Читать книгу Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth - Страница 2
ОглавлениеProlog – 2139
Schon lange liegt wieder Schweigen über den Höhenzügen des Spessart ... blaugrau, Welle um Welle unter kochender Luft. Grillen gibt es noch, und manchmal knackt ein Stück Holz.
Zwischen den Wellen zieht sich eine weißgraue Schneise, vierfach gezäumt in verrostete Planken ... ein auf- und abtauchendes Band aus Ferne und Hitze. In der Stille surrt der Feldstecher ... fast schrill ... Chips verstellen die Optik, die mit weißen Linien und roten Symbolen auf die alte Bundesautobahn eingependelt ist. Die Vergrößerung zeigt Risse, Sprünge, Wildkraut optimistisch grüngrau in Ritzen wuchernd, daneben die letzten Reparaturflecken, angefressen von Jahrzehnten. Optiksurren, das Glas hängt am Riemen herab und ...
"Irgendwelche Beobachtungen, Rotter Klin?"
"Nein, Rottenführer. Alles wie gehabt, kein Verkehr."
"Gut, Rotter. Weitermachen!"
Rotter Klins Blick folgt einen Moment lang den breiten Rückenmuskeln des Rottenführers ... sichtbar wie nackt unter dem eng anliegenden, dünnen Tarnstoff ... der zwischen graugrünen, trocken schabenden Büschen verschwindet. Dann hebt Klin wieder den elektronischen Feldstecher an die Augen, richtet ihn gen Westen, wo der Spessart über flachere Höhenzüge nach Reinmain abfällt. Auch Klin trägt den eng anliegenden, graubraun gesprenkelten Tarnanzug seiner Truppe ... flache Muskeln, ein großes Geschlecht und eine gewisse Magerkeit um Beine und Rippen ... unten hohe, feste Stiefel mit wulstiger Sohle und Schutzkappe, um die Hüfte den breiten Instrumentengürtel mit mechanischem Revolver, Taschen, Karabinerhaken, Multimesser und einem abgegriffenen Com-Set samt Akkuhalter. Die Kapuze hängt herab ... ein magerer Hals, ein fleischiges, in der Hitze gerötetes Gesicht unter zwei Millimeter kurzen Haaren. Im runden, roten Feld auf dem linken Oberarm das Hakenkreuz ... das einzig sichtbare Zeichen.
Zirpen in der Mittagshitze ... das Terminal, das Gesicht eines anderen Kurzgeschorenen auf dem handtellergroßen LCD-Schirm ...
"Nest an Posten 3! Wir haben Meldung, dass der erste Kontrollflug aufgestiegen ist. Himmel beobachten, Tarnung vorbereiten. Meldung, sobald du etwas siehst. Und Vorsicht! Sie kommen mit einer Renault neun eins. Die sind schneller, als man denkt."
"Posten 3 an Nest. Himmel beobachten, Tarnung vorbereiten. Meldung bei Sichtkontakt. Der Heli ist eine Renault neun eins."
Mit einem leisen Seufzen zieht Klin sich die Kapuze über den verschwitzten Schädel und ein paar graue Handschuhe über die rauen Hände. Dann lässt er sich einen halben Meter ... oben war eine Steinkante, die es ihm erlaubte, sich ab und zu hinzusetzen ... den krümeligen, steilen Hang hinabrutschen, stapft nach links und bezieht Posten neben einer Gruppe verkrüppelter, dichter belaubter Sträucher. Mit breit gespreizten Beinen Halt suchend nimmt er wieder den Feldstecher an die Augen und richtet ihn auf die Straße unten.
Ein Silberreflex im Bild ... rote Zahlen tanzen im Sichtfeld, Klin zieht mit der Linken das Terminal aus dem Halfter, piepst ...
"Posten 3 an Nest. Posten 3 an Nest."
"Hier Nest an 3. Was gibt's?"
"Bewegung auf der Autobahn. Soweit ich erkennen kann, ein kleines Solar. Aber was ziemlich fixes. Ein Lada vielleicht. Er hat dieses komische Heckteil. Farbe hell. Moment, jetzt hab' ich ihn, auf dieser Kurve ... sechzig Stundenkilometer. Das ist ein Lada."
"Verstanden, Posten 3. Nachricht empfangen ... und weitergegeben. Irgendwelche weiteren Vorkommnisse?"
"Nichts ... das ... "
Klin lässt sich abrupt nach vorne fallen ...
"Sie kommen" - heiser in das Mikrofonloch gewispert. Und, vom Boden aus, in den Staub - "Schneller Helikopter genau aus West, direkt über der Autobahn."
