Читать книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer - Страница 7
ОглавлениеProlog
»Hier sind die Kleider. Schlüpfe ganz schnell hinein. Ohrringe, Halskette, Ringe und Armband bleiben bei mir. Auch die Uhr samt Goldkette.«
Er redete laut, um den Regen zu übertönen, der auf das Dach donnerte und gegen die Fensterscheiben peitschte. Seine offene Handfläche hielt er ausgestreckt der jungen Frau hin, die zaghaft die Perlenkette betastete, die ihren zierlichen Hals schmückte.
»Was, diese auch?«
»Keine Zeit für Erklärungen. Die Gefahr ist näher, als wir gedacht haben. Ein Mann ist tot. Das muss als Erklärung reichen.«
Mit zitternden Händen zog die junge Frau ihre Perlen vom Hals und streifte anschließend ein Armband und einen Diamantring ab. Der Mann nahm die Schmuckstücke aus ihrer Hand – behutsam, aber entschlossen.
»Nicht weinen, mein Kind«, sagte er plötzlich in einem sanfteren Ton. »Dieser Schmuck hat dir schlecht gedient. Er ist bei mir in sicheren Händen. Irgendwann müssen wieder bessere Zeiten kommen. Selbst dieses Gewitter kann nicht für immer dauern.«
Er zog einen grauen Rock, eine Schürze, zusammengefaltet und mit Wäschestärke gesteift, und eine dunkelblaue Haube aus einem schäbigen Lederkoffer heraus, den er aufgeklappt hatte.
»Ich schaue, ob die Kutsche zur Abfahrt bereitsteht. Bis ich zurückkehre, möchte ich eine gepflegte Zofe vor mir sehen, fertig zum Dienst.«
Als er wenig später wieder an der Tür erschien, war die junge Frau im Begriff, die Haube unter ihrem Kinn festzubinden. Sie richtete sich auf, stellte sich stramm und blickte ihn ängstlich an. Er begutachtete sie von Kopf bis Fuß, presste seine Lippen zusammen und nickte. Danach legte er einen Umhang um ihre Schultern und zog dessen Kapuze über ihre Haube, fast bis zu ihren Augen herunter. In eine Hand nahm er eine große Ledertasche, die neben der Tür stand, mit der anderen Hand hakte er sich bei ihr unter und führte sie aus dem Zimmer. Schnellen Schrittes gingen sie eine Steintreppe hinunter, einen gefliesten Gang entlang und zu einer kleinen Tür hinaus, die in einen Hof führte. Eine Kutsche wartete. Pferde stampften. Im Licht einer einzigen Laterne war der Dampf aus ihren Nüstern sichtbar, der durch die Regenströme in die kalte Nachtluft emporstieg.
»Brrr, noch nicht losspringen!«, rief der Kutscher und zog die Zügel an.
Das laute Bellen eines Hundes war am anderen Ende des Hofes zu hören.
»Wir müssen uns beeilen, bevor das Tier die ganze Nachbarschaft alarmiert«, rief der Mann zum Kutscher. Er wandte sich noch mal der jungen Frau zu.
»Deine Hauptaufgabe, mein Kind, ist es ab jetzt, unauffällig zu bleiben und dich im Hintergrund zu halten, wo auch immer du dich befindest. Ich weiß, das bist du nicht gewohnt, aber jetzt hast du keine andere Wahl.«
Er blickte kurz um sich, schob die Tasche mit beiden Händen durch die Tür der Kutsche und trat zur Seite, damit die junge Frau einsteigen konnte. Sie zögerte, drehte sich um, warf ihre Arme um seinen Hals, klammerte sich an ihn und grub ihr Gesicht in seinen inzwischen nass gewordenen Gehrock.
»Ich habe solche Angst, schreckliche Angst«, platzte es aus ihr heraus. Ihre Stimme war tränenerstickt. »Warum durfte ich mich nicht einmal verabschieden? Ein letztes Mal.«
Er hielt sie einen Augenblick lang fest.
»Ruhig, meine Liebe«, flüsterte er. »Es hätte dich nur in weitere Gefahr gebracht. Ich schaue nach ihm. Er schläft. Diese zerrissene Welt schwebt inzwischen an ihm vorbei. Bald ist sie für ihn nur noch ein ferner Schatten. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, warst du doch immer wie eine Tochter für mich. Du musst jetzt tapfer sein. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Aufgaben, die auf dich warten. Sag mir noch einmal: Auf was musst du achten?«
»Nützlich sein, damit meine Gebieterin nicht mehr ohne mich auskommt. Bescheiden, damit die anderen Bediensteten nicht neidisch werden. In einfachen Sätzen sprechen, damit mich niemand durchschaut. Immer auf der Hut sein. Das Haus niemals verlassen, ohne zu jeder Zeit zu wissen, wer hinter mir, neben mir, vor mir läuft. Nicht einmal die Vögel auf dem Dach dürfen ahnen, woher ich komme und wer ich bin.«
»Das reicht«, unterbrach er sie. »Gut gelernt. Wenn wir den Gerüchten Glauben schenken dürfen, dann ist deine neue Herrin so irrsinnig, dass ihr nicht auffällt, dass deine Hände für eine Dame im Dienst zu weich sind und deine Rede zu vornehm ist. Aber die anderen Bediensteten sind leider nicht irrsinnig. Vor ihnen musst du dich in Acht nehmen. Doch jetzt ab in die Kutsche. Ich übergebe dich der Obhut der schnellsten Pferde, der wendigsten Kutsche und des geschicktesten Fahrers in ganz England! Einen Korb mit Proviant findest du neben dem Fenster.«
Ein letztes Mal drückte er ihren Kopf an seine Brust, küsste sie auf ihre Kapuze und half ihr die kleine Treppe zur Tür der Kutsche hinauf. Er wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, dann drückte er die Tür zu und rief dem Kutscher zu: »Los!«
Lange noch nachdem die Kutsche in die dunkle Nacht verschwunden war und das Rattern der Räder und das Spritzen der Pfützen nicht mehr zu hören waren, blieb er in Gedanken versunken auf der Straße stehen.
»Der liebe Gott bewahre dich, mein Kind!«, murmelte er. »Hoffen wir, dass wir dich nicht erst recht in dein Verderben geschickt haben.«
Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ging, bis auf die Haut durchnässt, langsam und mit gebeugtem Kopf zurück ins Haus.