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Kapitel I – 2091

"Joschi!"

Es war die Stimme seiner Mutter, deutlich trotz der Entfernung und des Quietschens der Schaukel. Nein, er wollte nicht antworten, noch nicht ... nicht den Schwung unterbrechen, das kribbelnde Fliegen und Sausen ... streichelte die Luft des Frühsommers über seine nackten Arme und Beine und durch das dünne Hemd auch den Oberkörper. Kräftig packten seine Hände zu, trieb der Körper die Schaukel zu neuem Schwung, wurde das Quietschen kurz, hoch. Er legte sich weit zurück, Beine und Oberkörper fast waagrecht, den Kopf in den Nacken. Das Blut strömte ins Hirn. Eine umgekehrte Welt schwang mühelos um ihn, der Himmel, die Wohnblocks, die Baumkronen, die Stämme, der Rasen, Stämme, Kronen, Häuser, Himmel Häuser Bäume Rasen schwangen im Rausch, auf und ab ... drehende, verkehrte, vergessene Welt. Er verschaukelte sich. So nannte er das. Schwang im Rausch ... er verstand es nicht, tat es einfach. Die Bemerkungen der Leute hatten ihn schon vorsichtig gemacht. Je wichtiger der Rausch ihm wurde, desto mehr achtete er darauf, dass es keinem auffiel.

Obwohl er mit fast fünfzehn nicht nur nach Ansicht seiner Eltern zu alt für den Spielplatz war, sahen sie ihn lieber dort als bei den Älteren, die sich auf dem großen Parkplatz des Supermarkts an der Electrometalurhiva Straße mit ihren Skates, Bikes, Monoflacs tummelten ... und mit Mädchen.

Ja, Joschi wusste, dass er anders war. Lieber schaukelte, als ernst und wichtig bei seinen Altersgenossen zu stehen. Er war kein Kind mehr. Spätestens die letzte Nacht hatte ihm das gezeigt, und Svenja. Svenja mit ihren kleinen, feuchten Händen, ihren hastigen Küssen, ihrem unbeholfenen Tasten und Forschen. Ein leiser, heimlicher und dennoch endgültiger Abschied von der Kindheit. War das dieses Gefühl, das man 'Liebe' nannte? Es war sehr schön gewesen, doch nichts, was ihn vor Sehnsucht sterben ließ ... oder wie das immer beschrieben wurde. Himmel, Wohnblocks, Bäume, Rasen, Wohnblocks, Himmel, Wohnblocks, Bäume ...

"Joschi!"

Das war deutlich in der Nähe. Hastig richtete er sich auf. Er ahnte, dass seine Mutter die Traumstellung mit hinten herabhängendem Kopf nicht gutheißen würde. Neugierig schaute er ihr entgegen. Er hatte keine Idee, weshalb sie ihn suchen kam. Zeit fürs Abendessen war noch lange nicht, eingekauft hatte er erst gestern mit ihr, und Ärger in der Schule hatte es auch keinen gegeben.

"Joschi. Da bist du ja. Hätt' ich mir denken können. Du und deine Schaukel ..."

Er antwortete nicht, ließ sich langsam ausschwingen und blickte ihr entgegen.

"Komm! Du musst mitkommen ... nach Hause. Vater ist da. Und wir haben eine Überraschung für dich."

Er rutschte von seinem Sitz, ging ein paar Schritte auf die Mutter zu. Um welche Überraschung es sich handeln mochte, schlecht war sie nicht ... er kannte dieses Funkeln aus feuchten Augen. War etwa Katja überraschend zu Besuch gekommen, seine Cousine aus Odessa? Seine Mutter wusste, wie sehr er an ihr hing. Odessa war ein anderer Bezirk als Nikopol. Vielleicht hatten sie dort schon Ferien. Seine Mutter zog ihn in die Arme.

"Oh, ich freu' mich ja so ..." - fast stöhnend und eher zu sich.

"Äh ... ja, auf was denn?" fragte er verwirrt.

Soviel Erregung ... und sein Vater zu Hause ... das bedeutete mehr als einen überraschenden Besuch.

"Es ist eine Ehre für mich. Und es wird ein Abenteuer ... für uns alle," sagte sein Vater.

Joschi hätte seinen Vater gerne umarmt. Er liebte seinen Vater ... die Größe, die Wärme, die Verlässlichkeit, gerade in diesem Moment und mit dieser Nachricht auf den Lippen. Doch anfassen ließ er sich nicht mehr von ihm, seit Jahren schon nicht. 'Du bist kein Kind mehr, und Männer umarmen sich nicht,' hatte sein Vater ihm erklärt. Und die Großmutter meinte dazu, das sei damals, vor hundert Jahren, mit dem Stalinismus zu Ende gegangen. Im Stalinismus hätten sich Männer immerzu umarmt, und immer aus den falschen Gründen.

