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ОглавлениеKapitel II – 2139
Flammenschein über Berlin. Klatschnass sind seine Kleider, in der Hitze der Nacht ... der Verband an seinem Arm, das T-Shirt, die Hose. Ein Jackett gibt es längst nicht mehr, nicht mehr seit Würzburg ...
***
"He, Silajev, bist du wach?" sprach ihn eine rau kratzende Stimme an. Sein Sarg öffnete sich in die Dunkelheit. Davor ... er hatte um Bewusstlosigkeit gefleht, endlos ... im Dröhnen und Mahlen von Maschine und Rädern, in dem jeder Ton im Lärm versank, in eine Ausschließlichkeit ohne Klang. Irgendwann ... seine Uhr leuchtete nicht ... ein Wunder, dass sie sie ihm gelassen hatten ... oder kein Wunder, denn seine Entführer waren Nazis, und die ... fast lächelte er bei diesem Gedanken in seinem Sarg ... waren meistens dumm ... irgendwann war es tatsächlich Nacht geworden. Er blickte aus dem Kasten an zwei Köpfen vorbei auf einige glitzernde Sterne. Diese Nacht war so hell, so absurd leicht und ruhig, war Leben, Wiedergeburt.
"Er hat die Augen offen," sagte eine zweite Stimme. Eine Frau.
"Er rührt sich aber gar nicht" – noch eine Frau.
"Ist er etwa hin?"
"Quatsch. Er schnauft doch wie'n Lufttauscher. Der is' über dein nettes Gesicht so entzückt ..."
"Ich geb' dir Gesicht."
"Jetzt helft ihm mal da raus. Der muss 'nen Schreck weghaben. – Junge, Junge, du hast ja gewaltig die Hosen voll!"
Er hatte die Hosen voll. Schon seit dem Überfall. Von vier unheimlichen Müttern wurde das Baby zur Welt gebracht. Er stöhnte auf, als eine ihn am rechten Arm anhob. Sie war nicht grob. Sie fasste einfach ganz normal zu, aber er war verletzt. Später verstand er, dass diese Wunde, aufgerissen an einer scharfen Kante seines Autos, ihm den Verstand gerettet hatte ... ein leise sickernder Schmerz als einziges Gegengewicht zur Hölle dieser Fahrt. Wer je auf den Gedanken gekommen war, die Hölle als große Höhle mit hellen Feuern und offenen Kesseln zu schildern, war ein optimistischer Träumer. Vorsichtig hoben sie ihn nun aus dem Kasten. Nicht überraschend. Schließlich hatten sie ihn kaum entführt, um ihn jetzt gleich umzubringen.
Trotz dieses beruhigenden Gedankens ... mit diesen Frauen in groben, grauen Hosen und schwarzen Stiefeln und ihren nackten Oberkörpern stimmte etwas nicht! Doch mehr als eine leise Ahnung war der Gedanke nicht. Vorerst war Joschi dabei, sein Bewusstsein zu verlieren vor Erleichterung ...
***
"Wo sind wir?"
"Falkensee" – Toms einsilbige Antwort.
"Sicher?"
"Mann, sei kein Arschloch, Silajev. Wenn ich irgendwas weiß, dann, welche Strecke ich fahre!"
"So ... meinte ich das nicht. Ich meinte unsere Sicherheit. Ist es hier gefährlich?"
Helles Feuer beleuchtete den Himmel vor ihnen. Wie von Flammen. Er deutete nach vorn, durch die mückengepflasterte Windschutzscheibe des Kleintransporters.
"Also, für so einen Superpolitiker aus Straßburg stotterst du ganz schön rum. Was sollte uns denn hier gefährlich werden?"
"Nun, ich denke, wer solche Feuer macht ..."
"Feuer?"
"Na da vorn. Da brennt doch was."
Für ihn fahren sie in ein unbekanntes Land. Fantasien. Ein Ort am Ende des Regenbogens. Mit dem Widerschein eines Flammenmeers am Himmel ...
"Silajev, du bist echt 'ne Marke. Das ist Flutlicht!"
***
Als er zum zweiten Mal zu sich kam, war er im Himmel. Ein kühler, gemauerter Raum, die Wände roh verputzt, über seinen Füßen ein Kruzifix ... trocken, sauber, fast ausgeruht lag er bequem auf einem schmalen Bett. Sein Engel hockte seitwärts auf einem uralten, abgeschabten Sessel. Der Engel sah aus wie eine junge Frau. Die Beine in schwarzen Hosen und Stiefeln hatte sie über die Armlehnen gehängt. Ihr nackter, magerer Oberkörper wurde von einem Paar kräftiger Brüste geziert. Das Gesicht war jung, aber früh verwittert, darüber wild stoppelige, schwarze Haare. Sie las.
