher nicht viele. Mr Argyle war wohl nicht gerade erfreut, dass er bei seiner Ankunft heute Morgen von einer Blutlache auf dem Gehweg und einem Polizeihauptmann vor seiner Tür begrüßt wurde. Verbrechen wird erst dann zum Verbrechen, wenn es in die Nähe der wichtigen Leute kommt. Ich sehe jetzt einen Hoffnungsschimmer. Sobald es die Regierenden trifft, wird gehandelt. Die Fleet Street ist eine gute Zwischenstufe.«
»Wie können Sie nur so eiskalt sein, Beechwood? Ein Mann ist tot. Irgendwo trauert eine Witwe und fragt sich, wovon sie ihre Kinder ernähren soll.«
Mr Beechwood hob eine Augenbraue und spitzte seinen Mund.
»So betroffen wie heute kenne ich Sie gar nicht.«.
Mr Sandford lehnte sich über den Tisch und nahm eine Zigarre aus der Schachtel, die sein Freund ihm gereicht hatte.
»Ich habe eine Frau und zwei junge Kinder zu Hause, Beechwood. Und nicht weit von hier. Fellham zieht seine Kreise immer enger. Da wird es jedem anständigen Familienvater flau im Magen, finden Sie nicht auch?«
»Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, ob er es war.«
Als Antwort stieß Mr Sandford wieder auf die aufgeschlagene Seite des Tageblattes Argyle & Johnson.
»Fellham hat wieder seine Unterschrift hinterlassen. Das Opfer lag auf dem Rücken, sein Brustkorb war kaum mehr als Brustkorb zu erkennen …«
»Lassen Sie lieber, Sandford«, unterbrach ihn Mr Beechwood mit einer abwehrenden Handbewegung. »Ich will keine weiteren Einzelheiten hören, jetzt wird es auch mir kalt im Rücken. Genießen wir lieber unsere Zigarre.«
Die beiden Herren bliesen den Rauch langsam in die stickige Luft des Wirthauses hinein.
Die Treppe schien endlos. Diesen Teil des Gebäudes kannte Jasmin nicht. Als Hubertus sie und ihren Vater zum ersten Mal in dem edlen Haus in der Mitte Londons herumgeführt hatte, waren sie nur im Erdgeschoss gewesen. Dass das Haus so viele Stockwerke hatte, war ihr damals gar nicht aufgefallen. Die Stimmen wurden lauter. Schließlich führte die Treppe nicht mehr weiter. Außer Atem stand Jasmin vor einer einfachen Holztür, hinter der zwei Männerstimmen nun deutlich zu hören waren. Die erste war ruhig und gefasst.
»Sie drohen also, mich zu entlassen, Sir?«
»Ich drohe mit gar nichts, Trentham!«
Jasmin hielt den Atem an. Das war die Stimme von Hubertus. Erregt, wütend, wie ein Zischen durch zusammengebissene Zähne. Einen Augenblick lang zweifelte sie, ob er es wirklich war. Sie kannte ihn bisher nur säuselnd, zärtlich, charmant.
»Mr Argyle, das war eine Drohung. Hoffentlich die letzte.«
Das war wieder die ruhige Stimme.
»Und wenn?«, war nun wieder eindeutig Hubertus zu hören. »Ich musste eine Blutlache umgehen, um heute Morgen die Tür dieses Gebäudes zu erreichen, Trentham! Und mich den neugierigen Fragen der Kommissare stellen. Wundert es Sie, dass ich erzürnt bin?«
»Es wundert mich, Sir. Sie wissen nichts, Sie ahnen nichts. Dass es sich vor unserem Haus ereignete, ist reiner Zufall, das geht Sie nichts an. Es ist erst dann ein Problem, wenn Sie eins draus machen.«
»In Ordnung, Trentham. Wie wäre es mit folgender Abmachung, damit sich dieser Fehltritt nicht wiederholt?«
Um welche Abmachung es sich handelte, verstand Jasmin nicht mehr. Hubertus’ Stimme war leiser geworden. Offensichtlich hatte er sich von seinem Gesprächspartner abgewandt und redete nicht mehr zur Tür hin. Sie bückte sich und drückte ihr Ohr ans Schlüsselloch. Nicht weil es sie auch nur im Geringsten interessiert hätte zu erfahren, über was die beiden Männer sich unterhielten, sondern weil sie mit sich rang, ob sie in den Raum einfach so hineinplatzen und Hubertus von ihrer Not erzählen konnte.
