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ОглавлениеKapitel III – 2091
Die zweite Nacht im Anderswo. Axi und er mussten zusammenrücken im unteren Stock des Etagenbetts, weil Riss da war. Wie erstarrt hatte er die Nachricht aufgenommen. Dieses Mädchen, deren Anblick ihm jeden Gedanken raubte, würde im selben Raum mit ihm schlafen!
Und sie gab sich keine Mühe, ihn zu schonen. Axi und er lagen schon im Bett, als sie herein kam. Auch der Umgang zwischen Bruder und Schwester schien so tabulos wie das Verhalten der meisten hier in dieser fremden Welt. Ohne Zögern schälte sie sich aus ihrer Kleidung ... Citydschungelmode, viele Teile stammten eher aus einem Metallwarenladen als aus dem Textilhandel ... und stieg splitternackt an Joschis mühsam halb abgewendeten Augen vorbei in das obere Bett. Sehr weiblich war ihre Figur nicht, eher hager, mit festen Muskeln, flachen Brüsten und einer schmalen Hüfte.
Zurück blieb ein unordentlicher Haufen ... ein Paar dicksohlige, metallbeschlagene Stiefel, eine klobige Jacke mit allerhand metallischen Aufsätzen wie einer Schiene am linken Unterarm, die für eine bloße Zierleiste deutlich zu stark und scharfkantig wirkte. Daneben lag irgendwelches Riemenzeug, nietenbesetzte Lederbänder oder -gürtel, mit kleinen Taschen und breiten, verschrammt silbrigen Schlössern.
Wieder stand sein Frühstück am nächsten Morgen auf dem Esstisch. Doch er aß kaum und unaufmerksam. Nur wenige Meter neben ihm saßen Riss und seine Mutter bei Kaffee und Keksen in den Sesseln. Joschi hatte seine Mutter schon immer für recht locker gehalten. In vielen Punkten war sie deutlich liberaler als die meisten anderen Mütter, die er in Nikopol kennengelernt hatte. Dennoch war er erstaunt, wie gut sie mit ihrem Gegenüber klarkam ... ein Erstaunen, das mit Erregung verschmolz, wenn er jenes Gegenüber betrachtete ... schlank, braungebrannt, lässig in die Seitenlehnen des Sessels gehängt und mit nichts als einer halblangen, grauen Hose bekleidet.
Frauen mit nacktem Oberkörper gehörten nicht zu seinen Alltagserfahrungen. Wo sie in der Ukraine in Bädern oder Parks zu sehen waren ... inzwischen häufiger als noch vor wenigen Jahren ... fehlte ihnen immer noch das fast aggressive Selbstbewusstsein, das Riss dabei ausstrahlte.
"Und damit lässt sich Geld verdienen?" fragte seine Mutter im Ton freundlichen Interesses, als er den Raum betrat.
"Glauben Sie nicht, dass das immer so einfach ist. Die Leute, die sich Reportagen wie meine reintun, sind zwar nicht so besonders anspruchsvoll, was die Abwechslung betrifft ... und extremere Themen kann ich jederzeit ablehnen, dafür gibt es andere Kanäle ... aber ich muss mir dauernd was einfallen lassen. Wissen Sie, das mit der Interaktivität ist doch alles nur theoretischer Papp. Die meisten hängen im SenseNet, wie unsere Großeltern vor ihren Glotzkisten hockten. Die meisten, die sich so einen Partykanal reinholen, haben Probleme mit ihrer Umwelt. Oder Angst vor Menschen ... oder was weiß ich. Die wüssten gar nicht, was sie interaktiv machen sollten."
Riss jobbte als "Auge" für einen interaktiven Kanal ... Merlin-TV ... in dem weltumspannenden Datennetz, dem SenseNet, das das Internet abgelöst hatte. Die Schnittstelle war ein direkt ins Gehirn implantierter Transmitter, Bindi-Jack genannt, und konnte komplexe Sinneseindrücke übertragen. Merlin-TV bot den Nutzern die hautnahe Teilnahme an Partys und Festen aller Art ... Nutzern, die oft voller Angst vor der bedrohlichen Masse ihrer Mitmenschen in ihren komfortablen Wohnzellen saßen, statt sich real ins Getümmel zu stürzen. "Augen" ... und Ohren und Münder ... wie Riss waren ihre Stellvertreter, Voyeurismus ihre einzige echte Freude.
