Читать книгу Schwester. - Nicolas Bjausch - Страница 3
Stimme.
Оглавление"Esther!"
Esther drehte sich um. Wo war sie? Wie war sie hier her geraten?
Es war kalt. Nebelfetzen hingen zwischen den Bäumen, die Esther nur im Zwielicht des Mondes erkennen konnte. Der Mond war von schwarzen Wolken am Nachthimmel umgeben.
"Esther!"
Die Stimme wehte aus der Dunkelheit an sie heran. Flüsternd. Krächzend. Als ob sie aus allen Seiten des dunklen Waldes dringen würde.
"Wer ist da?" fragte Esther angstvoll. Sie sah sich um. Bäume vor ihr, neben ihr, hinter ihr. Sie wollte loslaufen, wollte davonrennen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie barfuß war. Esther schaute an sich herab. Sie stand mit nackten Füßen im nassen, goldgelben Laub. Wie konnte sie hierher geraten? Mitten in der tiefsten Nacht, mitten im dunklen Wald.
"Esther!"
"Wer bist du? Zeig dich!" schrie Esther. Wieder versuchte sie zu rennen. Aber die bloße Angst hielt ihre Füße auf dem Boden gefesselt.
"Hierher! Komm, Esther!"
Die knorrigen Zweige der Bäume sahen im fahlen Mondlicht aus wie Hände mit knochigen Fingern. Sie bewegten sich im Wind, so dass Esther fast das Gefühl hatte, als ob die Hände ihr den Weg weisen wollten.
Es gelang ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Gefühl der feuchten Blätter unsere ihren Fußsohlen ekelte sie. Es tat weh, wenn sie auf einen Zweig oder ein Stück modriger Rinde trat.
"Hierher! Komm, Esther!"
Trotzdem sie nicht hören konnte, von wo die unheimliche Stimme genau zu ihr drang, wusste Esther, wohin sie gehen sollte. Wollte sie überhaupt gehen? Eben noch wollte sie fliehen, vor dieser unbekannten Stimme, hier im Wald. Aber jetzt schien es, als hätte sie gar keine andere Wahl, als der Stimme zu folgen.
Fast war es so, als täten sich die hängenden Äste auseinander, um ihr den Weg freizugeben. Vorsichtig tat Esther einen Schritt nach dem anderen. Da tauchte in der grauschwarzen Nacht etwas vor ihr auf. Es war ein Felsen.
Der runde Felsen war ringsherum mit Gras und Moos bewachsen. Esther konnte den feuchten Moderduft riechen.
"Komm hierher!" Jetzt war die Stimme deutlich näher. Gleichzeitig klang sie, als würde sie aus unendlicher Weite zu ihr dring. "Esther!"
"Ich komme!" rief Esther. Jetzt wurden ihre Schritte schneller. Sie kümmerte sich nicht mehr um dornige Sträucher oder Steine, die ihre Füße und ihre Unterschenkel streiften und hässliche rote Kratzer auf der Haut hinterließen.
Der Felsen vor ihr wurde größer, bis Esther direkt davor stand. Er ragte vor ihr empor, bestimmt zwei Meter hoch.
"Esther! Dreh dich um!"
Esther verstand nicht. Aber sie gehorchte und blickte zurück in den schwarzen Nachtwald, durch den sie gekommen war. Dort war nichts zu sehen. Die Dunkelheit erlaubte ihren Augen, nur ein paar wenige Meter zurückzublicken. "Wo bist du?" rief Esther in die Finsternis. "Wer bist du?"
Sie ließ ihren Blick durch die Nachtschwärze schweifen. Die Stimme antwortete nicht. Zu hören war nur das Knacken von Zweigen und über den Baumkronen ein leichter Nachtwind.
Esthers Blick schweifte über einen Strauch bis hin zu dem Felsen. Auf dem Felsen stand eine alte Frau mit langen weißen, fast leuchtenden Haaren. In ihren Augen funkelte es, das verzerrte Grinsen der Greisin ließ Esther noch mehr vor Schreck erbeben.
Die alte Frau streckte die abgemagerte Hand nach ihr aus. "Esther! Komm! Lass dir helfen, Liebes!"
Wie eine Schlange, die wie der Blitz zuschnappte, schnellte die Hand mit ausgestreckten Fingern auf sie zu - und umgriff Esthers Handgelenk!
Esther fuhr hoch und prallte zurück. Sie war schweißnass, ihr Mund war trocken. Um sie herum war es dunkel. Ihr war kalt. Sie tastete neben sich und spürte die Bettdecke, die sie offenbar von sich fort gestrampelt hatte. Sie hatte geträumt! Die Stimme, der Wald, die furchterregende alte Frau - es war nur ein Traum gewesen.
Erleichtert atmete Esther auf. Was für ein Albtraum! Langsam fand sie sich wieder und entdeckte, dass sie hier in ihrem Bett lag, in ihrem Kellerzimmer im Haus ihrer Eltern. Es war ein langer Tag gewesen. Jetzt erinnerte sie sich. Richtig, sie hatten heute den siebzigsten Geburtstag ihres Großvaters gefeiert. Dann waren sie nach Hause gefahren und Esther war wie erschlagen ins Bett gefallen. Und jetzt hatte dieser fürchterliche Alptraum ihren Schlaf durchkreuzt. Aber sie war aufgewacht und wusste, dass sie in Sicherheit war.