Joschi hätte sich jetzt gerne an ihn gedrückt ... um ihm seine Freude zu zeigen, auf ganz natürliche Weise und ohne die schalen Worte, die Erwachsene dazu immer benutzten ... und um sein Zittern zu dämpfen, aus Freude und Angst ... denn plötzlich lag ein ungeheurer Schritt vor ihm, der Sprung in eine ferne Welt ... so fern, dass ihm klar war, es würde nachher keine Verbindungen, kein rasches Zurück mehr geben.

Es ging nach Deutschland, in eine Stadt namens Frankfurt, das mächtige Finanzzentrum der Europäischen Union. Sein Vater war Wirtschaftsjournalist des Kiewer Wirtschaftsmagazins Economía, Redaktion Nikopol ... und nun ihr Korrespondent in Frankfurt. In zwei Monaten würden sie umziehen.

***

Für den Moment hatte Joschi den Trennungsschmerz vergessen. Er kroch förmlich in das kleine Fensterchen, starrte hinab auf das Märchenland ... die nächtliche Metropole fing ihn mit ihren Lichtnetzen, schimmernde Adern und Knoten, zähflüssig auf den großen Straßen, brodelnde Lichtkessel über Plätzen ... Frankfurt war nicht Moskau, Tokio, London oder Sao Paulo, doch es war eines der Zentren der Europäischen Union, und wurde oft fast jeden Tag in den Nachrichten genannt ... Wirtschaft, Finanzen, Unruhen, Kulte, Messen, Muzzik, Acions klangen mit Frankfurt im Ohr. Die Stadt selbst, so hatte er erfahren, war nicht sonderlich groß ... kein Vergleich zu Dnjepropetrowsk, Charkow oder gar Kiew. Doch das ganze Gebiet um Frankfurt war eine dichtbesiedelte Stadtlandschaft, ein Menschenpferch von zweihundert Kilometern Durchmesser ... und eine Region Europas, die nie unter den Verheerungen des Stalinismus hatte leiden müssen.

Die zitternde Vorfreude auf tausend Wunder hatte sich dem Kummer zugesellt, als er erfuhr, dass die Familie praktisch ihre ganze Habe zurücklassen musste. Die schicke Dienstwohnung in einem der neuen, riesigen Wohnkomplexe war für die Zeitung nicht mehr bezahlbar. Der neue Korrespondent musste mit seiner Familie zur Untermiete bei einem Freund seines Vorgängers einziehen.

Der Flughafen von Dnjepropetrowsk, die moderne Illjuschin Il 522, das Essen und die Sprache der Stewardessen waren neu, interessant, doch gleichzeitig vertraut gewesen. Je näher sie dem Märchenland kamen, umso häufiger folgten den weichen russischen Durchsagen einige Sätze mit knallenden und knarrenden Lauten ... Deutsch, das er kaum verstand und das er noch einen geborenen Deutschen hatte sprechen hören. Selbst die deutschen Nachrichten im Web-Kanal wurden von Ukrainern gelesen. Als er nun aus seinem Flugzeugfensterchen starrte, wunderte er sich kurz darüber, wie wenig diese krachende Sprache und die Schönheit dort unten zusammenpassten.

Es war elf Uhr abends ... eine halbe Stunde Wartezeit über dem Flughafen, kreisend in einer langsam sinkenden Spirale, genug Zeit, sich alles anzuschauen ... das unregelmäßige Lichtnetz mit seinen Ketten und Knoten, die Autobahnen weiß und rot in gegenläufigem Fluss, die hellen orangenen Achsen und Ballen, gleißend weiße Blasen, Schriftzüge in allen Farben an kolossalen Quadern, grünliche Flecken wie leuchtender Schimmel und immer wieder Wände aus lichtgelben Pünktchen, die Komplexe, die im Süden bis zu ihrer Flughöhe zu reichen schienen ... tiefer sank das Flugzeug in das Lichtbad, Einzelheiten wurden erkennbar ... so dicht der Verkehr auf den Straßen ... Joschi fragte sich, ob diese zehn Millionen Menschen noch alle unterwegs waren um diese Zeit ... eine harte Kurve zog die Türme der Frankfurter Innenstadt vor sein Blickfeld. Und dann ging es wie im Fahrstuhl abwärts, hob ihn hoch aus dem Sessel in seinen Gurt, kreischte und pfiff ... moderne Verkehrsflugzeuge landeten und starteten fast senkrecht, ein Muss in einer Welt, in der 11 Milliarden Menschen keinen Platz für lange Einflugschneisen vor den Städten ließen.