"Was wird denn da so von Ihnen verlangt?"
"Ach ... nichts Großartiges! Meistens rumlaufen, umschauen, hübsche Frauen und Typen ins Bild holen ... erstaunlich selten das Ansprechen ... "
"Und die Menschen machen da so einfach mit?"
"Wieso nicht? Ich hab mehrere Kurse in Interviewtechnik gemacht. Und wenn das Netz mir meldet, dass eine ausreichende Zahl von Teilnehmern mit jemandem sprechen möchte, heißt das ja noch nicht, dass ich die gewünschte Zielperson mit deren blöden Fragen vollquatsche. Die meisten freuen sich auch, wenn ich sie anspreche. Immerhin sind sie dann der Star ... für zwei, drei Minuten."
"Ist das nicht schrecklich unpersönlich ... ich meine, für Sie ... nur so mit dieser Maschine auf ihrer Schulter und ferngesteuert aus dem Netz?"
"Woher denn ... das ist ein Job, sonst nichts! Haben Sie mal alte Aufnahmen aus dem zwanzigsten Jahrhundert gesehen? Die Kameraleute damals mussten monströse Dinger mit sich herumschieben, die keine fünf Leute hätten wegheben können. Mit unserem Camset bin ich absolut beweglich ... keine Kabel, keine separate Toneinheit, kein Nachstellen von Licht, alles in-time, live, sofort und hundertpro unabhängig ... nur das reine Leben, sonst nichts! Der Unterschied zu früher ist, dass damals ein Regisseur entschieden hat, wie sich die Kameras bewegen sollten. Heute sind es die Nutzer. Oft macht da auch nur einer die 'Regie', und die anderen bleiben passiv."
"Und wenn sich dabei jemand vergisst? Von den Leuten, die Sie aufnehmen, meine ich. Betrunken ist und zu pöbeln anfängt? Oder irgendjemanden bedroht oder beschimpft? Wie reagieren Sie auf solche Menschen?"
"Zuerst einmal scann' ich das vorher. Wer schon glasig vor sich hinstarrt oder beim Kontakt sofort rumlallt, den nehme ich sofort wieder aus dem Programm. Aber Sie haben recht, manchmal merkt man erst zu spät, dass jemand nicht mehr klar ist. Oder ... das ist eigentlich das Unangenehmste ... jemand kommt mittendrin auf einen Psychotrip, will sich umbringen, heult los oder erzählt endlose Dummheiten. Wenn es interessant genug ist, muss ich das aushalten. Dann signalisieren die Nutzer meistens 'dranbleiben'. Schließlich ist es die Realität, und die Leute sind bei uns, weil sie genau das suchen ... Menschen und Erlebnisse ... aber ohne das Risiko, selbst rausgehen zu müssen. Wenn es langweilig wird, gehe ich einfach weg. Und im übrigen habe ich auch das Recht zu unterbrechen. Dann wird automatisch irgendeine Werbung reingeschnitten und, falls es länger dauert, der Dauerstream."
"Allzu oft passiert Ihnen das aber nicht, oder? Jedenfalls machen Sie nicht den Eindruck, als seien Sie eine ... hm ... unbeholfene Diskussionspartnerin."
Weshalb war seine Mutter zu Riss so ungewöhnlich zuvorkommend? Da war mehr als die Absicht, sich als guter Gast darzustellen. Valeria Silajevs normale Höflichkeit war distanzierter. So unwahrscheinlich es klang ... seine Mutter schien von Riss kaum weniger fasziniert als er selbst.
"Sie machen mir ja richtige Komplimente!" – lachend.
"Klingt das so? Nun ja ... ich finde eben, dass Sie ... wenn ich daran denke, was ich über den Westen weiß ... trotz all dieser Sendungen, wie Sie auch eine machen, ist das ja nicht allzu viel ... wahrscheinlich eher Vorurteile ... dass Sie offenbar eine ganz andere Einstellung zum Leben haben, als ich erwartet hätte ... ernsthafter, wenn ich das so sagen darf."
