Читать книгу Schwester. - Nicolas Bjausch - Страница 5
Trinken.
ОглавлениеDas bisschen Wind, das durch die weit geöffneten Fenster ins Klassenzimmer wehte, half nicht viel: Trotzdem es noch so früh war, hatte die Sommerhitze den Morgen voll im Griff. Es fiel Esther schwer, sich zu konzentrieren. Das war zum Glück halb so schlimm. Denn was Nagel vorne am Lehrerpult über den tollen Erfolg von Jenny dahin schwafelte, interessierte Esther nicht. Das tolle "Aushängeschild für das Schwarzener Gymnasium" saß auf seinem Platz. Seine Wangen waren fast eben so rot wie ihr Haar. Esther beobachtete ihre Schwester. "Jetzt platzt sie vor Arroganz", dachte sie.
Wirklicher Unterricht fand bei Herrn Nagel nicht mehr statt in dieser Stunde, ebenso wenig in der zweiten Stunde, in der Frau Stenkel Französisch unterrichtete. Aber auch sie hatte in dieser vorletzten Stunde vor den Ferien keinen Lehrstoff mehr auf den Plan. Sie berichtete davon, dass sie im nächsten Schuljahr die Stufenleitung der neuen elften Klassen übernehmen würde, also nach den Ferien für die Zehntklässler, die jetzt vor ihr saßen, zuständig sein würde. Frau Stenkel erklärte, dass der Klassenverband nach dem ersten Halbjahr aufgelöst und ins Kurssystem wechseln würde. Esther hörte gar nicht richtig hin, was die Lehrerin über Grund- und Leistungskurse erzählte, für die sich die Schüler entscheiden mussten. Schließlich hatte sie noch gar keine Garantie, dass sie überhaupt in die elfte Klasse versetzt wurde - erst würde Esther noch in Französisch und Chemie nachgeprüft werden. Bestimmt würde ihr Nagel das nachher bei der Zeugnisausgabe noch einmal vor allen Mitschülern unter die Nase reiben. Jenny hatte das Problem nicht. Ihre schlechteste Note war eine Drei.
Zu Beginn der großen Pause setzten Jenny, Lea und Ella sich zusammen, um Pläne für den Nachmittag am See zu schmieden. Sie stellten eine Einkaufsliste zusammen.
"Wo steckt deine Schwester?" fragte Ella. "Glaubst du, sie kommt wirklich mit?"
"Frag mich nicht, was in ihr vorgeht", seufzte Jenny. "Ich kann mir Mühe geben, wie ich will. Es wird immer schwieriger mit ihr, vor allem, seit sie im Unterricht so nach hinten gerutscht ist."
"Sie ist echt merkwürdig", bemerkte Lea vorsichtig. "Sie war ja schon immer ziemlich... zurückhaltend. Aber jetzt sieht sie auch noch immer so finster aus."
"Ihr müsstet mal ihr Zimmer sehen", erzählte Jenny. "Die hat in ihrem Kellerraum hunderte von Kerzen... und diese Musik, die sie hört! Lauter Heavy Metal-Zeugs. Wenn Ihr diese CDs sehen würde, überall Monster und Totenköpfe drauf."
"Gruselig", sagte Lea knapp.
Jenny seufzte wieder. "Echt ätzend. Ich meine, wir sind doch Zwillinge. Aber je älter wir werden, desto unterschiedlicher werden wir. Früher war ich immer froh, eine Zwillingsschwester zu haben. Aber jetzt... Wie gesagt, ich kann mich bemühen, wo es nur geht. Aber es prallt immer alles an ihr ab. Und jetzt hat sie auch noch diesen Typen."
"Was sagen denn deine Eltern dazu?" wollte Ella wissen.
Jenny zuckte die Achseln. "Die dachten, das geht hoffentlich schnell wieder vorbei. Aber das geht jetzt echt schon lange mit ihr und diesem Lukas."