Er schaltet aus, zieht das flache Gerät unter Hals und Brust ... verkrampfte Atemzüge, dann konzentriert flacher ... kein Muskel regt sich ... liegt er flach an den Boden gepresst, wo er hingefallen ist. Und ... schwellendes Dröhnen, Biflügel, Jets. Irrwitz zuckt silbern von Horizont zu Horizont.
Das Terminal zirpt.
"Hier Nest. Gut gemacht, 3. Keine Vorkommnisse bei uns. Aber der kommt wieder zurück. Die fliegen höchstens bis Würzburg. Also etwa 10 bis 12 Minuten. Danach haben wir mindestens eine Stunde Ruhe."
"Verstanden, Nest, von 3. Ich bleibe in Tarnstellung, bis die Renault zurück ist."
"Und ... Nest an 3 nochmal. Der Lada ... "
"Ja? Was?"
"Wie wir's uns gedacht hatten. Funkverkehr. Wir konnten was anmessen. Aber keine Gefahr, reiner Sprechfunk. Der war nicht gerüstet, keine Sonden oder Taster, nur zwei Leute, auf dreckige Cipy gemacht. Die ahnen nichts."
Klin dankt, schaltet sich aus. Er stemmt sich hoch aus der graustaubigen Erde, klopft sich gedankenverloren ab, spielende Finger um die dicke Beule zwischen den Beinen, den Blick wie träumend über die westlichen Berge gerichtet.
Dann ist die Renault zurückgeblitzt. Entwarnung. Klin klettert wieder auf den bequemeren Ausguck am Steilhang, noch immer im Schatten und mit besserer Sicht auf das Tal.
"Nest an alle Posten!" wispert das Terminal. "Wir schicken Euch jetzt Kameraden von den Waldleuten mit Verpflegung und Wasser. Aber beeilt Euch damit. Die Kanister müssen unter der Tarnung sein, wenn sie wiederkommen."
Lautlose Präsenz steht plötzlich da, ein heißer Körper aus dem Nichts ... Klin zuckt ... die Waldgermanin steht vor ihm wie aus dem Boden gewachsen. Waldgermanenzauberei. Die junge Botin ... höchstens achtzehn, mit wirren, braunen Haaren ums Gesicht, kleinen Hängebrüsten und einem buschigen Nest zwischen den Beinen ... nackt wie alle Waldleute, und trägt auf diesem Botengang nicht einmal ihren Kampfköcher ... hält den klobigen Wasserkanister mühelos vom Körper ab, als sei es eine leere Tasche.
Das Käsebrot ist schmierig, und der zerfetzte Scheibenkäse von blaugrünstichiger Farbe ... Nebenprodukt der billigeren unter den bekannten Methoden, Milch genießbar zu machen.
"Wie heißt Du?" – Klin, mit vollem Mund.
"Herta, Läufer Herta, Rotter," – leise, aber eine angenehm feste Stimme. "Aus Eckarts Stamm."
"Nein, nein. Bleib sitzen. Is' schon gut."
Er trinkt das frische Wasser aus dem Kanister ... gierig, sie müssen nicht sparen damit.
"Schon lange dabei?"
"Schon immer. Mein Vater war's, ich bin's. Ja, immer."
"Gut?"
"Ebich! Wahr ebich! Immer unterwegs. Die Menschen ... unsere Leute ... hier, überall. Wahr ebich!"
"Ihr kommt rum, was?"
"Nu, sicher. Geht gut hier. Nich Reinmain oder so. Nich in die Wüste. Immer im Wald. Bis zum Toten Land."
"So weit?"
"So ja. Im Toten Land haste Ruhe. Keine falschen Leute. Is doch keiner. Wächst sogar wieder. Paar Bäume. Grün!"
"Sag! Und die Grenzwachen? Mit denen habt ihr kein'n Ärger?"
"Nu, nee. Machen nix. Faul. Oder sind von uns. Nich vom Wald, aber Germanen."
"Bist noch jung, hä?"
"17. Bald nimmer. Glaubich. Ebich, werd ich bald Jäger oder so. Läufer is blöd. Biste immer rum, muss alles machen und Mund halten."
"Jäger ... hmm."
Klin schiebt sein Kinn vor. Sie hocken beide nebeneinander auf der Steinstufe. Klin umfasst leicht den Oberarm des Mädchens.
"Kräftig genug biste ja. Du wirst bestimmt ein guter Jäger!"
Die Augen des Mädchens leuchten auf ... Klins Hand gleitet über das Relief des sehnigen Rückens ... Finger packen zu, prüfen ...
"Doch, ja. Kräftig, wahr!"
"Meinste?"
"Na, sicher! Ha, na ... sag ich doch!"