"Was hatten Sie denn erwartet? Dass ich ständig im SenseNet hänge und mit den Kids 'Torture-Town' spiele? Oder so was wie ein Brush-Girl, die sich mit ihren Freundinnen jeden Abend Farbe ins Gesicht bläst und in den Clubs abhängt? Aus diesem Alter bin ich lange raus. Abgesehen davon, dass mir kein Gramm Farbe in mein Gesicht kommt. Das hab' ich schon immer gehasst."
"Nein ... ja ... das vielleicht auch ... ich meine, ich habe mir natürlich nicht über Sie persönlich Gedanken gemacht, aber die Medien bei mir zu Hause in der Ukraine erwecken den Eindruck, als hätten die Jugendlichen hier andere Dinge im Sinn als eine so ernsthafte Arbeit. Wenn nicht gleich von Bandenkriegen oder wilden ... äh ... Orgien gesprochen wird, dann sind es der Konsumrausch oder diese Menschen, die ja wohl eher Ihre Kunden sind ... also, die nur noch per SenseNet mit der Außenwelt Kontakt haben und nie den Fuß vor die Tür setzen. Oder irgendwelche politischen Wirrköpfe, diese 'Dosenöffner', oder wie sie sich nennen, die die Rechner lahmlegen und den Leuten die Häuser über dem Kopf anzünden, nur um sie zu zwingen, mal einen Spaziergang zu machen."
"So falsch sehen Sie das gar nicht. Ich bin eher eine Ausnahme ... und das, was Sie da schildern, gibt es schon, und nicht zu selten. Bandenkriege und Orgien ... wir könnten jetzt, sofort, um diese Uhrzeit, im Rhein-Main-Gebiet herumfahren und Beispiele dafür finden. Und ich könnte Ihnen in der Hälfte der Fälle nicht versprechen, dass ich nicht Lust bekäme mitzumachen ... weil ich die eine Gang kenne oder die andere hasse. Oder weil bei der Orgie ... wir nennen es lieber 'Vollkontaktfete' ... interessante Leute dabei sind.
Was diese Couch Potatoes betrifft, die ihre Arbeit übers SenseNet zu Hause machen, ihre Einkäufe dort ordern und allenfalls ein paar Leute in irgendwelchen Opacas kennen ... es wird mir kotzübel, wenn ich an die denke. Es gibt Menschen hier, die haben den Rekord aufgestellt und sind seit über fünfzehn Jahren nicht mehr vor ihrer Türe gewesen ... fast so lange, wie es das SenseNet gibt. Wenn der Rettungsdienst mal so einen rausholt ... weiß wie die Wand, schwammig wie 'ne Wasserleiche ... die können hier nicht mal eine Straße hinuntergehen. Die rennen sofort in ein Auto und warten dann auf die Schnellabschaltung, weil sie glauben, sie sind im Netz. Nee, manchmal kann ich die Dosenöffner verstehen, die die Leute mit radikalen Mitteln zwingen wollen, mal wieder in einen echten Park zu gehen oder in einer echten Bäckerei ein Brot zu kaufen."
Auch Johanna und Gert Kreutzer waren im Gästezimmer in ein Gespräch vertieft, als Joschi nach dem Frühstück vorbei kam. Die Tür stand halb offen, und die beiden schienen zu glauben, allein im Haus zu sein ... oder scherten sich nicht darum.
"Vor allem stinkt es mir, dass wir Adrian oder Bianca jedes Mal erst bitten müssen!" – Johannas Stimme.
"Na, bei Adrian geht das ja noch. Aber seine Frau ... wir waren nie glücklich über diese Ehe ... meine Eltern nicht, und seine auch nicht. Aber damals war die Zeit ja schon lange vorbei, in der man irgendwen um Erlaubnis gefragt hat beim Heiraten. Und dann hat jeder gehofft, dass es nicht lange hält ... die Scheidungsraten waren da schon fast so hoch wie heute bei den sogenannten unbefristeten Verträgen. Erinnerst du dich noch an den Brief von Mutter, als wir etwa zwei Jahre unten waren ... als Bianca mal eben so ein paar Monate mit diesem Typ durchgebrannt ist ... was haben wir da alle gehofft ..."