»Sie wollen mich also erpressen, Trentham! Aber denken Sie bloß nicht, dass die Verwandtschaft Ihrer Mutter zu Herrn Johnson Ihnen Sonderrechte gewährt, auch wenn dieser ein Gründungsmitglied von Argyle & Johnson war!«
Hubertus wieder, in voller Lautstärke. Er hatte sich offensichtlich wieder umgedreht.
»Ich Sie erpressen? Niemals. Ich führe nur meinen Auftrag aus, Sir. Ich plane meine Zukunft und schütze Ihr Vermächtnis.«
Mr Trentham war allem Anschein nach nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Nur, ich mache es nicht ohne eine angemessene Vergütung«, fuhr er fort. »Das wird für Sie keine Neuigkeit sein. Ich setze meine Sicherheit, meinen Ruf, meine Zukunft, sogar mein Gewissen aufs Spiel, und was bekomme ich dafür? Ein paar nutzlose Münzen. Während Sie Geld in schwindelerregender Höhe, um genau zu sein, Millionen scheffeln.«
Es war kurz still.
»Gut, Mr Trentham. Sie bekommen alles, was Sie wollen. Aber machen Sie bitte eine saubere Arbeit. Ein bisschen Gehirn schadet auch Ihnen nicht. Heute war es knapp. Das Letzte, was ich will, ist, dass meine Angestellten Angst bekommen. Verschwinden Sie jetzt bitte, und zwar schnell, bevor ich mich anders entscheide.«
Offensichtlich hatte Hubertus sich beruhigt. Jasmin richtete sich wieder auf und legte ihre Hand zaghaft an die Tür, um zu klopfen. Während sie noch zögerte, wurde die Tür von innen aufgemacht. Sie sah vor sich einen kleinen, untersetzten Mann, der zunächst im Türrahmen stehen blieb. Er sah Jasmin nicht gleich, weil sein Kopf in die andere Richtung gewandt war.
»Und vergessen Sie nie, Argyle: Ich bin nicht Ihr Kammerdiener. Noch sind Sie kein Lord.«
Er drehte sich um, stieß nun beinahe mit Jasmin zusammen und schrak zurück.
»Um Gottes willen, was in aller Welt …?«
Jasmin schob ihn beiseite und stolperte in den Raum hinein, während er mit einem Blick nach hinten die Treppe hinuntereilte. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch eine staubige Fensterscheibe in der Dachschräge schien ein mattes Licht auf Regale, die bis zur Decke mit Stapeln alter Zeitungen gefüllt waren. Eine Reihe von Tintenfässern stand auf einem Tisch unter dem Fenster. Es roch nach altem Papier. Ein abgetragener Teppich bedeckte den Boden und war im faden Licht gerade noch sichtbar. Er hatte ein orientalisches Muster in Farben, die offensichtlich bessere Zeiten gekannt hatten, jetzt aber verblichen und kaum voneinander zu unterscheiden waren. Alle Farben in dem Raum, die es einmal gegeben hatte, waren von einer staubigen, muffigen Luft verschluckt worden. Es war kein Grau im eigentlichen Sinne, es war eher die Abwesenheit von Farbe. Jasmins Blick schweifte durch den Raum, bis sie Hubertus’ lange Gestalt mit dem Rücken zu ihr vor einem der Regale erblickte.
»Was wollen Sie jetzt schon wieder, Trentham?«
Sein Ton war aufgebracht, nervös.
»Sie haben doch alles, was Sie wollten. Können Sie sich nicht damit begnügen?«
Als keine Antwort von Trentham kam, wirbelte er herum. Er wurde bleich, als er Jasmin in der Tür stehen sah. Er starrte sie an, als ob ein Gespenst aus dem Nichts erschienen wäre.
»Was um Gottes willen hast du hier zu suchen?«
Jasmin rang nach Worten.