Klin lacht kurz, trocken ... auch unsicher ... lacht und legt endlich den Arm um ihren Rücken ... nur kurz, zieht sie kumpelhaft männlich schüttelnd an sich ... sie schaut auf, erwidert Klins Blick aus dem Augenwinkel ... zuckende Wangenmuskeln ... senken wie abgesprochen die Blicke, an Klin das deutlich sichtbare Ergebnis des Flirts zu betrachten ...
"Wahr ebich!" – Klin, flüsternd.
Schwielig raue Waldmädchenhände packen zu, beginnen, fingerfertig an der Wulst unter der hauchdünnen Tarnstoffhülle zu spielen, zu streicheln, zu reiben. Klin greift der Nackten zwischen die Beine, schiebt einen, zwei Finger hinein in etwas Feuchtes, auf und ab ... wird er selbst in seinem Tarnstoff massiert ... kein Laut, kein Stöhnen ... nur auf und ab, hin und her. Und fertig. Dann schauen beide einen Augenblick an sich hinunter ... klebrige Tropfen bei ihr, ein großer, feuchter Fleck bei Klin. Er versucht mit einem schiefen Grinsen, Hertas Blick einzufangen, die sich abwendet, nach dem Wasser greift, sich abspült. Klin zieht ... das Grinsen weggewischt, hastig ... den Feldstecher an die Augen ...
"Das war aber nix ..." – Herta, noch heiser von der Erregung.
"Ha, nee ... äh ... ich ... Kämpfer ... brauchen das mal ... 'n Druck auf der Leitung, und weg damit. Wozu sind wir Kameraden?"
"Ja, Kameraden! Ebich!" – Herta strahlend, stolz ... richtet sich wieder auf, streicht noch einmal flüchtig über die Beule unter Klins Gürtel, der sie eckig, linkisch in die Arme zieht, tätschelnd auf den Rücken klopft.
"Nest an 3. Nest an Posten 3. Der zweite Kontrollflug ist aufgestiegen. Schick uns das Mädchen zurück und tarn dich."
"Posten 3 an Nest. Verstanden. Der zweite Kontrollflug ist aufgestiegen. He ... nein, der Läufer kommt zurück."
"Mensch, Rotter! Funkdisziplin halten! Beim Führer, keine Namen!"
"Jawohl. Entschuldigung. Bitte um Verzeihung!"
"Schon gut. War ja nich' draußen. Sie soll sich beeilen. Diese Renault is' schneller da, als man glaubt."
Klin kauert hinter seinem Gebüsch, späht in verrenkter Haltung zur Autobahn ... wandernde Reflexe im Hitzeglanz dort unten ...
"3 an Nest. Achtung! Reflexe auf der Autobahn ... weit weg. Versuche Beobachtung. - Moment! Jetzt ... au weia ..."
"3, reiß dich zusammen!"
"Containerzug aus Richtung Reinmain. Zwei, nein, drei Doppeleinheiten ... Geschwindigkeit ... die sind schnell! Posten 3 an Nest! Warnung! Containerzug drei mal zwei Einheiten mit hoher Geschwindigkeit. Vierzig Stundenkilometer. Die sind zu schnell für normale Lasttransporter. Könnte 'ne Bodenpatrouille sein, die ... sie ... die Renault ist da!"
Klin im Nest, seine Ablösung irgendwo am Hang. Malerisches Feldlager und bitterer Ernst ... die Zelte und Bahnen aus Tarnstoff überall, zusammengelegt oder aufgespannt, über Gruben und Geräten ... der Stoff, der die Spürsonden der Unionstruppen täuscht, Infrarot, Magnetoskopie und Biometrie ablenkt, griffbereit neben den Grüppchen ... keine Feuerstellen ... Kämpfer und Techniker aus SA und SP in Tarnanzügen mit dem Hakenkreuz auf rotem oder blauem Feld, kräftige, langhaarige und -bärtige Waldleute zusammengekauert, mit nichts als ihren Kampfköchern um die Hüften ... alles in allem fast hundert Männer und Frauen.
Unschlüssig steht Klin mit seinem Essnapf am Rand ... mustert die Gruppen der Waldleute ...
"Rotter Klin!"
Klin steht stramm, verschüttet fast etwas seinen Brei.
"Rottenführer!"
"Rotter Klin, Sie sind zurück von Posten?"
"Jawohl, Rottenführer. Abgelöst vor einer halben Stunde. Beim Essenfassen, Rottenführer."
"Gut, Rotter! Essen Sie weiter. Aber wenn Sie fertig sind, melden Sie sich beim Führer."
Klins Hand und Napf sinken plötzlich tiefer.
"B..b..beim Führer?"
"Mensch, Klin, Sie Rattenhirn! Beim Bannführer natürlich!"
"Jawohl, verstanden. Beim Bannführer. Sofort."
"Schon gut, Rotter, regen Sie sich ab. Essen Sie, und sehen Sie einfach zu, dass Sie in fünf Minuten dort sind. Wird schon nicht so schlimm sein."