Am Boden brach das Chaos über sie herein. Durch eine Umleitung im falschen Terminal gestrandet ... einem, das sein Vater nicht kannte ... ein Alptraum aus überfüllten Korridoren, Passagen und Plätzen, ein Gebäude, das ganz Nikopol verschluckt hätte. Musik hämmerte in den Magen, von allen Seiten, dröhnend aus kleinen Kugeln, die gefährlich wirkende Jugendliche und selbst Kinder um den Hals trugen. Bettler aller Hautfarben und Stadien des Elends streckten ihnen die Hände entgegen oder, was sie statt einer Hand nutzten ... vielfach verstümmelte Opfer der zahllosen Kämpfe, Banden- und Bürgerkriege. Die deutsche Polizei schien es nicht zu kümmern, gesichtslose Viererstreifen in Uniformen wie Kampfroboter.

Geschoben, geknufft, betäubt rettete sich die Familie in eine Nische. Ein dunkler, bärtiger Mann mit einem lachsfarbenen Turban verschloss gegenüber ein kleines Blumengeschäft. Der Vater sprach ihn an ... auf Deutsch und Englisch, der Mann schien Inder zu sein ... doch Russisch war die Sprache, die er am besten verstand.

"Das Info-Zentrum der ukrainischen Fluglinie? Das ist im Terminal P. Aber das finden Sie nie. Ich bring' Sie hin ..."

"Das ist doch nicht nötig. Zeigen Sie uns nur ..."

"Doch, doch, es ist kein Problem. Erklären kann man das schlecht ... und es sind schon Menschen verloren gegangen in diesem Flughafen ..."

"Oder wir rufen unseren Freund aus, der uns abholen wollte ..."

"Hören Sie."

"Wie bitte?"

"Nein, hören Sie! Hören Sie irgendetwas?"

"Nein ... nur den Krach überall."

"Eben! Vergessen Sie das mit dem Ausrufen, und kommen Sie. Es ist kein Umweg für mich."

Noch einen Kilometer ging es durch das Gewühl, dann hinab, über lange Rolltreppen, durch schabend aufgleitende Glastüren ... zu einem kleinen Bahnhof, in dem eine Glaskabine mit Sitzen wartete.

"Die Skyline," erläuterte der Inder. Und, ohne Häme: "Schon diesen Bahnhof hätten Sie wahrscheinlich nie gefunden. Sie sehen, wie wenig hier los ist. Viele Leute kennen die Skyline nicht. Und die Hinweisschilder werden so oft von Banden überklebt, um Fremde in Fallen zu locken, dass die Verwaltung sie alle abgeschraubt hat. Die Leute, die hier im Gebäude leben, kommen auch gar nicht hier durch, denn man braucht ein Flugticket oder eine Arbeitskarte, um damit zu fahren."

Elektrobetrieben lautlos glitten sie durch Licht und Dunkelheit, Kilometer um Kilometer, mit Menschen aus allen Ecken des globalen Dorfs ... schulterlang wehende Mähnen afrikanischer Adeliger, glitzernd in Schmuck ... Amerikaner in bonbonfarbenen Sackanzügen, den Körper weich und bauschig vom Hals bis zu den Knien verhüllt ... die Gesichter Europas in allen Tönen, Frauen und Männer kaum zu unterscheiden, unter bunten Mützen, Ballonkappen und Hüten der vorherrschenden Mode, konservativ bunt und androgyn ... und ein paar ebenso geschlechtslos eckige Gestalten in der martialisch eleganten Uniform der Unionsstreitkräfte. Joschi hatte Info-Sendungen und Nachrichten immer fleißig verfolgt, hatte keine Mühe, die Typen und ihre Herkunft zu identifizieren.

"Nennt mich Adrian!" bat der große, schlanke Mann die Familie. Er hatte die ganze Zeit ... es war inzwischen nach Mitternacht ... geduldig vor den Schalten der Fluglinie gewartet. Adrian Kreutzer, der Freund des Vorgängers, bei dem sie wohnen sollten. Joschi mochte ihn vom ersten Moment an. Das offene Lächeln, die kräftigen Hände, die ohne Zögern zwei ihrer Koffer ergriffen, der geschmackvoll ruhige, rostfarbene Anzug ohne schrille Kontraste ... weckten Vertrauen, wirkten menschlich, nicht halb so fremd wie der endlose Bienenstock, durch den sie in der vergangenen Stunde gestolpert waren.

"Pogirev hat euch hoffentlich erzählt, dass es zunächst bei uns etwas beengt zugehen wird. Mein Cousin und seine Frau sind vor dem indonesischen Bürgerkrieg aus Australien geflohen und wohnen ebenfalls bei uns. Aber keine Sorge, ihr kommt schon unter. Wir haben in der Wohnung im Souterrain erst mal ein Zimmer freigemacht, und Joschi kann bei unserem Sohn schlafen. Im Augenblick wohnt unten noch ein türkischer Kollege. Aber er geht in ein paar Wochen in die Türkei zurück. Daher haben wir ihn eingeladen, bei uns zu bleiben, obwohl ihr die Souterrainwohnung bekommen solltet. Yelmaz ist ein lieber Kerl ... und wir hätten ihn buchstäblich auf die Straße setzen müssen. Aber ihr werdet sehen: Yelmaz ist der letzte, der euch irgendwelche Umstände macht."