"Du solltest doch deinen Cousin kennen! Er ist ein Träumer, ein Idealist. In dieser Familie hier haben die Frauen die Hosen an ... wenn nicht noch mehr ... wenn ich allein an dieses Mädchen denke, krieg ich schon zu viel ..."
"Allerdings. Mir fällt jedes Mal ein Stein von der Brust, wenn dieses aufgeblasene Miststück wieder verduftet. Wenn ich die schon sehe ..."
"Ich weiß, Gert, du bekommst jedes Mal Stielaugen, wenn sie ihre nackten Titten vor dir herumschwenkt ... erzähl mir doch nichts! Sie soll sich bloß von meinen Kindern fernhalten. Eigentlich will ich mich auch gar nicht mit den ganzen schmutzigen Einzelheiten hier in deiner Familie beschäftigen. Ich will hier raus ... darauf kommt es an! Du musst bei deinem Cousin endlich mal deutlicher werden. Wir müssen häufiger ins Netz! Ich nehm' ihm das auch nicht mehr ab ... dass das wegen der Zeitung nicht geht. Ich wette mit dir, dass er dort nie gefragt hat. Ein anderer an seiner Stelle hätte denen klargemacht, dass wir in einer Notlage sind."
"Red' du doch mit ihm, Joan! Du weißt doch, wie er dann reagiert! Ich soll uns auf eine Warteliste für einen dieser stinkenden Ameisenhaufen setzen lassen, dieser Wohnkomplexe ... seinen eigenen Cousin ... das ist wirklich die Höhe. Wusstest du eigentlich, dass wir uns die Einliegerwohnung abschminken können? Sobald dieser Türke da raus ist, sollen die Russen dort einziehen."
"Wie bitte? Das ist ja wohl ..."
"Ist doch klar. Die zahlen ... oder vielmehr die Firma von dem Typ zahlt. Da ist für Verwandte kein Platz mehr. Hast du mal gesehen, wie freundlich sie alle um die rum sind ... er, Bianca, dieser hochnäsige Sohn und sogar Riss ... wie sich ein Mädchen nur 'Riss' nennen kann ... dabei hat sie allenfalls einen Riss in der Schüssel."
"Moment! Jetzt erklär' mir das nochmal genau: Diese Leute ziehen also hier richtig vornehm ein, und wir leben weiterhin in diesem Taubenschlag aus unseren Koffern?"
"So ist es. Und als er mir das klargemacht hat, hockte seine holde Gattin daneben wie die Königin von Saba und passte auf, dass er sich's ja nicht noch mal anders überlegt."
Joschi spürte eine Hand auf seiner Schulter.
"Mach' dir nicht die Ohren schmutzig, Josch," flüsterte Clarissa. Ihr Griff und der Klang ihrer Stimme ließen ihn wohlig schauern. "Die wissen es nicht anders. Natürlich wollen wir sie loswerden. Aber was sie nicht kapieren ist, dass meine Eltern sie einfach rauswerfen könnten. Weißt du, Menschen sind so. Nicht alle, aber viele ... viel zu viele. Sie denken, sie wären im Recht. Sie denken, sie wären die einzigen, die wirklich zählen. Und sie halten sich für ganz normal, ja sogar für nett ... selbstzufrieden, wie sie sind ... zum Kotzen. Ich glaube, du verstehst das."
Die leicht raue, sehnige Hand auf seiner Schulter jagte Stromstöße durch seinen Körper. Er musste jetzt etwas sagen ... irgendetwas einigermaßen Intelligentes! Das war seine große Chance, das erste Mal, sie direkt anzusprechen ... mit mehr als einer unverbindlichen Floskel.