Die kochende Sonne strahlt schräg durch das Gehölz, das nackt und kahl kaum Schatten bietet. Drüben, links und ein Stück höher am Hang, ist eine regelrechte Oase ... volle, grüne Büsche, ein paar Bäume mit echtem Laubwerk, Moos und Wildkraut auf dem Boden ... dazwischen ein großes Iglu aus doppeltem Tarnstoff, Unterstände und zwei unförmige, dick eingewickelte Riesenpakete ... schwere Geländefahrzeuge, imposante Reste vergangener Waffentechnologie.
Klin stapft über den krümeligen Bodenmulch, dann über Moos und niedergetrampeltes Wildkraut auf den Iglu zu ... meldet sich an, wird hineingeschickt ...
"Rotter Klin, mein Führer! Ich soll mich melden."
"Ah ja, Rotter Klin. Gut. Kommen Sie näher. – Und nun, Rotter Klin, erstatten Sie mir Bericht!"
"Wie ... äh ... ah ... ob ich auf Posten ... "
"Rotter! Was soll das Gestammel? Von einem Kämpfer der SA darf ich doch wohl etwas mehr erwarten!"
"Jawohl, Bannführer, nur ... ich bitte um Verzeihung, aber ... ich weiß nicht ... soll ich über meine Beobachtungen Bericht erstatten ... da waren nur die Überflüge, der Lada und ein Containerzug, sonst nichts Verdächtiges. Fünf private, unverdächtige Solars, eine Gruppe Landleute auf Fahrrädern, zwei kleine E-Transporter ... das war alles aus meiner Richtung."
"Soja. Wie war der Ausguck?"
"Hervorragend, Bannführer, ideal gewählt."
"Und es wurde Ihnen nicht zu langweilig dort oben?"
"Nein, Bannführer! Es war ein guter Posten ... wichtig. Ich verstehe Ihre Frage nicht, Bannführer."
"Also gut, Rotter Klin, machen wir es kurz, denn ich habe noch andere Dinge zu erledigen, als mich mit undisziplinierten Wichsern abzugeben! Ich war leider gezwungen, eine Klage aus Eckarts Stamm entgegenzunehmen. Sie wissen, worum es geht, Rotter! Verdammt, Sie sind ein geschulter Mann. Sie wissen, dass die Waldleute vieles anders sehen als wir. Wenn Sie das nächste Mal Druck auf der Leitung haben, dann nehmen Sie meinetwegen eine Köchin, aber lassen Sie die Finger von jungen Waldgermanen. Wir sind hier auf diese Leute angewiesen, so verrückt sie sind. Ich weiß ... ein Mann nimmt sich, was er braucht, aber bei diesen Waldleuten ist etwas Vorsicht angebracht ... "
"A.. Bannfüh... "
"Keine langen Reden bitte, Rotter! Ich hab' diesem Zottelbär erklärt, dass sein Mädchen ja wohl freiwillig mitgemacht hat. Die Sache ist damit erledigt. Und ich wünsche, dass sie das auch bleibt. Nein! Kein Wort mehr! Es ist in Ordnung. Und nun verschwinden Sie und passen in Zukunft auf Ihre verdammten Wichsgriffel auf!"
Hitze steht auf der alten Autobahn ... schrägeres Licht, gemasert von schmalen Schatten ohne Kühle unter spärlich graubraun belaubten Baumgerippen. Vor Klins neuer Stellung haben sich wuchernde Krüppelbüsche um die Leitplanke und auf den Randstreifen geschoben, sich eine Bahn in den Belag gerissen, sogar einige ... wenige ... grüne Blätter produziert.
Nichts regt sich zwischen den Büschen ... Menschen überall, platt am Boden in graubraunen Tarnanzügen ... nackt zusammengekauert in Schweinchenstellung die Waldleute ... ein Rudel Wildschweine für die Biometrie ... warten flach atmend, lauschen dem Wispern der Terminals.
"Posten A an Nest. Immer noch nichts ... "
"Rotte 2 an Nest. Wir rücken noch ein paar Meter abwärts. Dort ist die Sicht besser.."
"Nest an Rotte 2. Verstanden. Absicherung beachten. Zwo Mann in Position belassen."
"Rotte 2 an Nest. Verstanden. Zwo Mann bleiben oben."
"Posten 4 an Nest."
"Nest an Posten 4. Meldung!"
"Melde Bewegung ... Motorengeräusch ... Verbrennungsmotor ... schweres Gerät ... Achtung, Sichtkontakt ... es ist der Zug!"
"Verstanden, Posten 4. Nest an alle. Es geht los. Der Zug kommt. Rotte 2, seid Ihr in Position?"