Adrians Deutsch war sehr klar und fast so weich wie das eines Ukrainers. Sie hatten sich, das Gepäck teilweise auf den Knien, in Adrians kleines Auto gequetscht, ein knubbeliger Toyota, nun selbst ein weißes oder rotes Doppellicht für andere Fluggäste.

Joschi war nicht auf einem anderen Planeten. Die Gestalten im Flughafen hatte er schon hundertmal im Web-TV gesehen. Sensationell war das unmittelbare, reale Dabeisein ... und die Ahnung erfüllbarer Wünsche, verschwommener Träume, die ihn in letzter Zeit oft hatten unruhig schlafen lassen ... hier, im Hexenkessel einer Unionsmetropole, weit entfernt von dem immer noch ein wenig steifen, geordneten Leben der ehemaligen stalinistischen Sphäre. Ebenso geläufig waren Joschi die Umstände, die den Cousin oder Herrn Örgün in Adrians Haus gebracht hatten. Die Welt war ein kleines, überfülltes Dorf. Ein Ereignis wie der indonesische Bürgerkrieg setzte sofort Millionen Flüchtlinge in Bewegung ... in diesem Fall auch wieder in Richtung Deutschland, woher viele der australischen Bürger stammten. Daher waren nun jede Wohnung, jedes Haus, sogar die gigantischen, bis zu siebzig Stockwerke hohen Wohnkomplexe bis zum Bersten gefüllt. Selbst ein Türke hatte keine Chance, eine bezahlbare Unterkunft zu finden, wenn er nicht mit einer der wohlhabenden alémantürkischen Familien verwandt war.

Leise summte der elektrisch angetriebene Kleinwagen durch die lichte Großstadtnacht, gesteuert vom Autopiloten und den Rechnern des Verkehrsleitsystems.

Adrian wendete sich direkt an Joschi: "Ich habe einen Sohn in deinem Alter ... etwa. Vierzehn und ein paar Monate. Er hat sogar einen russischen Namen, Alexander, aber wir nennen ihn Axi. Er freut sich darauf, dass du bei uns einziehst. Er hat schon überall für dich Platz gemacht."

"Ist er ... einzeln?" fragte Joschi in holperigem Deutsch.

Adrian lachte.

"Nein, er ist kein Einzelkind. Axi hat eine Schwester ... Clarissa. Sie ist siebzehn. Aber Du wirst sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie wohnt zwar noch bei uns ... offiziell ... und wenn sie mal zu Hause schläft, müssen Du und Axi zusammenrücken; in Ihrem Zimmer schlafen die Kinder meines Cousins ... aber das kommt selten vor. Meistens schläft sie bei ihrer Freundin in Frankfurt."

Joschi fragte nicht weiter. Ohne recht zu wissen weshalb, war ihm warm geworden bei dem Gedanken, dass ein Mädchen im Alter seiner Cousine Katja zu dieser Familie gehörte.

Kreutzers bewohnten eine fast zweihundert Jahre alte Villa in einem Vorort von Frankfurt. Joschi hatte noch nie ein so weitläufiges und gleichzeitig so verwinkeltes Privathaus kennengelernt. Moderne Villen in Nikopol waren klare, offene Konstruktionen mit wenig festen Trennwänden. Natürlich kannte er auch die alten, pompösen Bonzenhäuser der Oberstalinisten. Aber die waren düster und öde. Noch ältere Häuser gab es praktisch nicht mehr. Sie waren im Stalinismus meist so verkommen, dass man auf Renovierungen verzichtet und sie zum größten Teil längst abgerissen hatte.

Joschi war erst nach zwei Uhr ins Bett gekommen ... das obere eines stabilen, breiten Doppelstockbetts. Doch schon um zehn Uhr morgens war er wieder wach. Er fand einen Zettel ... russisch, in der Handschrift seiner Mutter. Die Eltern waren mit Kreutzers in die Stadt gefahren, um einige Formalitäten zu erledigen. Der Zettel wies ihm den Weg zu Bad und Küche und informierte ihn, dass Axi vermutlich im Garten auf ihn wartete. Joschi fand seine Sachen und das Bad. Er zog sich ein T-Shirt und eine kurze Hose über und ging hinab, um Axi zu suchen.

