Читать книгу Schwester. - Nicolas Bjausch - Страница 4
Letzter Schultag.
Оглавление"Das ist der beste Schultag im ganzen Jahr", sagte Lukas und ließ seine Schultasche von der Schulter auf den Boden fallen.
"Logisch", stellte Bill fest. "Den Schuppen hier sechs Wochen lang nicht sehen zu müssen, ist das Höchste der Gefühle."
Lukas und Bill standen an diesem Junimorgen gemeinsam mit ihrem Freund Jonas neben dem Seiteneingang zum Fahrradkeller, der zwischen Lehrerparkplatz und dem Schulhof der Oberstufe lag. Hier waren sie meistens ungestört, denn den Seiteneingang nutzte ohnehin fast niemand. Außerdem war er von Büschen umwachsen, so dass er nicht einsehbar war. Dafür konnte man durch die Blätter bestens zum Lehrerparkplatz und zur Straße mit den Bushaltestellen sehen. Hier trafen sie sich häufig, um in der Pause oder in einer Freistunde miteinander abzuhängen.
Jonas öffnete seine Schultasche. Das Klirren, das herausdrang, verriet den Freunden, was er dabei hatte: "Jemand ein Bier?" Er hielt Lukas die braune Glasflasche unter die Nase.
"Lass mal", lehnte Lukas ab. "Vor der ersten Stunde fände ich das ziemlich ungeschickt."
"Am letzten Schultag, was sollen sie da machen?" entgegnete Jonas schnippisch. "Die Sommerferien müssen anständig begossen werden."
"Ich wäre auch für später", erwiderte Bill und schob Jonas' Hand mit der Flasche von sich. "Keinen Bock, bei Lamp mit einer Fahne zu sitzen."
"Trübe Tassen", grinste Jonas, öffnete die Flasche mit seinem Feuerzeug und setzte sie an.
"Leute, ich werde jeden Tag am See abhängen", sagte Bill. "Vielleicht nehmen wir uns auch mal ein Zelt mit und bleiben da mal ein paar Tage am Stück. Party machen, ein paar Bräute aufreißen..."
"Beim Aufreißen ist Lukas wohl weniger dabei", grinste Jonas mit Blick auf seinen Kumpel. "Oder?"
Lukas grinste gespielt dämlich zurück. "Ich bringe Esther mit zum See, wir gucken euch gerne beim Aufreißen zu."
"Wenn man von der Teufelin spricht", sagte Bill und deutete mit dem Blick zur Straße. "Da kommt deine Braut samt Schwester."
Sie sahen, wie der große dunkle Mercedes von Herrn Weber vor der Bushaltestelle hielt. Die hintere Tür öffnete sich. Esther stieg heraus. Sie trug eine schwarze verwaschene Jeans und ein bleiches T-Shirt. Ihr rotes Haar fiel offen über ihre Schulter herab. Jetzt öffnete sich auf die Beifahrertür. Esthers Schwester Jenny stieg aus. Sie trug einen Rock und ein helles Top. Obwohl sich die Schwestern an sich wie ein Ei dem anderen ähnelten, waren sie durch ihren Stil sofort voneinander zu unterscheiden.
"Wow", grinste Jonas, als er Jenny sah, wie sie vor Esther die Straße überquerte. Er wandte sich an Lukas. "Bist du dir eigentlich sicher, dass du dir nicht den falschen Zwilling ausgesucht hast?"
"Jenny ist mir viel zu schick", entgegnete Lukas abwinkend. "Esther ist einfach lässig."
"Lässig?" wiederholte Bill. "Also, ehrlich... ich fand sie schon immer ein bisschen gruselig."
Statt einer Antwort warf Lukas Bill nur einen leicht verächtlichen Blick zu. Durch die Büsche sah er, wie die Zwillinge die Seite des Fahrradkellers passierten.
"Hey, Esther!" rief Lukas und trat einen Schritt hervor, damit seine Freundin ihn sehen konnte.
Beide Zwillinge drehten sich reflexartig um.