"Ja."
"Nest an alle. Absolute Funkstille. Es gilt Befehl Geierhorst. Wiederhole: Befehl Geierhorst."
Schweigen ... Klin liegt jetzt mit einem anderen allein unter seinem Gebüsch ... den Kopf halb erhoben ... natürlich nichts zu sehen, nichts von dem SA Bannsturm, den Pionieren, den zwei Kampfrudeln der Waldleute, nichts ... hundert lauern ...
Ein Brummen weht um die Biegung herauf. Betonbrösel knirschen. Sein Kamerad schiebt sich weiter vor. Klins Gesicht ist vor Anstrengung gerötet, die Muskeln unter dem hauchdünnen Stoff gespannt. Einen Moment lang schwebt der Ton noch in der Ferne, bleibt allgemein, fast ein Naturlaut ... Vibrationen dringen aus dem endlosen Fundament ... hinter der letzte Kurve hervor ... brummt es auf, zieht auf ihn zu, schüttelt die alte Autobahn ... näher heran ... Knirschen und Dröhnen auf Klin zu ... der Zug. Ein uralter Gigant. Wolga 40 Tonnen Tanksattelzug mit Methanolturbine und gepanzertem Führerhaus, grau braun grün schmutzig narbig von tausend tödlichen Flüssigkeiten, die er damals sicher durch eine zusammenbrechende Welt bringen sollte, und die beim Einfüllen zu oft verschüttet wurden ... walzt und mahlt ohrenbetäubend auf minensicheren Metalldrahtreifen, prägt tiefe weiche Teerflecken, zu langsam, um eine Staubwolke aufzuwirbeln ... hinauf, zur nächsten Kurve und herum und ... ein zischendes Aufstöhnen. Und Ruhe.
Klin lässt den Kopf vornüber sinken, Stirn, Nase, Lippen und Kinn auf ein Stück staubigen Betons. Leise Rufe, kurze Schritte ... langsam schälen sich wieder Geräusche aus der Betäubung ... das flache Atmen des Mannes neben ihm, Laute der mühsam lebenden Natur, Rascheln, Knacken ... Äste brechen immer noch häufig von alleine ab ... Zirpen und Summen von Insekten, Geräusche, die langsam wieder zu einem friedlichen Klang zusammenwachsen, Rascheln und Summen ... sogar deutlicher werden ... Klin zuckt, die Hand des Kameraden ist auf seinem Arm, packt und drückt ... ein Summen hebt sich heraus, steigt aus auf dem Wald, dem Tal, der Ebene, aus Rheinmain eine Botschaft der Ferne ... summt mit ungeahnter, irrwitziger Geschwindigkeit heran ... sanft und schnell drei Schemen vorbei und ...
... Jaulen der Bremsen. Knirschen. Schläge und Brechen. Die Leute dort sind gut, sehr gut. Der letzte der drei Wagen steht noch nicht, da schießen die aus dem ersten, oben, hinter der Kurve, bereits, obwohl er schwer beschädigt sein muss. Kurze, trockene Einzelschüsse, sie sind nicht einmal in Panik. Querschläger lassen den Tankzug klingen. Vom Stakkato zur Sinfonie. Aus dem dritten Wagen, deutlich vor Klin, hechten zwei Mann und sterben im Flug, von Werfergranaten zerhackt. Aus Schießscharten ragen die Läufe von Maschinenpistolen, ballern ziellos ins Gebüsch.
Rufe, Kommandos tönen hinunter zu Klin. Die Funkstille darf nicht gebrochen werden. Ein dumpfer Einschlag, harmlos wie das Herabfallen eines schweren Buchs. Bullernd rollendes Dröhnen. Eine schwarze Wolke zieht über der Kurve auf. Die Pistolen tackern spärlicher. Keine zehn Sekunden stehen die drei Wagen jetzt ... ohne Chance. Aus Klins Augenwinkeln kommt die Flammenspur, ein Zischen, der Einschlag der Bazooka ... das zweite dicke Buch, überlagert von dem Dröhnen der Explosion unmittelbar vor ihm, die sich ratternd fortpflanzt ... Munition in dem Auto ... und dann der brüllende Ausbruch des Treibstoffs. Schwarzer Qualm wälzt sich über den Flammen, ein brennender Mensch taumelt monströs rudernd aus dem Inferno und wird gerade vor Klin von der Explosion seines Magazins zerrissen. Schüsse fallen keine mehr. Sturmpioniere in Schutzkleidung sprühen aus großen Kartuschen Schaum auf die Brände, die sich wie absichtlich auf den ausgedörrten Wald zu bewegen.
"Rotte 2! Vorsichtig aufschließen!"