Nach Adrians Ankündigungen hatte er instinktiv erwartet, in ein kleines, dunkles, überfülltes Haus zu kommen ... mit Kisten voller Flüchtlingshabe auf allen Gängen und trocknender Wäsche in den Zimmern. Doch hier war von Überfüllung, gar Dunkelheit keine Spur. Räume und Möbel waren durchweg in hellen Farben gehalten. Alle Türen und die meisten Fenster standen offen. Sonnenlicht strömte in das große, helle Haus ... und dahinter ein stetiges Summen von der nahen Durchgangsstraße. Es war jetzt schon sehr warm; ein heißer Sommertag kündigte sich an. Auf dem großen Esstisch an einem Ende des Wohnraums stand ein Krug mit Milch, ein Topf mit einer roten Marmelade ... "Erdbeere Acerola" entzifferte er, was immer das sein sollte ... und ein Korb mit frischen Brötchen ... davor Teller und Trinkbecher und ein weiterer Zettel, "Willkommen bei uns, Joschi" in einer geschwungenen Handschrift, vielleicht der von Adrians Frau.

Ein halbes Brötchen mit Marmelade in der Hand trat er auf die Veranda hinaus. Vor ihm ... eine Rasenfläche, links eine Hecke aus dichtem Nadelgehölz, dahinter ein Gemüsegarten ... rechts ein Sandkasten und - eine Schaukel! Zwei kleine Kinder spielten an dem Sandkasten, vermutlich die Töchter des Cousins. Joschi trat ein paar Schritte vor. Weiter unten auf dem Rasen war ein großes Badetuch ausgebreitet. Darauf lag ein Junge und las ... schlank, etwa in seiner Größe, kurze, schwarze Haare, sonnenbraune Haut ... Joschi blinzelte in die Helligkeit ... und splitternackt. Der Junge bemerkte ihn, bevor Joschi sich entschließen konnte, dieses anscheinend intime Sonnenbad zu stören.

"Hallo! Du bist wach. Wart' einen Moment. Ich komme."

Er steckte ein Lesezeichen in das Buch, sprang auf und kam, nackt wie er war, auf Joschi zu, streckte ihm die Hand entgegen ...

"Schön, dass ihr da seid. Hast du gut geschlafen? Und deine Sachen gefunden ... da war ein Zettel ... aber ich seh's ja ... und sag mir, wenn ich zu schnell spreche."

Dazu bestand allerdings Anlass, denn Axis Worte sprangen und sausten wie eine Gerölllawine. Joschi selbst brachte zunächst nur ein mühsames deutsches "Guten Tag" heraus. Er war verwirrt. Er hätte nicht sagen können, was ihn am meisten verunsicherte ... die Nacktheit des anderen, die ungewohnte Sprache oder dieses Gefühl, sich in einem seltsam deutlichen Traum zu bewegen.

Seiner Blöße maß Axi jedenfalls keinerlei Bedeutung bei. Freundlich und mit geduldigen Wiederholungen erklärte er Joschi, was er über das Haus und seine Bewohner wissen sollte ... und störte sich auch nicht im Geringsten an dessen Starren und Stottern. Im Adamskostüm leistete er Joschi beim Frühstück Gesellschaft, führte ihn durch Haus und Garten und half ihm, im gemeinsamen Zimmer seine Sachen unterzubringen.

"Ich kann dir auch schon mal die Umgebung und den Weg zur Schule zeigen," schlug Axi schließlich vor. "Du kannst doch Fahrrad fahren?"

"Ja, klar," antwortete Joschi.

"Ich muss vorher nur die Fenster zumachen und den Kids Bescheid sagen."

"Und ... Anzug," rutschte es Joschi heraus.

"Wie? Nochmal ..."

"Ich ... ich sagen will ... dass du so ... nicht gehen. Hinaus," stotterte Joschi und spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss.

"Ach ... anziehen! Klar, du bist ja auch angezogen ... es würd' hier in der Gegend nix ausmachen, aber bis zur Schule, da hast du recht. Also gut, einen Moment noch."

Während überall im Haus die Fenster klappten und Jalousien quietschten, stand Joschi verdattert am Fuß der Treppe in der Diele. Dieser Junge hätte sich tatsächlich nackt aufs Fahrrad gesetzt, um ihm die Umgebung dieses Hauses zu zeigen!

Joschi spürte etwas von ganz tief unten in sich aufsteigen, ein dumpfes Ziehen. Angst war es nicht. Und an die Nacktheit des anderen Jungen hatte er sich nach fünf Minuten gewöhnt. Doch allein die Andeutung der Möglichkeit, nackt eine öffentliche Straße hinunter zu radeln! Instinktiv war ihm klar, dass Axi kein ausgefallener Spinner war oder ihn mit solchen Vorstellungen aufziehen wollte. Er benahm sich sonst völlig normal, zumindest nach dem Maßstab, den Joschi bei einem Jungen seines Alters in diesem Land anlegen mochte. Nein, es war das Gefühl der Fremdheit, das ihn zum ersten Mal überfiel ... einer abgrundtiefen Fremdheit: Das Wetter war warm genug, also lohnte sich das Anziehen nicht. So einfach war das. Joschi schluckte.