"Glaub' ... schon," presste er heraus. "Sie sind ... irgendwie ... beschränkt. Sie ... sie denken nicht an andere, ich meine, sie wissen gar nicht, dass andere Leute Dinge einfach anders sehen." Zu seiner eigenen Überraschung strömten die Worte plötzlich ... fand er es ganz natürlich, Riss in das Resultat seiner erst kürzlich entdeckten Beobachtungsgabe einzuweihen, Schicht um Schicht tiefer zu gehen in der Analyse menschlichen Verhaltens ... den glühend beglückenden Griff ihrer Hand auf seiner Schulter, im Haus ihrer Eltern flüsternd im Korridor wie Verschwörer ... oder ein geheimes Paar. "Ich glaube, die haben nie so über Menschen nachgedacht und über sich selbst, wie du das vorhin beschrieben hast bei deinem Job, wenn du auf die Leute zugehst, die du interviewen willst ... ich meine, ich stell mir das so vor ... wie das genaue Gegenteil von dem, was die da machen."
Und während er es aussprach, merkte er, dass sie so war wie er ... eine Fremde ... von Berufs wegen ... überall dabei und durch das Camset doch von allen getrennt ... einsam hinter dem Kameraauge.
"Ja, da könntest du recht haben. Doch! Das ist ein guter Vergleich ... mit meiner Arbeit das. Sie haben viel verloren ... Luxusscheiß, weißt du ... ein Haus hier, eine Hütte da, ein Apartment dort. Mein Onkel war ein großer Fisch am Golf von Carpentaria. Natürlich hätten sie dort bleiben können. Gert ist gut in seinem Job, und die Indonesier haben soviel zerdeppert, dass genug zum Aufbauen da wäre. Aber er ist feige, bequem, verwöhnt ... ein Arschloch. Meine Mutter hat sie schon angemeldet. Die wissen es noch nicht, aber in spätestens zwei Monaten sind sie draußen ... in einem wunderschönen kleinen Komplex, mit 'nem Kräutergarten irgendwo im 48. Stock und dreißigtausend netten Nachbarn."
"Könnt ihr das einfach tun?"
"Naja ... einfach ... einfach ist es nicht. Mit einem Haus dieser Größe hast Du gewisse Pflichten heute. Aber nominell wohnen die Frau von Yelmaz und meine Großmutter mit im Haus. Und wir sind ein Protec ... Du weißt, was ein Protec ist?"
"Ja."
"Es ist absolut asozial, aber um diese zwei hier loszuwerden, kann ich damit leben. Du kannst jemanden ohne Job oder eigene Wohnung erst mal vom Sicherheitsdienst rauswerfen lassen. Dann müssen sie sich über Unionsgesetz wieder reinklagen. Aber wenn du das lange genug hinziehst, haben sie keine Chance mehr, denn sie müssen ja während des Verfahrens irgendwo bleiben, und ein Hotel wäre viel zu teuer. Damit haben sie dann einen Wohnsitz außerhalb und keinen Anspruch mehr auf einen dieser Flüchtlingsparagraphen."
"Wo ist denn Deine Mamuschka?"
"Großmutter ... also die Mutter von Bianca ... lebt in einer WG in Frankfurt. WG kennst du ... Wohngemeinschaft ... das ist so ihr Stil."
"Ohne Großvater?"
"Ach, der ... der ist schon vor dreißig Jahren verschwunden. Es kam mal eine Karte aus Indien ... vor zwei, drei Jahren. Und die Eltern von Adrian leben nicht mehr. Die haben sich vor sechs Jahren umgebracht. Zwei Monate bevor Nnambala den Delta-Komplex gefunden hat!"
"Ich kenne das nicht ... Delta-Komplex. Und wer ist Nnambala?"
"Professor Nnambala ist ein Wissenschaftler aus ... Kenia, glaube ich. Er hat 2079 das Mittel gefunden, das mit dem HIV-Virus endgültig fertig wurde ... weißt Du, der Virus, der AIDS hervorgerufen hat ... eben den Delta-Komplex. Und die beiden hatten's. Sie haben nie darüber gesprochen, wo und wann sie sich angesteckt haben könnten, oder wer von wem. Es ist einfach passiert."