»Ich … ich wollte dich sehen. Ich hatte so viel Angst, ich träumte wieder … ich sehnte mich … du hattest gesagt, dass ich …«
Weiter kam sie nicht. In ihrer Seele stießen zwei Welten gewaltsam aufeinander. Es wurde ihr schwindelig, ihre Knie wurden weich, sie hielt sich am Türrahmen fest. Wie oft war sie in den vergangenen Tagen in ihrer Fantasie auf ihn zugerannt, hatte sich in seine Arme geworfen, seinen festen Griff um ihren Körper gefühlt, seine Küsse in ihren Haaren, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht.
Plötzlich war alles klar. Natürlich freute er sich nicht, sie zu sehen. Er war ein viel beschäftigter, bedeutender Mann, offensichtlich mitten in weitreichenden Beratungen. Das hätte sie wissen können. Dieses ganze Unterfangen war nichts als ein Hirngespinst gewesen. Jetzt stand auf einmal ein Fremder vor ihr, fern, kalt, abweisend. Die Stille, die herrschte, war bedrückend. Sie hätte alles darum gegeben, im Boden versinken zu können. Das lange Schweigen fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Sie musste irgendetwas sagen, irgendetwas tun. Alles war erträglich, nur nicht diese lähmende Stille.
»Ich habe es gewusst, ich habe es gewusst, dass es so kommen würde!«, schrie sie, drehte sich um, raffte ihren Rock mit einer Hand hoch, stützte sich mit der anderen am Holzgeländer und flog die Treppe hinunter, zwei, drei Stufen mit jedem Sprung, rannte über die Marmorfliesen und hinaus auf die Straße. Sie musste an die frische Luft, ihre taumelnden Gedanken in den Griff bekommen, versuchen, nicht wahnsinnig zu werden, sich bemühen, den Gestank von Papier, Tinte und alten Zeitungen aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
Das Rumpeln von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster drang in das dunkle Chaos ihres Bewusstseins. Eine Mutter zog ihr schreiendes Kind an der Hand und schimpfte lautstark. Der Säugling, den sie unter ihren Arm geklemmt hielt, fing an, laut zu kreischen. Ein Spatz wusch sich in einer Pfütze in der Nähe der Treppe. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte das Wasser in der Pfütze einen rötlichen Schimmer? Die Schreie von Markthändlern, die ihre Waren in Leiterwagen einpackten und hofften, in letzter Minute doch noch Kundschaft zu gewinnen, waren in der Ferne zu hören.
Jasmin saugte die banalen Kleinigkeiten eines normalen Spätnachmittags in London in ihrer erschütterten Seele gierig auf. Alles war besser als die unheimliche Stille in dem Gebäude, das sie gerade verlassen hatte.
»Adam! Du bist es!«, rief sie erleichtert, als die Kutsche, die gerade an ihr vorbeifuhr, plötzlich anhielt und eine vertraute Gestalt vom Fahrersitz heruntersprang.
»Sie sind schon viel zu lange weg, Mylady, ich dachte, Sie sind froh, wenn Sie die Strecke zurück zum ›Prince and Carriage‹ nicht zu Fuß zurücklegen müssen.«
»Ich hätte die kurze Strecke ohne Probleme bewältigt«, antwortete Jasmin schnell. Sie war ganz außer Atem. »Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen, lieber Adam. Wir holen meine Sachen und fahren so schnell wie möglich wieder nach Hause. Wo ist Nancy?«
»Sie wird Ihren Koffer schnell fertig machen, dann fahren wir los. Alles in Ordnung, Mylady?«
»Selbstverständlich, Adam. Mein Gesicht ist nur vom Treppenlaufen rot, und ich bin leicht unpässlich, das ist alles.«
Jasmin wusste, dass Adam ihr kein Wort glaubte, aber es war ihr gleich. Hauptsache weg von hier. Sie brauchte die Ungestörtheit der Kutsche, um ihre aufgewühlte Seele wieder zur Ruhe zu bringen. Danach konnte sie überlegen, wie sie ihren schrecklichen Fehltritt am besten wiedergutmachen und welche Erklärung sie Hubertus geben konnte.
»Jasmin! Warte!«
Als Hubertus Argyle atemlos aus der Tür eilte, die Außentreppe zur Straße hinuntersprang, anhielt und nach rechts und links blickte, war die Kutsche der Familie Devreux gerade um die Ecke verschwunden. Eine Stunde später rüttelte sie schon durch die Londoner Vorworte Ealing und Harrow Richtung Norden.