Nach einer Stunde Radfahrt machten sie Pause im alten Kurpark. Sie saßen am Rand einer weiten Wiese im Schatten eines Gebüschs. Mit einem dicken Kloß im Hals beobachtete Joschi die allgegenwärtige Nacktheit. Im Zentrum des Städtchens waren es nur einige kleine Kinder gewesen, die nackt am Brunnen vor einem Ladenzentrum spielten ... und einige Männer und Frauen mit bloßem Oberkörper vor einem Café in der glühenden Sonne. Doch in diesem Park mischten sich Bekleidete und Unbekleidete in beinahe gleicher Zahl, Kinder und Jugendliche ebenso wie jüngere Erwachsene. Nur die Älteren ... zumeist Kurgäste, wie Axi meinte ... beschränkten sich auf nackte Sonnenbäder, und trugen auf Wegen und Straßen leichte Freizeitkleidung. Vor allem der Anblick der Frauen ließ Joschis Herz höher schlagen und verschaffte ihm eine schmerzhafte Dauererektion. Jeden Moment rechnete er damit, dass sein Samen von allein in die Unterhose schoss. Kaum wagte er, sich dort anzufassen, sein Glied wenigstens etwas zur Seite zu schieben.

"Toll ist es, ja!" beantwortete er mühsam eine entsprechende Frage seines Führers. "Aber auch komisch. Fast wie bei uns ... und trotzdem anders."

"Na, logisch! Ihr habt ein anderes Klima, 'ne andere Kultur. Weißt du, Frankreich zum Beispiel ... die sind mit uns von Anfang an in der Union gewesen, also schon fast 150 Jahre. Damals hattet ihr noch dreißig Jahre Stalinismus vor Euch. Also ... sogar in Frankreich spürst du heute noch, dass Einiges anders ist als bei uns ... nicht nur die alten Häuser oder die Namen, mein' ich. Obwohl mein Vater immer sagt, Frankreich habe seine ganze Identität verloren."

"Franzosen ... kenn' ich gar keine. In unserer Siedlung haben keine gelebt. Vielleicht irgendwo anders in Nikopol, aber nicht in Gagarin Park. Aber ich glaube, das kann man gar nicht vergleichen ... weil ... also zum Beispiel wie ... wie die Menschen hier laufen ... das ist nicht möglich ... in der Ukraine."

"Wie die Menschen laufen?"

"Ja ... die die ... Kleider ... ohne ..."

"Ah! Jetzt kapier' ich das! Ja ... mein Vater hat so was erwähnt ... dass ihr das nicht kennt. Obwohl, angefangen hat das bei euch auch schon. In den Parks von Kiew oder Charkow gibt es doch genügend Nackte."

"Ja ... in Kiew oder Charkow ..."

Joschi hatte in den Nachrichten davon gehört ... von dieser verrückten Mode aus dem Westen der Union, von der man annahm ... hoffte ... dass sie bald wieder abklingen würde.

"Bei uns hat es genauso angefangen ... ein paar Leute in den Parks von ein paar großen Städten. Und es gibt auch in Deutschland noch genügend öde Gegenden, wo sie höchstens mal nackt baden gehen. Hat dein Vater Euch eigentlich nicht erzählt, wie es hier so ist? Er war doch schon zweimal da. Aber ... bei uns ist wahrscheinlich so vieles anders als bei euch, dass es kaum eine Rolle spielt."

Joschi kam der Gedanke, dass sein Vater vielleicht wegen seiner Mutter den Mund gehalten hatte. Vielleicht wäre sie nicht mit dem Umzug einverstanden gewesen, wenn er sie darauf vorbereitet hätte, dass ihr hier auf der Straße leicht ein nackter Mann begegnen konnte. Oder ihm eine nackte Frau. Seine Mutter stammte aus einer ländlichen Region, in der man Nackte höchstens aus den Medien kannte, die offiziell nie jemand anschaute.

Das war also sein Abenteuer: Nackte in aller Öffentlichkeit, das Chaos auf dem Flughafen oder die noch unbekannten Geheimnisse der großen Stadt. Er würde sich daran gewöhnen müssen, ganz normal zu reagieren ... er konnte schließlich nicht den ganzen Sommer über zur Seite schauen. Doch es würde schwierig werden ... besonders bei den gutaussehenden Mädchen.