"Deine Arbeit, das ist toll. Ich würde das gern mal sehen ... nicht im SenseNet, meine ich ... in echt." – hörte Joschi sich sagen, und es durchlief ihn heiß und kalt von seiner eigenen Unverfrorenheit. Er wusste ja, dass es nur ein Teil der Wahrheit war, dass er Angst hatte, Riss ... sie war im Begriff, in die Stadt zurückzufahren, und Axi hatte betont, wie selten diese Besuche waren ... nach diesem kurzen, hoffnungsvollen Anfang lange nicht wiederzusehen. Er hatte keine Ahnung, was er von ihr wollte ... außer sie zu sehen, in ihrer Nähe zu sein, ihren trockenen, leicht ironischen Ton zu hören, ihren frisch-scharfen Duft einzuatmen ... so wie jetzt ... ohne die geringste Vorstellung von einem Mehr. Es war pure Anziehung, einfach so da.
"Hm ... das wird schwierig. Der Sender mag das nicht sonderlich. Und worauf du dich da einlässt, weißt du noch gar nicht. Versteh' mich nicht falsch; ich will nicht sagen, dass du zu jung bist ... aber du bist jung. Und in der Umgebung, in die ich beruflich gehe, ist das zwar nicht ungewöhnlich, aber das sind besondere Jungs und Mädchen ... Kinder von den Leuten dort ... oder die, die sich auf diese Weise durchschlagen. Außerdem fürchte ich, deine Eltern würden abkreischen, wenn sie das mitbekommen. Ich sag' dir was ... du kommst erst mal so vorbei. Mit Axi. Axi besucht mich ab und zu. Das fällt weniger auf, und ich zeig' dir dann ein bisschen was vom Leben ... offjob, ohne Camset. Du bist zwar noch ein kleiner Mann, aber du bist okay. Bleib so ... okay, meine ich."
Es sollte einige Zeit dauern, bis er Riss wiedersah. In den ersten Tagen nach diesem Zusammentreffen gab es fast keinen wachen Moment, in dem er nicht an das gertenschlanke, halbnackte Mädchen mit der überwältigenden Ausstrahlung dachte. Doch langsam drängten sich andere Gedanken in den Vordergrund. Inzwischen ging er mit Axi in die Schule. Sein Vater hatte sich in die Arbeit gestürzt. Und auch seine Mutter hatte mit Bianca Kreutzers Hilfe einen Job gefunden. Mit ihren guten Deutsch-Kenntnissen half sie russischen Auswandererfamilien half, sich zurecht zu finden.
Etwa drei Wochen später saß er in Axis Zimmer über seinen Schulnotizen und einem grausig umständlich gestalteten Ökotechnologie-Lernprogramm, als Johanna Kreutzer wutentbrannt und ohne zu klopfen hereinmarschiert kam.
"So, meine Freundchen, jetzt hab' ich endgültig die Nase voll von euch beiden kleinen Wichsern! Nicht nur, dass ich mir von meinem eigenen Neffen seit Wochen und Monaten diese Frechheiten anhören muss ... und nicht nur, dass meine Verwandten es vorziehen, sich mehr um irgendwelche Gäste zu kümmern als um ihre eigenen Angehörigen ... jetzt werden hier auch noch meine Kinder belästigt!"
Joschi saß verdattert auf seinem Stuhl und beobachtete den Auftritt der Frau eher mit irritierter Neugierde als beeindruckt oder eingeschüchtert. Mit ihren Kindern ... Antonia, Tony gerufen, war sieben, Theresa beziehungsweise Terry war neun ... hatte er bisher kaum Kontakt gehabt. Ihr Raum, ein kleines Mansardenstübchen, lag ein Stockwerk höher, und wenn sie im Garten spielten, geschah das in der "Kinderecke" am Sandkasten. Zu den Hauptmahlzeiten waren sie selten mit am Tisch. Ihre Eltern ließen sie kaum aus dem Haus und immer noch nicht in die Schule gehen ... obwohl Adrian und Bianca mehrfach angedeutet hatten, dass das Ärger mit irgendwelchen Behörden geben konnte. Offenbar wurden sie auch so weit wie möglich vom Familienleben ferngehalten ... was im Alltag wenig auffiel, da sich Adrian und Bianca unter einem Familienleben ohnehin alles andere als eine umarmungs- und sammlungssüchtige Gluckenwirtschaft vorstellten.