Das ist für Klin. Nach unten sichernd schleicht er langsam hangaufwärts, beobachtet seine Rotte, die unten die Kurve hoch kommt ... geduckt am Gebüsch entlang, die Waffe im Anschlag.
Hinter der Kurve der gleiche Anblick ... ein gepanzerter Lada der Unionspolizei als aufgerissene Dose, drei verkohlte Leichen und Männer der SP mit schwerem Handlöschgerät. Oberhalb steht quer auf der Fahrbahn der Tanklastzug. Und mittendrin der zweite Wagen. Links zur Seite gerutscht, hat sein Gewicht die brüchige Mittelplanke zermalmt. Als gehörte er nicht dazu. Ein paar Beulen in der Panzerung, der Lack von der Hitze angesengt ... keine Regung hinter den schwarzen Scheiben, kein Spalt als Schießscharte ... Klin ist nah genug, blickt immer wieder hin, zu diesem ungeheuerlichen Fahrzeug ... ein erlegter Dinosaurier ... Hass und Staunen erregendes Relikt einer vergangenen Epoche, aus dem Fuhrpark des Rats der Union. Benz 900 SLL 16-Zylinder, Baujahr 2037.
SA und Waldleute stehen darum, einige mit Tränen in den Augen. Sie hassen dieses Monstrum, arrogantes Symbol der Verschwendung ... weit über 200 Stundenkilometer schnell, haben sie gehört, obwohl sie das nun wirklich nicht glauben ... verbrennt – Benzin. Erdöl! Vernichtet in verschwenderischem Durst den kostbarsten Rohstoff, den Menschen heute kennen, winzige, unbezahlbare Basis für einen Rest von Zivilisation.
Wie Kulissen werden zwei Büsche beiseite gezogen. Vier Männer schleppen schweres Gerät heran ... Knöpfe und Skalen hinter einer geöffneten Schutzklappe. Sie stellen es auf die rissige Fahrbahn neben der Ratslimousine. Ein Mann wickelt ein Paket aus dem Tarnstoff ... ein klobiger Projektor ... dicke Kabel werden zwischen Projektor und Kasten eingesteckt ...
"Verdammt, beeilt Euch! – Bannführer! Wir sind soweit."
Der Bannführer steht an dem Generatorkasten. Er überragt die meisten der jungen Kämpfer ... ein großer, hagerer Mann mit silbergrauem Borstenschnitt, zerfurchtem Gesicht und harten, flachen Muskeln. Der Laserstrahl steht rotglühend ... schwenkt wie spielerisch am rechten, vorderen Kotflügel des gepanzerten Autos entlang. Schneidet wie durch Butter. Haarfein ist die Spalte. Kotflügel, Rad, Aufhängung und Radkasten poltern zur Seite, der Wagen sackt tiefer in den Boden des Mittelstreifens.
"Fangen Sie an!" – der Bannführer verhalten, nüchtern zu den Männern.
Wieder tanzt der Laserstrahl ohne Hast über den Wagen ... metallisches Knirschen und Reiben ... ein glatter Schnitt trennt Vorderwagen und Motor von der Fahrer- und Fahrgastzelle.
"Wegziehen!"
Einige Männer haben ihre Waffen auf die Fenster gerichtet. Sturmpioniere ziehen das abgetrennte Fahrzeugteil vorne weg, sprühen Schaum auf die zerteilten Leitungen und das auslaufende Öl und Benzin.
"Die Fahrer!"
Der Strahl frisst sich in die Fahrerkabine, wird hin und her gezogen ... gellende Schreie selbst durch die gepanzerten und gedämmten Wände lassen einige der jungen Rotter zucken ... gespenstisch langsam öffnet sich drüben die Fahrertür, klicken schon die Waffensicherungen, knallt eine einzelne nervöse Kugel in den Spalt ... der sich erweitert, als Teile der Tür angeschnitten nach außen fallen und dazwischen blutige Fleischklumpen, längs und quer zerschnittene Gliedmaßen, ein halber Kopf und rot breiige Masse ... junge Schützen wenden sich ab, bedecken die Augen vor ihrem Werk ...
"Die Kabine! Los, macht hin, ihr Schlappschwänze! Die Zeit wird knapp, und Oma wartet nicht mit dem Kuchen." – ein Rottenführer ungerührt.
Der Laserschütze konzentriert sich, schneidet langsamer als zuvor den Wagen mittendurch, hinter der Trennwand zwischen Fahrer- und Fahrgastraum.
"Gas bereit?" - der Bannführer leise.
"Jawohl, Bannführer, alles bereit. Wenn sich das Schwein muckst, kriegt er 'ne Ladung reingeknallt."
"Dann geben Sie mir das Megaphon und lassen Sie jetzt den Wagen öffnen."
"Los, macht die Dose auf!" - der Rottenführer.