Noch bevor er sich regte, fiel ihm die Ahnung wieder ein: Nazis lasen nicht. Nazis ließen Frauen nicht ihre Gefangenen unter fröhlichem Frotzeln aus einer Tarnvorrichtung heben. Und Naziweibchen sahen auch anders aus ... puppenhaft oder brutal, doch nie wie herbe Engel, hart und freundlich zugleich. Er schaute hinüber. Der Engel blickte auf ... mit warmen, dunklen Augen in dem jungalten, herzförmigen Gesicht.
"Biste wach?"
Er nickte leicht. Sagen konnte er nichts. Man sprach einfach nicht mit Engeln. Das Kruzifix, die Klosterzelle ... was war hier los? Allmählich begann sein in den Büros und Konferenzräumen von Straßburg geschulter Geist wieder zu arbeiten. Er sah, wo er war, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen. Nazis hatten ihn entführt ... eine große und gut organisierte Truppe. Das war mehr, als irgendjemand sonst in dieser Region hätte aufbringen können ... soweit es seine Leute wussten, also die Regierung des verkommenen Hinterhofs, der sich immer noch stolz Europäische Union nannte. Das waren nicht nur ein paar verkleidete Typen gewesen. Sie hatten echte Waldleute dabei gehabt ... die sich niemandem unterordneten, aber ab und zu mit den Nazis zusammenarbeiteten.
Doch hier war dieser Raum, eine Klosterzelle. Was hatte die Kirche ... kläglicher Rest einer Organisation, die immer noch an den Jüngsten Tag glaubte, obwohl der längst tausendfach eingetreten war ... von einer Aktion wie seiner Entführung ... gar mit den Nazis als Handlangern? Das passte nicht ... so viel glaubte man in Straßburg zu wissen. Und dazu diese Frauen! Weder bei der Kirche noch bei den Nazis gab es solche Frauen. Man hörte Gerüchte über Kampfnonnen in den neuen Sekten, die kurz nach der Großen Katastrophe entstanden waren. In Südamerika. Die Vorstellung war absurd, dass eine solche Truppe nach Europa eingesickert sei und nun mit den Nazis hier gemeinsame Sache machte. Nein, da stimmte etwas nicht! Andererseits ... was war absurder als sein Schicksal, die Entführung eines Europäischen Rates?
"Haste Hunger?" Und, als er nicht reagierte ... "Oder Durst?"
"Ja" – heiser.
"Na prima."
Sie stand auf, nahm von dem Tisch neben sich eine Blechflasche und einen Becher. Dann beugte sie sich über ihn, richtete ihn auf und stützte ihn, damit er trinken konnte. Im ersten Moment hatte er ihre vollen, runden Kugeln bewundern wollen, die so dicht vor ihm umherschwangen. Doch dann merkte er, dass er fast zu schwach zum Trinken war. Er trank ohne einen weiteren Gedanken an den Anblick. Eine Frau mit nacktem Oberkörper war schließlich nichts besonderes. Er trank und sank wieder zurück auf sein Lager.
"Noch müde?"
"Nein, es geht" – mühsam.
"Es ist kein Problem. Wenn du dich nicht fit fühlst, lass ich dich in Ruhe."
"Und sonst?"
"Sonst sag ich Bescheid. Dass du munter bist."
"Bescheid? Wem sagen Sie ... Bescheid?"
Im ersten Moment hatte er sie duzen wollen, doch dann siegte die Konvention. Ihr Duzen klang jedenfalls nicht herablassend, nicht wie die beiläufige Provokation einer Entführerin, die sich daran weidete, ihr Opfer ungestraft zu demütigen. Die knorrige Tür da drüben war vermutlich verschlossen. Dennoch hatte er nicht das Gefühl, bei Feinden zu sein. Bei Fremden vielleicht ... sehr Fremden sogar ... aber nicht bei Feinden.
"Meinen Leuten. Susie."
"Wer ist das? Wer sind Sie?"
"Ah, du wirst munter!" – plötzlich sehr trocken. "Aber lass schwingen. Es bringt nix. Dir passiert nichts, aber die Ansage ... darauf musst du noch warten. Echte Ansage darf ich keine machen."
"Weshalb?"
"Nur so. Susie will es selbst tun."