Abends saßen sie an dem großen Esstisch ... er mit Axi, mit dem er den ganzen Tag unterwegs gewesen war ... seine Eltern, erschöpft in irgendwelche Papiere vertieft ... Adrians Cousin mit Frau und Kindern. Adrians Frau war in Frankfurt unterwegs. Adrian und Yelmaz bereiteten in der Küche das Abendessen vor. Ein zusätzlicher freier Stuhl erregte Joschis Phantasie. Clarissa wurde zum Essen erwartet. Joschi war mehr als gespannt, nachdem Axi allen Fragen über seine Schwester mit einem "Wart's ab" ausgewichen war.

Yelmaz Örgün war ein freundlicher Mann, schlank, kleiner als Adrian, mit kurzen, eisgrauen Borstenhaaren und einem tiefschwarzen, dichten Schnauzbart. Joschi fiel auf, dass er überall im Haushalt mit anpackte ... und das in bester Laune ... während Adrians Cousin und dessen Frau sich wie Hotelgäste benahmen ... unzufriedene, mürrische Hotelgäste. Sie trugen ihr Schicksal so demonstrativ vor sich her, dass es Joschi sofort aufgefallen war ... obwohl es so schrecklich nicht war, verglichen mit dem der meisten von den 300 Millionen Elends- und Kriegsflüchtlingen überall auf der Welt. Es ging ihnen nicht schlecht, sie benahmen sich schlecht.

"Die ärgern sich doch nur schwarz, dass sie so aufs Maul gefallen sind," hatte Axi ihm erläutert. "Du hättest mal die Sprüche hören sollen, die sie in den Mails oder am Telefon immer d'rauf hatten. Australien sei ja soo schön ordentlich und sauber und sicher ... und wir dagegen mit unserem Schmutz und unserer Unmoral und bla."

"Unmoral?"

"Na, zum Beispiel, du hast doch die Nachbarn links gesehen heute morgen auf ihrer Terrasse. Drei Männer, fünf Frauen. Sie leben zusammen als Conglobat. Eine Mehr-Personen-Partnerschaft. Schlafen auch alle miteinander. Die gibt es in Europa überall, auch bei euch. Sind alle total in Ordnung, nur eben nicht monogam. Du hättest mal hören sollen, was Johanna deswegen für einen Aufstand gemacht hat! 'Unzucht' und 'Perversionen' seien das ... und das vor den Augen ihrer Kinder! Männlein und Weiblein wild durcheinander! Das war ein Auftritt ..."

"Glaub ich. Sowas Idiotisches! Was arbeitet dein Onkel eigentlich?"

"Gute Frage. Er is' Ingenieur, irgendwas mit Bauarbeiten. Angeblich sucht er Arbeit. Aber Ansprüche hat der ... wir haben keine Million Quadratkilometer Wüste zum Zubauen wie in Australien. Aber statt sich was Vernünftiges zu suchen, träumt er von irgendwelchen bombastischen Großprojekten, mit denen er das bisschen Landschaft hier zubetonieren will. Die haben dort wie hinterm Mond gelebt. Kein Mensch in Deutschland plant mehr solche Großprojekte. Aber nach Süden oder zu euch will er auch nicht, wo sie ab und zu noch so große Sachen wie Autobahnen oder künstliche Städte planen."

"Und seine Frau? Hat die einen Beruf?"

"Die und arbeiten? Sie meint, sie hätte das nicht nötig. Weißt du, in Australien konntest du gut leben, wenn dein Partner Ingenieur war ... mit Haus und Hausmädchen und allem ... aber nicht hier. Wenn du bei uns nicht alleine lebst, aber nur einer was verdient, dann läuft nicht mehr viel. In Deutschland reicht ein Einkommen vielleicht gerade für die Wohnung, die Schulden und Versicherungen und ein bisschen was zu essen. Was glaubst du, wo wir heute alle säßen, wenn meine Eltern dieses Haus nicht geerbt hätten? Und trotzdem arbeitet meine Mutter an der Uni."

"Das Leben ist hier ... sehr schwierig?"

"Na, schwierig ... ich meine, man kann auch anders leben, aber ohne Geld ... hast du nichts als Probleme. Und du landest ganz schnell im Dreck. Wenn du erst mal 'ne schlechte Adresse hast, hast du keine Chance mehr. Wenn sie bei uns heute einen guten Job vergeben, schauen sie nach, wo du wohnst. Und wenn deine Kosten zu niedrig sind, bekommst du den Job nicht, weil sie befürchten, dass du zu unabhängig und Ärger machst. Oder dass du asozial bist."

"Die Menschen hier ... es geht ihnen aber gut. Ich habe heute niemanden gesehen, der ... asozial ist. Aussieht."

Joschi verstand Axi inzwischen schon recht gut; nur mit dem Formulieren in der verzwickten deutschen Grammatik hatte er seine Schwierigkeiten.