Sie zerren vorne und hinten. Der Schütze mit der Gaspatronen-Büchse zielt auf den sich öffnenden Spalt.
"Silajev!" - der Bannführer durch das Megaphon. "Wir holen Sie jetzt raus. Unterlassen Sie jede Gegenwehr! Solange Sie tun, was wir Ihnen sagen, wird Ihnen nichts geschehen."
In Eile ... der Laser ist bereits wieder abgebaut ... sie drücken die Wagenhälften mit Stangen auseinander, rechnen nicht mehr mit Gegenwehr ... nur wenige Männer auf dem Platz.
Im hintersten Winkel der Fahrgastkabine ... ein Mann ... silbergraue, kurze Haare, zerwühlt, ein faltiges, hageres Gesicht ohne Farbe ... Joschi Silajev ...
"Holt ihn endlich da raus. Aber Vorsicht! Vielleicht hat das Schwein noch irgendwo 'ne Pumpe versteckt."
Klin lässt die Waffe sinken ... entspannt sich und beobachtet den da hinten, einen hilflosen Machthaber ... der Gegner, das Monster, das Schwein, in der Angst so irreal wie in der Fülle und Ferne seiner Macht ... einige lachen nervös, lächerlich erscheint der Anblick, ein Blick in die gewaltsam geöffnete Maschine der Macht, auf eines der kleinen Rädchen, selbstbeschmutzt vor Angst ... die feuchten Flecke sind auf der hellen Leinenhose leicht zu erkennen. Die ihn herausholen sollen, gehen einige Schritte auf das Wrack zu, andere klicken mit ihren Waffen, mehr befriedigte Drohgebärde als berechtigte Vorsicht ... er hat sich in einem letzten, erschrockenen Reflex nach hinten geschoben ... kippt bewusstlos ins Polster.
Der Rottenführer flucht und treibt sie an. Die Zeit wird knapp. Sie zerren Silajev hervor, zu fünft, packen ihn an Armen und Beinen, schleifen und ...
"Verdammt, passt auf seinen Kopf auf!"
... schleppen ihn die Fahrbahn hinauf zu dem Tankzug. Dort liegen jetzt zwei, drei Kästen oder Behälter auf der Straße, abgeschraubt von den Flanken des Tanks, Sturmpioniere mit Werkzeug daneben ... ein rostiges Gestell ist unter dem Rumpf hervorgeklappt. Heisere Rufe vom Rottenführer der SP ... sie legen Silajev in das Gestell, da ist eine Pritsche, Verkleidungsteile, schieben und zerren ... die Pioniere stürzen sich auf das Gestell und die Kästen ... mit metallischem Schaben, Quietschen und Hämmern wird alles hoch- und zusammengeklappt, befestigt, verschraubt und verkleidet. Eilig laufen sie herum, fast die letzten auf dem Platz. Klin hat sich ausgezogen, Waffengurt und Tarnanzug liegen neben ihm ... ein geröteter, sehniger, nackter Körper inmitten des Blutbades. Er schlüpft in einen grauen Overall, den ihm sein Rottenführer hinhält. Den Overall eines Tankzugfahrers.
Völlig ruhig geht er zwischen den geschäftigen SP-Männern zur Fahrerkabine ... die Beifahrertür, fast ein Stockwerk über ihm, schwingt auf. Die Kabine ist düster und gut gekühlt ... voll kaltem Glimmen im Grün und Blau der Skalen und Anzeigen.
"Du bist Klin?"
Der Fahrer wirkt etwas zierlicher als Klin, klein und drahtig in seinem Recytex-Overall. Klin nimmt Haltung an.
"Rotter Klin, Gruppenführer, zu Ihrer Begleitung!"
"Lass das, Rotter! Komm schon, kletter' rauf, damit wir endlich los können. Und ich bin einfach nur Tom."
Der Gruppenführer hat eine raue, verbrauchte Stimme, älter als sein Aussehen. Klin wirft einen letzten Blick über die Schulter ... die Kameraden strecken die Hand zum Deutschen Gruß, die Fahrzeugteile sind verschwunden, ihr Opfer verstaut. Klin nickt ihnen zu, zieht sich empor und schwingt sich auf den Beifahrersitz.
"Dann wollen wir mal." – Tom, kratzig und fröhlich.
Schalter werden betätigt, Lämpchen wechseln ihre Farbe, Skalenzeiger erzittern ... mit einem gezogenen Maschinenstöhnen ruckt der riesige Zug an, zermalmt knirschend Betonbrocken am Rand der Fahrbahn.
"Halt dich fest," knarrt Tom, "es wird jetzt erst mal ein bisschen unruhig. Ich muss draufdrücken, denn wir sind spät dran, und sie wollen endlich sprengen."