"Wer ist Susie?"
"Sum, Joystick, sum herum ... keine Ausfrage! Erspar's uns einfach. Bist du jetzt hungrig?"
"Nein. Danke. Geben Sie mir noch einen Becher ... bitte. Und dann sagen Sie Bescheid. Wem auch immer."
Sie gab ihm zu trinken und sagte Bescheid. Dann verblüfften sie ihn zum ersten Mal.
***
Verblüfft schaut er Tom neben sich an.
"Oder hast du gedacht, wir beleuchten unsere Stadt mit Fackeln?" – Tom.
"Nein, aber ... Flutlicht ... das hatte ich nicht erwartet."
"Du willst mich verladen."
"Nein, bestimmt nicht! Ich wusste ... niemand weiß, dass es in Berlin so viel Strom gibt."
"Silajev, halt' eine Frau nicht zur Närrin! Gut, wir lassen euch hier nicht allzu viel rumschnüffeln, aber ihr habt eure Spione. Ganz zu schweigen von den chinesischen Satelliten."
"Die ... ha!" Inzwischen duzt Joschi seine androgyne Fahrerin doch: "Glaubt ihr etwa, die Chinesen lassen uns ihre Satellitenbilder sehen? Das wäre zu schön ... die Triaden zeigen uns ihre Fotos von Europa! Nein, nein, damit ist schon lange Schluss. Die Brasilianer mussten letztes Jahr für ein paar Monate alte Fotos drei Container voll seltener Mineralien nach Shanghai schicken."
"Siehst du, das ist einer der Gründe, weshalb du hier sitzt. Aber ihr habt doch auch eure Spione überall in der Zone. Wir haben denen schon so oft die Hosen runtergezogen, dass wir allmählich glauben, wenn wir sie alle wegschicken, sind wir unterbevölkert."
"Diese Spione ... Nachrichtenleute ... ich weiß ja immer noch nicht, wer ihr wirklich seid, aber ihr wirkt wie jemand, der seinen Gegner kennt. Genau kennt. Nachrichtenleute sind aus der Mode. Es gibt sie noch, das ist richtig. Irgendwer ist immer da, der sie braucht, um besser schlafen zu können. Aber im allgemeinen wirken sie so beeindruckend wie die Heilsarmee. Niemand liest diese kleinen, wichtigtuerischen Berichte."
"Und da wisst ihr nicht einmal, dass es in Berlin elektrischen Strom gibt?"
"Offenbar. Zumindest nicht, dass es für Flutlicht reicht. Aber woher kommt diese Menge Strom?"
"Ah, selbst ein kleiner Möchtegern-Spion, was?"
"Nein, ich bin einfach nur neugierig. Sag's mir oder lass es bleiben."
"Hast du schon mal das Wort 'Fusion' gehört?"
Er erstarrt. Vor ihnen heben sich Rampen, Brücken, Verwicklungen aus hell beleuchtetem Beton ... riesig wie Ruinen eines untergegangen Imperiums, träumend von früherer Größe ... das Spandauer Tor am 2. Ring. Der Himmel ist orange wie damals. Licht, keine Flammen ... nicht die Fackeln der ersten SA, der brennende Reichstag, die Stadt im Bombenhagel, nicht die Brände von Kreuzberg, Marzahn, Klein-Ankara während der Ghettokriege, nicht die lodernden Kiefernwälder der Mark aus der Zeit der Großen Katastrophe ... Flammen der Beschämung, Flammen eines Feuers, das ... wie man in Straßburg, Damaskus oder Brasilia glaubt ... nur noch die Chinesen entzünden können.
"Ich kann's nicht glauben! Ein Europäischer Rat ... und weiß nicht, dass Berlin seit fast sechzig Jahren über funktionierende Fusionsreaktoren verfügt!"
"Ich weiß." Joschi hat feuchte Augen. "Es ist ... eine Art von Schwäche. Wir können nicht mehr richtig denken. 'Die Zone ist die Zone, und damit Schluss' ... das ist die Haltung bei uns. Es kommt niemand mehr auf die Idee, zu überprüfen, ach was, darüber nachzudenken, was es anderswo gibt ... in den Gebieten, mit denen wir nichts mehr zu tun haben wollen. Afrika, Indien, Russland ... nichts. Dabei spüre ich langsam, weshalb ihr mich geholt habt. Die Jüngeren bei uns können nicht einmal mehr das Problem erkennen: Europa ist groß', sagen sie. 'Und uns geht's doch noch gut!' Dann starren sie wie gebannt nach China, ohne einen Finger zu rühren. Und freuen sich wie die Kinder, wenn mal ein Bröckchen unter den Tisch der Triaden fällt."