"Hey, Süße!", sagte Lukas und küsste Esther. Sie hatten sich wieder an ihrem Platz beim Fahrradkeller versammelt. Esther war nach dem Schulgong direkt dort hingeeilt.
Lukas fiel Esthers finstere Miene sofort auf. "Alles klar mit dir?"
"Ja ja." Esther lächelte gequält. "Ich bin nur froh, wenn ich dieses dämliche Zeugnis in die Tasche stecken kann und ich diesen Kasten für ein paar Wochen nicht sehen muss."
"Das unterschreibe ich direkt!" schaltete sich Jonas ein, der neben Bill im Schneidersitz auf dem moosbewachsenen Boden hockte. Die beiden hielten eine Flasche Bier in der Hand.
"Ist bei euch noch irgendwas gelaufen?" wollte Lukas wissen.
Esther schüttelte den Kopf. "Nur Gelaber über das nächste Schuljahr. Und natürlich über die neue Königin der Schule, meine werte Schwester." Sie erklärte den Jungs rasch, was es mit dem Aufsatz auf sich hatte.
"Ich kann das Prinzesschen nicht ausstehen", knurrte Esther. "Jenny hier, Jenny da. Und diese verdammte Schule hängt mir dermaßen zum Hals raus."
"Kein Stress", versuchte Lukas sie zu trösten. Er legte den Arm um ihre Schulter und erklärte: "Pass auf, wir haben eine saugeile Idee ausgebrütet. Meine Eltern fahren übermorgen mit meinem kleinen Bruder in den Urlaub. Das heißt, ich habe zwei Wochen sturmfrei. Und das werden wir natürlich am Wochenende gleich nutzen - und am Samstag steigt eine kleine Fete bei mir. Bist du dabei?"
Esther versuchte zu lächeln. "Klar." Dann fügte sie hinzu: "Wenn mir bloß diese verfluchte Nachprüfung nicht im Nacken sitzen würde."
"Hey, ich kann die Nörgelnummer jetzt echt nicht mehr ertragen", sagte Jonas. "Schon gar nicht eine Stunde vor den Sommerferien." Er hielt ihr wieder eine Flasche Bier entgegen.
Esther zögerte.
"Na, mach schon, das entspannt dich."
"Lass sie doch in Ruhe, wenn sie nicht will", entgegnete Lukas. "Sie verträgt auch nicht wirklich etwas."
"Was redest du für'n Quatsch?" fragte Esther grinsend und griff nach der Flasche. "Ich glaube, Jonas hat recht. So einen Scheißtag kann man nur mit einem ordentlichen Schluck begießen."
In der letzten Schulstunde spürte Esther an ihrem Tisch in der hinteren Reihe eine bleierne Müdigkeit, die sie umhüllte. Gegen Ende der Pause hatte sie noch so viel Spaß mit Lukas und seinen Kumpeln gehabt. Jetzt bewegte sich vor ihren Augen alles. Sie hatte das Gefühl, sich ganz tief in sich zurückgezogen zu haben, ohne das, was um sie herum im Klassenzimmer geschah, richtig wahrnehmen zu können.
"Esther?"
Esther erschrak. Es kam ihr wie ein Knall vor, als Herr Nagel das Zeugnis vor ihr auf den Tisch legte.
"Wir sehen uns in der letzten Ferienwoche zur Nachprüfung", sagte Nagel, nicht unfreundlich, eher auffordernd. "Aber versuche auch, ein bisschen von deinen Ferien zu genießen."
Er wandte sich ab, um Esthers Tischnachbarin Michelle ihr Zeugnis zu überreichen.
Esther ließ den Blick nur flüchtig über ihr Zeugnis gleiten. Dann murmelte sie hinter Nagel her: "Sie mich auch."
Nagel blieb stehen. "Hast du etwas gesagt?"
"Ich hab gesagt: Sie mich auch!" wiederholte Esther. Dabei merkte sie, dass ihr das Sprechen schwer viel. Sie schien keine Kontrolle über ihre Zunge zu haben, die Worte waren breiig.