"Hi!" rief Esther erfreut und schaute ihre Schwester an. "Ich komme gleich."
"Okay", sagte Jenny beiläufig.
Esther küsste Lukas zur Begrüßung auf den Mund und umarmte ihn. Erst jetzt sah sie, dass er in Begleitung seiner Freunde waren.
"Geht's dir gut?" fragte Lukas vorsichtig.
Esther schnaubte leicht. "Na ja, dem heutigen Tag blicke ich nicht gerade mit Freude entgegen."
"Mach dir nicht so einen Kopf", tröstete Lukas sie. "Wenn du heute hier raus bist, dann machen wir erst mal ein bisschen den Ruhigen."
"Den Ruhigen?" wiederholte Esther verbittert. "Hast du denn Zeit? Ich dachte, du arbeitest an der Tankstelle."
"Aber doch erst ab nächster Woche und das auch nur halbtags. Wir schaffen das schon."
Esther seufzte. "Ich hoffe, ich hab ein bisschen Luft zum Atmen. Ich werde richtig viel pauken müssen."
"Aber doch nicht die ganzen Ferien", entgegnete Lukas. "Dich auf die Nachprüfung vorzubereiten, dazu hast du doch noch genug Zeit. Ich helfe dir dabei."
"Trotzdem. Das Donnerwetter zuhause steht mir noch bevor, selbst wenn sie schon Bescheid wissen, dass mein Zeugnis nicht gerade der Knaller ist."
"Schwamm drüber, Lady", schaltete sich Jonas ein. "Hier, wie wär's mit einem Schluck zur Entspannung?" Er hielt Esther die Bierflasche entgegen.
"Spinnst du?" Esther ging nicht weiter auf das Angebot ein.
"Ich gehe nach der Schule noch in die City, ich brauche eine neue Kappe. Kannst ja mitkommen, ich lade dich zu einem Trosteisbecher ein", schlug Lukas vor.
"Mal sehen, wie ich dann drauf bin", antwortete Esther zögerlich.
"Esther? Kommst du jetzt oder was?"
Die Stimme kam von Jenny. Esther hatte nicht gemerkt, dass ihre Schwester auf sie gewartet hatte. "Ja, ich komme." Sie wandte sich noch einmal an Lukas. "Wir sehen uns in der Pause, ja? Seid ihr hier?"
"Selbstredend", grinste Bill. "Lukas wartet hier auf dich, mit Blumen und Pralinen."
Lukas ignorierte das Gerede seines Freundes. "Ich bin hier, bis später."
Sie küssten sich noch einmal. Dann drehte sich Esther um und ging mit ihrer Schwester Richtung Schuleingang.
"Ich kapiere echt nicht, was du an dem findest", sagte Jenny kopfschüttelnd, während sie mit ihrer Zwillingsschwester die Stufen zum Haupteingang des Schwarzener Gymnasiums hinaufging.
Esther hatte ihren Rucksack vor der Brust umklammert und senkte den Blick. Sie hasste es, wenn ihre Schwester über ihren Freund herzog. Darum schwieg sie.
"Und diese assigen Freunde von dem", fuhr Jenny fort. "Hat dir dieser Jonas tatsächlich ein Bier hingehalten?"
"Ich hab's ja nicht genommen", murmelte Esther giftig.
"Gut, dass Papa eben gleich abgefahren ist. Wenn er dich mit Lukas gesehen hätte, hättest du gleich noch einen auf den Deckel bekommen."
"Ich passe schon auf."
"Was findest du denn an dem?"
"Ich..." Esther suchte nach Worten. "Ich mag ihn wirklich. Er ist supersüß und überhaupt nicht so ein Rüpel, wie sie alle behauptet haben. Außerdem... ich finde es cool, dass einer aus der Oberstufe auf mich abfährt."
"Nach den Sommerferien sind wir doch selbst in der Oberstufe", bemerkte Jenny lapidar. Dann fiel es ihr ein. "Na ja... hoffentlich."
Esther machte nur ein verächtliches Geräusch.
"Du wirst es schon schaffen, mit der Nachprüfung. Ich helfe dir beim Lernen", schlug Jenny vor.