"Mensch, Silajev, Du wirst ja richtig melancholisch."
"Wenn wir uns schon duzen ... nenn mich Joschi, bitte."
"Ach, Silajev ... nimm's mir nicht übel, aber nicht auf die Tour! Ich werd' mich nicht hier auf der Berliner Heerstraße mit dir verschwistern, kurz hinter dem Spandauer Tor. Nee nee. Lassen wir's bei Silajev. Oder denkst du, ich heiße wirklich Tom?"
"Ich weiß seit fünf, sechs Tagen nicht mehr, was ich denken soll."
"Dann entspann dich noch ein bisschen. Wir sind fast da, und ich schätze, du wirst ne ganze Menge zu denken bekommen in nächster Zeit."
***
"Wir sind keine Nazis," versicherte Susie ihm.
Susie war fast zwei Köpfe kleiner als er ... eine fröhliche, energische Frau Mitte Dreißig, mit schulterlangen, blonden Krauslocken, einem ironischen Zug um die Mundwinkel und einer rechten Braue, die sich wie mit einem eingebauten Kulissenzug dramatisch hob und senkte ... gekleidet wie alle in die Pseudouniform aus groben, dunkelgrauen Stoffhosen und festen, hoch geschnürten Kampfstiefeln. Oben trug sie ... Joschi war unklar, ob als Zeichen ihres Ranges oder aus praktischen Gründen ... eine ärmellose Weste, die ein gut bestücktes Materiallager zu enthalten schien. Die Weste war offen, und darunter war Susie ebenfalls gut bestückt. Doch Joschi war nicht in der Verfassung, sich davon ablenken zu lassen.
"Was denn sonst!" antwortete er heiser und ohne rechte Überzeugung.
Er glaubte es selbst nicht mehr. Doch er wollte etwas über diese Frauen erfahren ... zu viert standen sie in der kleinen Klosterzelle um ihn herum ... und sein leicht provozierender Unglaube schien ihm dazu momentan die beste Taktik. Sie war auch die einzige, die ihm in seinem Zustand einfiel.
"Wir sind keine Nazis. Glaub's oder lass es. Außerdem" – die Braue stieg – "du weißt das auch."
Das saß. Der Politprofi erwachte nun vollends in ihm und warnte ihn, diese Frauen wie gewöhnliche Bürgerinnen der Union zu behandeln. Sie waren fremd ... weit fremder, als er der äußere Eindruck glauben machte. Doch Verstellung gehörte zu seinem Handwerk. Er bemühte sich, irritierter und ahnungsloser zu wirken, als er war. So verrieten sie ihm vielleicht vor lauter Ungeduld mehr, als wenn sie ihn für ein schlaues Kerlchen hielten.
"Gar nichts weiß ich!" fuhr er auf. "Ich bin von einer Horde Nazis entführt worden. Ich wurde misshandelt und eingesperrt. Meine Begleiter wurden bestialisch und ohne Gnade ermordet. Oder wollen Sie das etwa leugnen? Haben Sie die Nazis nur als Helfer benutzt? Oder stecken Sie mit denen sowieso unter einer Decke?"
"Nichts davon! Oder sehen wir so aus, als hätten wir so eine Sauerei anrichten müssen, um uns einen wie dich zu holen?"
"Also, Frau Susie, ich durchschaue vielleicht nicht, was hier gespielt wird. Aber ich bin entführt worden, das steht wohl fest! Und nun stehen Sie hier vor mir, und ich bin gewiss nicht freiwillig hier, das steht ebenfalls fest. Wobei ... was Sie Sauerei nennen, nenne ich brutalen, feigen Mord ... doch ohne diese Morde wäre auch niemand, ob Nazi oder nicht, an mich herangekommen."
"Glaubst du" – die trockene Antwort.
"Susie, bitte!" klang eine raue Stimme auf.
Joschi hatte sie schon beim Öffnen seines Sarges gehört. Zuerst dachte er, es sei ein Mann ... jemand, den sie Tom nannten. Doch Tom war eine ... allerdings sehr männlich wirkende ... drahtig schlanke Frau.
"Schon gut," fuhr Susie fort. "Wir haben dich, um es mal so zu sagen, den Nazis entführt. Abgejagt. Und genauso elegant hätten wir dich auch sonst wo rausgeholt ..."