Getuschel in der Klasse. Kichern. Nagel trat vor Esther an den Tisch. "Esther, wir haben versucht, den Grund für deinen Leistungsabfall zu finden. Du hast Chancen genug bekommen, also gibt es jetzt keinen Grund, hier Frechheiten in den Raum zu werfen."
"Leistungsabfall?" Esther kicherte. "Abfall, genau." Sie schob das Zeugnis mit einer energischen Handbewegung vom Tisch. Es segelte zu Boden.
"Bist du--" Nagel beugte sich zu Esther herab. "Bist du betrunken?"
Entgeistert schaute Jenny nach hinten. Was zur Hölle dachte sich ihre Schwester dabei?
"Kann sein", lallte Esther lässig und lehnte sich zurück. "Sie auch?"
Gelächter hallte durch die Klasse. Nur Jenny schwieg. Nagel schluckte. Er fasste Esther am Arm und zog sie von ihrem Stuhl nach oben. Dann führte er sie zur Klassenzimmertür. "Ihr verhaltet euch ruhig. Ich kümmere mich schnell um Esther. Ich bin gleich wieder da." Er öffnete die Tür und zog Esther hinaus.
Natürlich verhielten sich die Schüler nicht ruhig. Sofort wurde geredet. Eine betrunkene Schülerin in der Stunde - das hatte es bisher auch noch nicht gegeben. Und dann auch noch ausgerechnet die merkwürdige Esther.
"Hey, Jenny", rief Marek von hinten. "Hast du von deiner Mama auch einen Muntermacher als Pausendrink mitbekommen?"
"Unheimlich witzig", gab Jenny verärgert zurück, stand auf und verließ die Klasse, um dem Lehrer und ihrer Schwester zu folgen.
Herr Nagel hatte Esther ins Sekretariat gebracht und ihre Eltern verständigt. Esther hatte sich geweigert, die Telefonnummer zu nennen. Aber noch bevor Jenny die beiden im Sekretariat eingeholt hatte, hatte Frau Armor, die Sekretärin, die Nummer der Mutter der Zwillinge aus dem Schülerverzeichnis herausgesucht.
Esther setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür des Sekretariat.
"Könnten Sie auf sie achtgeben?" bat Herr Nagel Frau Armor. "Bis ihre Eltern kommen und sie abholen?"
"Solange sie keine Schwierigkeiten macht", sagte die ältere Dame mit einem skeptischen Seitenblick auf das betrunkene Mädchen.
"Ich könnte bei ihr bleiben", schlug Jenny vorsichtig vor. "Ich gebe auf sie acht."
Nagel schüttelte den Kopf. "Komm mit zurück in die Klasse. Deine Mutter kommt direkt her." Dann wandte er sich an Esther. "Das wird ein Nachspiel haben, das ist dir hoffentlich klar."
Esther prustete verächtlich und sah zur Seite.
"Warum machst du es dir so schwer?" fragte Jenny ihre Schwester. "Was ist nur los mit dir?"
Esther sah Jenny finster an. "Hau ab."
Sie blieb sitzen und stützte ihren Kopf auf ihre Fäuste. Hatte sie übertrieben? Erst jetzt, als Herr Nagel und Jenny verschwunden war und Frau Armor ihr keine Beachtung schenkte, kam ihr der Gedanke, dass sie eventuell doch ein wenig über die Stränge geschlagen hatte. Minutenlang blieb Esther wie erstarrt sitzen und nahm nicht wahr, was um sie geschah.
"Frau Armor?" erklang die Stimme eines Kindes.
"Ja?" fragte die Sekretärin, ohne dass sie von ihrem Computer aufsah.
Esther schaute auf. Es war ein Fünftklässler. "Einer aus unserer Klasse hat sich eben die Lippe am Tisch aufgeschlagen. Ich soll Eis holen."