"Danke, ich packe das schon."
"Guten Morgen!" klang da die helle Stimme von Lea. Sie hatte mit Ella neben dem Schulkiosk auf ihre Freundin Jenny gewartet. Herzlich umarmten sich die Freundinnen. Lea sprudelte gleich los. "Wie wäre es, heute Nachmittag gleich am See die Ferien feiern?"
"Ich nehme die Kühlbox von meinen Eltern und packe sie voll", ergänzte Ella. "Und ich habe eine neue Bluetoothbox, dann hören wir Musik und braten in der Sonne."
"Klingt gut", erwiderte Jenny. "Kann ich nach dem ganzen Stress gebrauchen. Esther und ich kommen gerne mit."
Esther stand einen Schritt abseits. Sie hatte realisiert, dass die Mädchen Jenny gefragt hatten und nicht sie.
"Klar", sagte Lea und sah Esther leicht lächelnd an. "Kommst du mit?"
"Ich weiß noch nicht", gab Esther knapp zurück. Es war ihr unangenehm, dass alle Leute aus ihrer Klasse schon wussten, was am Tag der Zeugnisausgabe auf Esther zukam.
"Kannst ja auch deinen geilen Freund mitbringen", sagte Ella. Esther glaubte, ein bisschen Spott in diesem Vorschlag gehört zu haben.
"Jenny, da bist du! Gut, dass ich dich treffe!" Herr Nagel, ihr Klassenlehrer trat auf die Mädchen zu und winkte mit einem Briefumschlag.
"Guten Morgen", sagte Jenny. "Was gibt es denn?"
"Gute Nachrichten", grinste Herr Nagel. "Dein Aufsatz."
"Was für ein Aufsatz?"
"Der Politikwettbewerb im März", erklärte Herr Nagel. "Tja, du hast gewonnen. Also, zumindest bist du eine der Preisträgerinnen."
"Ist das ihr Ernst?" fragte Jenny aufgeregt und riss ihrem Lehrer den Umschlag aus der Hand.
"Es geht nach Berlin im Herbst", sagte Herr Nagel, während Jenny den Brief mit der Nachricht überflog, "ein Treffen im Reichstag für zukünftige Führungskräfte."
"Das ist ja der Hammer!" rief Jenny erfreut. "Der Hammer!"
"Finde ich auch", erwiderte Nagel. "Ich gratuliere dir, Jenny. Wir sehen uns gleich in der Klasse."
Damit verschwand der Lehrer.
"Das ist ja unglaublich", sagte Lea und schaute sich den Brief begeistert an. "Ich wusste immer, du bist eine Intelligenzbestie."
"Ich hätte nie gedacht, dass mein Aufsatz da durchkommt", sagte Jenny fassungslos. "Ich hatte den Wettbewerb schon völlig vergessen."
"Und wen nimmst du mit nach Berlin?" fragte Ella und schmiegte sich an ihre Freundin. "Bitte, bitte, bitte, nimm mich."
Grinsend faltete Jenny den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Schultasche. "Wir werden sehen. Kommt, wir sollten gehen. Kommst du, Esther?"
"Ich komm gleich nach", erwiderte Esther. "Ich geh noch rasch aufs Klo."
Ella und Lea folgten Jenny durch die Eingangshalle zum Treppenhaus in den ersten Stock. Esther blieb zurück. Sie musste gar nicht zur Toilette. Sie hatte nur keine Lust, mit Jenny und ihren hochnäsigen Freundinnen mitzugehen.
Jenny. Heute das 1a-Zeugnis. Dann noch der Wettbewerb. Ihre Eltern würden sich vor Stolz überschlagen. Und für Esther würde der Tag nur mit Vorwürfen und wahrscheinlich Bestrafungen wegen ihres verkorksten Zeugnisses enden. Es kotzte Esther an. Immer war sie nur der Schatten ihrer schönen, erfolgreichen Schwester. Jenny, die alles haben konnte und alles erreichte. Sie hatte keine Lust mehr auf all das.