"Obwohl auch bei uns ein Nazi abgejuckt is'," warf seine freundliche Pflegerin der ersten Minuten respektlos ein.
Sie schienen eine feste, eingespielte Truppe zu bilden, und Susie war die Anführerin. Sonst konnte Joschi nichts entdecken, was sich mit herkömmlichen militärischen Umgangsformen vergleichen ließ. Sie standen neugierig, zwanglos und gleichberechtigt um sein Bett, und jede sagte, was sie für richtig hielt.
"Ein Nazi!" Tom machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ein Söldner, ein Soldat, ein Büttel. Ich sag' nicht, dass er kein Mensch war ... aber ein Mensch mit dem Job, seine Eier hinzuhalten. Wenn Kämpfer sterben, ist das kein Berufsrisiko. Es gehört zu dem Beruf dazu! Ich meine, Kandy, das wissen wir doch selbst auch am besten ... dass Kämpfen ein Scheißjob ist. Man muss es manchmal machen, aber man darf es nicht verklären ... sonst sind wir rasch wieder auf dem Weg zurück in die Hölle der letzten Jahrhunderte ... als Kämpfen was Heroisches und Erhabenes war, weil es so schön tot macht."
"Tom, Du redest schon wie Mütze und die anderen Weiber aus der Zentrale," meinte Susie. "Aber wir sollten jetzt erst mal unseren Gast versorgen, bevor wir uns zum Strümpfestricken hinhocken."
Kandy und die vierte Frau im Raum ... sie war älter als die anderen, vielleicht Mitte vierzig, breit und überaus kräftig, kriegerisch mit einer langen, weißen Narbe auf der rechten Brust ... bogen sich vor Lachen, und Tom, keineswegs gekränkt, grinste mit ihnen über den Insiderwitz. Joschi fand daran nichts Lustiges, dafür aber umso mehr Informatives: "Die anderen Weiber aus der Zentrale" ... er wusste immer noch nicht, wie Nazis, Kirche und diese Weiberzentrale zusammenhingen. In seinem Inneren nahm er den Frauen die zweite Entführung ab, auch wenn er weiter den Ungläubigen spielte.
"Gast?" hakte er vorwurfsvoll nach. "Wollen Sie etwa behaupten, ich kann mich jetzt verabschieden, den Raum durch diese Türe verlassen und unbehelligt nach Hause fahren?"
"Joschi Silajev, mach uns nichts vor. Wir wissen, dass man nicht Jahrzehnte in den heiligen Hallen von Straßburg überlebt, weil man so nett und naiv ist. Wir haben nichts Unangenehmes mit dir vor, aber behalten werden wir dich. Für eine gewisse Zeit zumindest."
"So. Mich behalten! Haben Sie sich eigentlich schon einmal überlegt, was es heißt, einen Mann meines Ranges festzuhalten? Selbst wenn ich einmal annehme, dass Sie mit den Nazis tatsächlich nichts zu tun haben ... dass Sie mich, aus welchen Gründen auch immer, sozusagen befreit haben ... sieht das die Unionspolizei sicher anders. Ich schätze, dass seit dem Massaker auf der Autobahn mindestens zwölf Stunden verstrichen sind. Und selbst wenn es weniger wären ..."
"Spar dir die Mühe. Wir kennen die Arbeitsweise eurer Bullen. Aber wo sie nix wissen, könn'n sie nich' pissen."
"Wie bitte?"
"Also Klartext: Die suchen dich wie verrückt ... mitten in einem Ameisenkrieg aus etwa drei aufgestörten Haufen: den Unions-Nazis, den Waldleuten und den freien Nazis. Verstehst du ... alle sind fest davon überzeugt, dass die anderen dich haben. Mit uns rechnet keiner von denen. Und eure superschlauen Bullen sitzen mittendrin in dem Bandenkrieg, den sie gerade um deinen hübschen Hintern führen. Und zwar nicht nur hier im Unionsgebiet. Du könntest überall sein. Im Toten Land, im Kaukasus, in Mazedonien ... such dir's aus."
"Raffiniert, zugegeben. Doch spätestens sobald Sie Ihre Forderungen stellen ... wer immer Sie eigentlich sind, unsere Analytiker werden es wissen ..."
"Oh Kind ohne Mutter! Du verstehst es einfach nicht!"
Susie feixte, die anderen grinsten. Er selbst war mit sich zufrieden. Ihm war sofort klar gewesen, dass eine so ungewöhnliche Befreiung andere Gründe als gewöhnliche Erpressung haben musste. Seine Methode schien zu funktionieren. Bis Tom sich einmischte.