Aus einem winzigen Bügelchen im Ohr empfängt Tom flüsternde Nachrichten. Wuchtig zieht die Maschine an, spürbar die Kraft der Turbine ... sie fahren. Klin ist der Begleiter. Jung, stolz, ein Elitekämpfer, ein wenig jugendlich unruhig in seiner wichtigen Rolle. Und Tom, der Gruppenführer, der Fahrer.
Es wird nicht viel gesprochen. Klin lehnt mit dem Kopf an dem abgenutzten, rissigen Polster der Kopfstütze ... die Augen halb geschlossen ... Skalen glimmen, die Maschine singt gleichmäßig, aus dem Bügelchen ein Wispern dann und wann ...
"Wie läuft's?" will er wissen.
"Gut," kratzt die einsilbige Antwort.
Toms Gesicht ist im Zwielicht der Anzeigen von wechselndem Ausdruck, kantig und zart, jung und alt, brutal und weich ... mit einem verwirrenden Funkeln in den Augen, manchmal fast ein zielloses Lächeln ... auf den blaugrauen Spessart hinter den verdunkelten Panzerfenstern gerichtet.
"Sind sie gut weggekommen?"
"Bis jetzt. Ja."
"Keine Verfolgung?"
"Nein."
"Und die Renault?"
"Genau nach Plan."
"Wie?"
"Nach Plan. Du kennst den Ablauf nicht?"
"Nee."
"Und da haben sie dich hier reingesetzt?"
"Ebich! Ich weiß, was ich wissen muss. Hier, mein' ich, bis München. Sonst nix."
"Dann frag auch nicht so viel." Und, mit einem etwas freundlicheren Kratzen: "Es ist alles auf die Minute ausgerechnet. Die Renault wird gerade betankt. Und dabei hat es eine kleine Störung gegeben. Nix Auffälliges, nur eben so lang, wie wir brauchen, ohne dass sie auf den Gedanken kommen, aus Reinmain eine Ersatzmaschine zu schicken."
Draußen ... karstig wüste Hügel, fleckig mit kümmerlichen Pflanzen, die fast nicht brennbar sind, dämmrig hinter dem dunklen Glas, Helligkeit und Hitze nur zu ahnen an den tiefen, harten Schatten. Einige kleine Solars kommen entgegen. Der Zug überholt ein paar Müslix auf alten Geländefahrrädern, die ihm voller Missbilligung hinterher starren. Vor einer Brücke hat der Reparaturdienst ein Zollhäuschen aufgebaut. Tom zahlt die Maut durch eine kleine Geldschleuse neben seinem linken Knie. Von dem Überfall wissen die Wachleute noch nichts.
Auf der Erhebung am anderen Ende der Brücke wächst verkrüppelter Wald, dichtes, hüfthohes Wildkraut am Fahrbahnrand ... hinter einer Kurve ein kleiner Transporter zwischen den Büschen, daneben eine große, muskulöse Gestalt mit tiefschwarzen, kurzen Haaren wie eine Kappe ... wackelt ein wenig mit dem Oberkörper ... Pinkelpause. Der Zug fährt langsamer ... hält an.
"Was ist los?" fragt Klin.
Die Zugmaschine steht genau neben dem Heck des kleinen Transporters. Klin schaut hinaus, zu Tom ... der große Schwarzhaarige, ein wahrer Hüne, kommt ruhigen Schritts auf die Beifahrerseite zu.
"Herr Gruppenführer, haben wir denn Zeit für Pausen? Kennen wir diesen Mann?"
Tom drückt einen Schalter.
"Endstation, Kleiner!" – fröhlich kratzig.
Hitze schlägt herein, als die Beifahrertür aufzischt.
"A..aber ... Gruppenführer, was ... " – Klin blickt irritiert hin und her.
"Mach's gut!" – kratzend mit fröhlichem Ingrimm.
Klins Gurt ist plötzlich offen. Tom stößt zu, der Typ vor der Tür nimmt ihn wie eine Feder in Empfang, beiläufig ... sinnlos der Griff zur Waffe unter dem Overall ... schleudert Klin ins Freie, zu Boden ... schlägt benommen auf. Sein Gegner ... seine Gegnerin, eine riesige Frau ... ragt grinsend über ihm auf, hat einen klobigen Kampfstiefel auf seinen Hals gestellt. Die Kabinentür ist wieder zu, der Zug dröhnt an.
"Ciao, kleines Faschoschwein!"
Ihre Stimme ist schmelzendes Gold. Der Stiefel hebt sich ein paar Millimeter. Erfolglos versucht Klin, das Ungeheuer am Bein umzuwerfen ... lächelnd tritt sie zu. Aus seinem zerschmetterten Kehlkopf dringt ein leises Gurgeln.