"Na klar! Obwohl es egal ist. Ghetto bleibt Ghetto, auch wenn es bei Bad Homburg gerade anders herum ist."

"Ghetto? Das ist doch hier kein Ghetto!"

"Na was'n sonst? Nur eben eine andere Art ... aber, sag mal ... du weißt das überhaupt nicht? Klar, es hat dir ja auch keiner erzählt, und an den Sperren waren wir heute nicht. Ganz Bad Homburg ist ein Ghetto. Zu. Geschlossen. Ein Protec. Ein 'protected area'. Das gab's früher nur in Amerika, bei Wohnsiedlungen ... aber seit etwa zehn Jahren auch bei uns. Bad Homburg war mit das erste. Um die ganze Stadt läuft ein Zaun ... hübsch verkleidet als Gebüsch oder Schallschutzwand, überall mit Kameras und Bewegungsmeldern. Es gibt Kontrollen an den Toren, und wenn sie Verdacht schöpfen und dich nicht überprüfen können, bleibst du draußen."

"Kontrollen?"

"Nach illegalen Drogen oder Waffen. Natürlich darfst du eine Waffe besitzen, aber dann muss deine Karte in Ordnung sein. Hast du den flachen, grauen Kasten bei Vati im Kofferraum gesehen? Da ist ein Riot Booster d'rin, irgendwas mit Schalldruck. Macht viel her, aber gegen die großen Gangs in Frankfurt hätte er keine Chance."

"Und die ganze Stadt ist ... eingesperrt?"

"Du meinst 'abgesperrt'. Eigentlich nicht, denn natürlich hat jeder das Recht, sich frei zu bewegen. Aber du brauchst für Orte wie Bad Homburg eben einen Grund. Praktisch läuft das so, dass sie dich am Tor filzen und fragen, wo du hin willst. Dann sagst du zum Beispiel 'zur Therme' oder irgendein Geschäft, und du kannst durch. Rückfragen machen sie erst, wenn deine Karte nicht in Ordnung ist, oder du wirklich übel aussiehst."

In diesem Moment kam Yelmaz aus der Küche ... freundlich lächelnd, eine volle Schüssel Salat in den Händen, gefolgt von ... Joschi durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag ... es musste Clarissa sein! In der Familie wurde sie "Riss" gerufen. Joschi wusste vom ersten Augenblick an, dass dieses scharf klingende Wort besser zu ihr passte als "Clarissa".

Eindeutig. Sie glich ihrem Vater ... eine jüngere, weibliche Ausgabe von Adrian. Schlank, sicher eins achtzig groß, mit etwas eckigen Schultern, kräftig wirkenden Armen, in der Hüfte nur halb so breit wie Katja, nur den Hauch einer Brust unter einem weich fallenden Hemd ... verwirrend die stoppelkurzen, schwarzen Haare auf dem hohen Schädel ... verwirrend das Gesicht, Adrians Gesicht, mit hoher Stirn und eigenartigen, harten Linien, der kühl belustigte Blick vor allem über den blassen Cousin und seine Familie ... ein verächtliches Lächeln um die Augenwinkel, das freundlicher wurde, als sie ihn und ihren Bruder ansah.

Sie war keine zweite Katja. Dennoch besaß Riss alles, was Joschi an Katja schon immer fasziniert hatte ... Figur, Haltung, Bewegungen, Ausstrahlung ... in hoch konzentrierter, fast schmerzhaft unmittelbarer Form. Diese Frau ... Joschi dachte nicht einen Moment daran, sie als Mädchen zu bezeichnen ... war nichts von dem, was Frauen laut der erfahrenen Meinung seiner Altersgenossen oder ihrer Väter zu Hause in der Ukraine angeblich auszeichnete. Katja hatte sich auch immer gegen solche Vorstellungen zur Wehr gesetzt.

Riss. Joschi sah sie vor sich, die altklugen Jungmachos aus seiner Schule und Nachbarschaft, wie sie verstummt wären unter diesem Blick. Da war Kraft und Selbstbewusstsein in einer Form, wie Joschi sie nie zuvor bei einer erwachsenen Frau gespürt hatte, geschweige denn einer Jugendlichen, nur wenig älter als er selbst ... Selbstbewusstsein bis in die Spitzen der Bürstenhaare, verteilt mit lässigen Gesten, die sich Raum nahmen wie beim Helden einer Actionserie ... ja, wie bei einem Mann ... und eine unterschwellige Bedrohlichkeit. Eine Ahnung stieg in Joschi auf, wie die Welt da draußen beschaffen sein mochte, die eine solche Haltung ermöglichte ... oder notwendig machte. Plötzlich spürte er ein heftiges Wühlen in seinem Bauch, das gewiss nicht vom Hunger kam.

Taken by Berlin

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