"Schluss jetzt!" meinte die Frau, die wie ein Mann aussah. "Er braucht es auch nicht zu verstehen! Oder er versteht es in Wahrheit recht gut. Joschi Silajev, du weißt fürs Erste genug. Du bleibst bei uns und begleitest mich in Kürze auf einen kleinen Ausflug. Es gibt ein paar Leute, die sich mit dir unterhalten wollen ... nein, nein, nicht ausfragen oder foltern, nur reden. Im Gegenteil, du wirst vielleicht mehr zuhören als selbst reden. Das ist alles, was man von dir will. Und den Ärger mit den Bullen oder den Nazis ... wo immer da der Unterschied ist ... überlass uns!"
Tom wandte sich um und ging zur Türe. Sie klopfte drei Mal dagegen, dann wurde von außen aufgeschlossen. Tom ging hinaus, und die anderen Frauen folgten ihr, Kandy als letzte. Unter der Türe blieb sie stehen und wendete sich zu ihm um.
"Schlaf jetzt noch ein bisschen, wenn du kannst," meinte sie. "Und wenn du was brauchst, klopfst du an die Tür wie sie eben."
"Einen Moment. Bitte!" rief er.
Sie hielt inne und schaute ihn an. In diesem Moment erschien neben ihr eine fünfte Frau ... glatte, kurze, rostrote Haare, ein weiches Mädchengesicht, in beeindruckendem Kontrast dazu ihr großer, kräftiger Körper. Sie war gekleidet wie die anderen, ihre Haut blass, die kleinen, festen Kegel ihrer Brüste besprenkelt mit Sommersprossen. Aus einem Halfter an ihrem Gürtel ragte der klobige Griff einer schweren, modernen Schusswaffe. Auch sie schien nicht die geringsten Bedenken zu hegen, ihm ihr Gesicht zu zeigen. Waren diese Frauen alle lebensmüde? Oder ... ihm wurde heiß bei dem Gedanken ... hatte sie einen Grund, sich vor jeder Verfolgung sicher zu fühlen? Wer konnte die Entführung eines Europäischen Rates wagen, wenn nicht aus purer Dummheit wie die Nazis? Die einzig wirklich Mächtigen auf dieser Welt waren die Triaden ...
"Was is'?"
"Nur eine Frage. Wohin soll dieser Ausflug führen?"
"Sei nicht so neugierig, Herr Rat," erwiderte Kandy.
"Sie erwarten doch, dass ich Ihnen zuhöre. Später. Nun, wenn Sie soviel Wert darauf legen ... ich höre jetzt schon zu."
"Also gut. Aber" – todernst, doch mit der Andeutung eines Grinsens – "verrat's keinem! Nach Berlin."
***
Berlin.
"Komm, entspann dich, Mann. Wir haben's geschafft."
Tom kurbelt ihre Seitenscheibe hinunter. Ein um ein Winziges kühleres Lüftchen weht in die stickige Fahrerkabine des kleinen Transporters ... ein 87er VW mit Biospritantrieb, der auf der langen Fahrt durch zwei feuchtwarme Nächte den Angstschweiß seiner Geschichte ausgedünstet hat ... ergänzt durch Joschis eigenen ... und vermutlich den von Tom. Die Fahrt durch die Ausläufer des Toten Landes ist für niemanden ein Spaziergang. Auch Joschi kurbelt, streckt den Kopf hinaus. Seit sie in der Zone sind, trägt er nur eine leichte Fußkette.
"Wie lange noch?"
"Was?"
"Wie lange fahren wir noch?"
"Jetzt, um Mitternacht, kommen wir gut durch. Zwanzig Minuten."
"Weshalb 'jetzt'?"
"Du stellst Fragen. Weil in ein, zwei Stunden wieder dicker Verkehr kommt. Nichts im Vergleich zu früher, aber Berlin is' immer noch 'ne Großstadt. Im Zentrum kann's schon mal Staus geben. Das Leben findet eben nachts statt ... wegen der Hitze."
In der Nähe der Havel ist die Luft noch eine Spur angenehmer. Tief atmet Joschi durch, den Kopf weit aus dem Fenster gereckt. Der Verkehr wird langsam dichter ... kleine, leichtgebaute Ein-, Zwei- und Viersitzer, offene Gestelle mit Wasserstoffantrieb, Sitzen und Gepäckkorb ... genug für den Stadtverkehr. Rechts flackert unter Bäumen ein Feuer ... malerische Gestalten, nackt oder mit zerlumptem Wenig, bewegen sich darum.