"Ja, sofort", erwiderte Frau Armor, erhob sich von ihrem Drehstuhl und verschwand in einem kleinen Raum hinter dem Sekretariat. Dort stand ein Kühlschrank. Frau Armor öffnete das Gefrierfach, in dem gekühlte Gelkissen aufeinander gestapelt lagen. Sie nahm zwei heraus, warf die Kühlschranktür zu und ging zurück in ihr Büro. Der Junge wartete. Frau Armor reichte die Kühlkissen über den Tresen.
"Hier", sagte sie. "Reicht das mit dem Eis oder braucht ihr auch ein Pflaster?"
"Keine Ahnung", sagte der Junge. "Ich kann ja eins mitnehmen."
Frau Armor nahm einige Pflaster aus einer Schachtel unter ihrem Tresen und schob sie dem Jungen zu. "Bitte. Wenn ihr noch irgendwas braucht, kommt her. Aber es läutet ja ohnehin bald zum Schluss."
"Gut, vielen Dank", sagte der Fünftklässler und verließ das Sekretariat.
Frau Armor nahm wieder Platz vor ihrem Computer. Aber bevor sie sich wieder in ihre Arbeit vertiefte, fiel ihr auf, dass das betrunkene Mädchen, das Herr Nagel gebracht hatte, nicht mehr da war.
Da war er - der letzte Schulgong! Sofort brachen die Schüler der 10c in lautstarkes Johlen aus.
"Schöne Ferien!" Herr Nagel hatte Schwierigkeiten, den Lärmpegel zu übertönen. Letzte Pläne wurden geschmiedet, die Schüler verabschiedeten sich voneinander.
"Also, um drei vor dem Supermarkt, ja?" fragte Lea ihre Banknachbarin Jenny, die ihr Zeugnis säuberlich in ihrer Mappe verstaute.
"Kann sein, dass es viertel nach wird", erwiderte Jenny. "Wenn ich nach der Klavierstunde den direkten Bus kriege, dann bin ich da."
"Alles klar, zur Not kaufen wir ohne dich ein und treffen dich draußen."
"Jenny?" klang Nagels Stimme hinter ihr.
Jenny drehte sich um. "Ja?"
"Denkst du daran, die Sachen von deiner Schwester mitzunehmen?"
"Ja, natürlich, sicher."
"Dann wünsche ich dir schöne Ferien", sagte der Lehrer lächelnd.
"Danke, Ihnen auch." Jenny zwängte sich durch ihre Klassenkameraden, die ihre Sachen zusammenpackten. An Esthers Platz in der letzten Reihe warf sie schnell Federmappe und ein Buch in Esthers Rucksack. Das Zeugnis, das Nagel wieder vom Boden aufgehoben hatte, steckte sie in ihre eigene Mappe, um es zu schonen.
Ob ihre Mutter schon da gewesen war, um Esther abzuholen? Ob sie auf Jenny warten würden? Jenny hatte keine Ahnung, was passiert war, aber sie beschloss trotzdem, vorsichtshalber noch im Sekretariat vorbeizuschauen.
Zu ihrer Überraschung traft sie ihre Mutter vor der Sekretariatstür an. Frau Armor stand zerknirscht daneben
"Mama? Was ist denn los, wo ist Esther?"
"Das wissen wir nicht", sagte Frau Weber knapp. "Sie ist abgehauen."
"Es tut mir wirklich außerordentlich leid", beteuerte Frau Armor. "Ich war nur kurz von einem anderen Schüler abgelenkt."
"Wenn wir sie nicht finden, wird sie irgendwann nach Hause kommen", sagte Frau Weber und nahm Jenny Esthers Schultasche ab. "Komm, wir schauen." Ohne einen Gruß verließ Frau Weber den Sekretariatsflur.
"Auf Wiedersehen, Frau Armor", sagte Jenny freundlich lächelnd. "Schöne Ferien."
"Ja, ja", sagte die Sekretärin, bevor sie zurück in ihr Büro ging. "Dir auch, Mädchen."