"Was immer ihr Euch hier einbildet, was normal ist ... oder in Russland, wo es anscheinend auch schon jede Sauerei gibt," schäumte Johanna weiter, "ich erziehe meine Kinder, wie ich es für richtig halte, und ich werde nicht dulden, dass sie von dem Schmutz angesteckt werden, den ihr hier verbreitet! Schlimm genug, dass sie jeden Tag im Garten diese lüsternen Nachbarn sehen müssen, dieses abartige 'Conglobat', wo ständig jeder mit jedem ... wie auch immer: Ich will, dass meine Kinder anständig aufwachsen. Wenn ich also noch einmal höre, dass ihr eure Perversitäten abzieht und meine Töchter damit belästigt, werde ich euch persönlich mal zeigen, was wir in Australien unter einer anständigen Erziehung verstehen!"
Joschi dämmerte, was passiert war. Vor einigen Tagen waren alle Erwachsenen zu einer Party eingeladen gewesen ... genaugenommen die Journalisten Adrian, Yelmaz und sein Vater mit Partnerinnen. Gert und Johanna hatte man ohne große Lust mitgenommen ... mit dem Erfolg, dass Gert sich am nächsten Tag lang und breit über die verkommenen Ansichten ausließ, die er bei der deutschen Presse im allgemeinen und Adrians Freunden im besonderen vorgefunden hatte.
Axi und Joschi hatten nachts im Pool gebadet ... nackend, versteht sich ... und anschließend auf einer Luftmatratze ein wenig miteinander herumgealbert ... im Dunkeln und an einer Stelle, die man vom Fenster des Mansardenstübchens gewiss nicht sehen konnte. Einmal war es Joschi vorgekommen, als ginge der Lichtschein einer Taschenlampe durchs Haus. Aber die beiden Jungs hatten Angenehmeres zu tun, als auf herumgeisternde, kleine Mädchen zu achten.
"Das würde mich jetzt aber interessieren," klang aus dem Korridor hinter Johanna die Stimme seines Vaters auf – laut und mit einem zornigen Unterton, den er bislang nur ein- oder zweimal in seinem Leben gehört hatte. "Was verstehst du denn unter australischer Erziehung? Ich will doch wohl nicht annehmen, dass du gerade versuchst, meinen Sohn zu bedrohen!"
Sein Vater schob sich in den Türrahmen ... massig und konfrontationsbereit. Johanna wich einen Schritt zurück, weiter in den Raum hinein.
"Dein Sohn soll es lediglich unterlassen, meine Kinder zu belästigen."
"Tut er das? Tust du das?"
Joschi schüttelte langsam den Kopf.
"Er tut es nicht," stellte sein Vater mit nun wieder ruhiger Stimme fest. "Was soll also dieser Auftritt?"
"Ja, du glaubst ihm natürlich sofort. Frag ihn doch mal, was er so treibt ... mit diesem sauberen Knaben, der mein Neffe sein soll ..."
Joschi saß wie erstarrt. Natürlich hatte er keine kleinen Mädchen belästigt. Aber was er mit Axi getan hatte, würde sein Vater vielleicht auch nicht gut heißen.
"Jetzt bist du hier, und da du hier Beschuldigungen erhebst, fordere ich dich auf, es selbst zu erklären. Hier und jetzt!"
"Das wirst du kaum wollen ... dass wir hier über diese ... diese ... Sachen reden, die sich meine Kinder anschauen müssen ... wie diese ganzen Sauereien hier überall ... diese Nackten und Perversen ..."
"Jetzt hör mir mal gut zu! Ich respektiere deine Probleme. Und wie du deine Kinder unter eine Glasglocke steckst, ist das auch deine Sache ... obwohl es in meinen Augen unverantwortlich ist, Kinder auf diese Weise einzusperren und von der Außenwelt fern zu halten. Aber was immer du und die armen Kleinen zu sehen bekommen haben ... gewöhn dich besser an den Gedanken, dass es dasselbe Existenzrecht hat! Wenn mein Sohn und Adrians Junge ... ich kann mir denken, worum es geht, und ich halte es für völlig harmlos ... wenn die beiden sich gern haben und ein bisschen was ausprobieren, dann sollen sie das von mir aus! Meinen Segen haben sie.