"Was ist das?"
Er deutet nach draußen.
"Das Feuer? Ach, nur so ein altes Ritual. Wo sind wir ... Pichelswerder ... Punks, Trekkies, Neonics, einfach Leute, die gerne unter Bäumen an einem Feuer beisammen hocken und saufen."
"Obdachlose?"
Tom bläst die Backen auf, legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel.
"Joschi Silajev! Tu uns beiden einen Gefallen und vergiss dein Straßburger Speicherplattendenken, wenn es um Berlin und Berliner geht. Hier macht jeder einfach, was er will. Solange er nicht das Arschloch spielt. Es macht denen einfach Spaß, da gemeinsam am Feuer zu sitzen. Glaubst du ernsthaft, eine Stadt für fünf Millionen Einwohner, in der noch etwa 200.000 leben, hätte ein Wohnungsproblem?"
"Nein, sicher nicht. Aber ... ich geb's ja zu: Wir wissen nichts über diese 'Zone'. Ein paar vereinzelte Nachrichten, Straßburger Gassengerüchte ... über ein Gebiet im Toten Land, das ich für so tot gehalten habe wie den Rest. Woher soll ich da wissen, welche Art Leute es hier gibt ..."
"Eben. Du bist dir Tatsache bewusst, dass du keine Ahnung hast. Aber dann siehst du oranges Licht und denkst, hier sei alles kaputt und würde brennen. Ich versteh' das nur zu gut ... bei der Mentalität eurer Leute würd' es vielleicht brennen. Oder du siehst Leute um ein Feuer und glaubst, es sei Abschaum." Tom spricht schneller und lauter. "Aber ich reg' mich auf ... das bringt dir auch nichts. Sei einfach still und beobachte! Mehr erwartet hier keiner von dir."
Tausend Dünste, Geräusche, Bilder wehen durch die heiße Nacht ... eine Gruppe sitzt auf alten Stühlen im Kreis am Straßenrand. Der Verkehr stockt, auch Tom muss anhalten. Der Wagen vor ihnen ist direkt neben der Gruppe stehengeblieben, die Leute darin sprechen mit denen im Kreis, Getränke werden hin und her gereicht. Joschi bleibt stumm ... beobachtet das familiäre und doch so fremde Treiben. Überall ist Licht ... hinter den Fenstern .. sogar Seitenstraßen sind durchgehend beleuchtet ... auf ein paar Tischen wird Essen verkauft am Kaiserdamm, dahinter der Sattelzug einer Agrarkooperative vom Stadtrand ... Menschen spazieren, essen, unterhalten sich mitten auf der Fahrbahn. Vorsichtig steuert Tom den Transporter über die belebten Straßen ... vorbei an Menschen in bunten Fetzen, Netzen, nichts ... einige tragen nur etwas Schmuck, befestigt an allen erdenklichen Stellen des Körpers ... oder einen Gürtel mit ein paar kleinen Taschen daran.
Sie kommen nur im Schritttempo vorwärts. Ständig laufen Menschen ohne jedes Zögern direkt vor den Transporter. Tom flucht leise vor sich hin: "So ein Mist! Ich hab' den Hinweis noch gesehen und nicht beachtet. Am 3. Ring. Wir hätte abbiegen können. Aber da ich so gerne mittendurch fahre ... vor allem, wenn ich vorher monatelang weg war ... musste ich unbedingt hier durch. Mann! Silajev, kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist ... nach fast einem Jahr ... als Mann unter Nazis auch noch ... wieder hierher zu kommen? In freie Luft. Zu Menschen, bei denen du dich nicht verstellen musst?"
"Du hast als Mann unter Nazis gelebt?"
"Ja."
"Doch nicht meinetwegen? Oder doch?"
"Du bist ein schlaues Bürschchen, Joschi Silajev ... immer darauf aus, den Detektiv zu spielen! Ja, es hatte letzten Endes was mit dir zu tun. Jedenfalls damit, deinen Bürokratenarsch zu retten. Aber geplant war das so nicht. Ich hab' Felderkundung gemacht, ganz allgemein. Der Plan ... den haben die Nazis anscheinend selbst ausgebrütet. Wir wollten anders an euch 'ran ... und nicht jetzt schon. Aber lass dir das von Mütze erklären! Sie ist der Boss bei uns hier."
***
Er war zu Tode erschöpft, doch an Schlaf war nicht zu denken. Wie fühlte man sich, wenn man zu einem Ausflug auf einen fremden Planeten eingeladen wurde? Nachdem seine Angst abgeklungen war, hatte ihn ernsthafte Neugierde gepackt. Aber es war nicht die Reaktion der bedrohten Geisel, die sich mit den Tätern identifiziert. Berlin lag in einer Zone, war ... vermutlich ... ihre Hauptstadt ... einer fast vergessenen Enklave, abgetrennt von Europa während der Großen Katastrophe durch die Willkür der sich aufbäumenden Natur ... begrenzt im Süden und Osten durch das Tote Land, im Norden und Westen durch die Ostsee und den großen Elbebusen. Was war dort? Irgendwann vor 200 Jahren war es schon mal für einige Zeit ein eigener Staat gewesen. Jetzt war es Sumpf oder Dschungel oder Steppe ... die neue Landkarte der Erde war voller weißer Flecken.
Joschi Silajev war Mitglied des Führungsgremiums der ... neben dem Reich der Mitte ... am besten organisierten Gemeinschaft auf diesem Planeten. Und er hatte keine Ahnung, wie es unmittelbar jenseits der Grenzen seines Landes aussah! Er erinnerte sich, dass diese Zone, das Tote Land und viele andere Gebiete nominell zur Union gehörten. Regelrechte Grenzen waren nach der Katastrophe nie gezogen worden. Man beanspruchte, was man eben beanspruchen konnte und was bewohnbar war.
Äußerlich ruhig lag er auf dem Bett. Über den frappierenden Informationsmangel nachzudenken, lenkte ihn von der Erinnerung an die Entführung ab, dem Massaker, der Angst, der Folter der Fahrt in dem verschlossenen, flachen Kasten. Doch er war ehrlich zu sich. Er begann, sich auf dieses Abenteuer zu freuen! Und wenn er schon ehrlich war: Diese Frauen faszinierten ihn. Sie waren von der Art, die ihn schon immer fasziniert hatte. Sie hatten Energie, Humor, Lebenslust, Ausstrahlung. Sie hatten alles, was man heute bei Menschen nicht mehr fand.
Er selbst stand in der Europäischen Union an der Spitze einer Macht, die nur noch Ohnmacht war. Die Macht über ein Gräberfeld. Er hatte retten, aufbauen wollen, doch die Große Katastrophe war auch jetzt noch stärker ... heute nicht mehr das große Sterben, das völlige Umkippen der Natur des ganzen Planeten in eine lebens- ... nein ... menschenfeindliche Welt ... doch sie hatte auch den Überlebenswillen verändert. Die Natur hatte den Menschen satt. Je nach Rechnung 10, 20, 30 Jahre pausenlosen Sterbens. Einer rapide um sich greifenden Unbewohnbarkeit. Vollzug des jüngsten Gerichts. Keine Urteile mehr, nur noch Hinrichtungen.
Die Überlebenden und die wenigen, die noch geboren wurden und aufwuchsen, waren anders. Es gab keine Zukunft mehr, keine Hoffnungen oder Pläne. Die Restmenschheit lebte auf Abruf ... auf einem Planeten, der sich einmal unter ihr kurz geschüttelt hatte. Die Menschen brauchten keine Regierungen mehr. Es gab nichts mehr zu regieren. Sie hatten sich aus Gewohnheit eine Repräsentanz geschaffen, zu der sie aufschauen konnten. Regierung war ... das galt für alle übrig gebliebenen Regierungen außer vielleicht der des chinesischen Reichs ... ein musealer Akt, ein historisches Possenspiel in schlechten Kopien teurer Kostüme.
In Straßburg war er wichtig ... ein unentrinnbares, lähmendes Schicksal, verbrämt mit einem Schein von Macht. Er wusste seit langem, dass er dort nur noch unglücklich war. Hier war er Opfer, Geisel, machtlos ... und dennoch war hier etwas, das er dreißig Jahre lang vermisst hatte. Er fühlte sich wohl bei diesen Frauen ... ja, befreit. Nicht nur aus den Händen der Nazis, sondern befreit auch von dem traurigen Geschäft, das Sterben der menschlichen Zivilisation zu verwalten. Falls nicht doch die Triaden dahintersteckten, durfte er ... wenn diese Frauen typisch waren für die Gesellschaft, aus der sie kamen ... auf Berlin gespannt sein ... auf eine Oase in dieser sterbenden Welt!
"Oh, ich dachte, du schläfst."
Es war Kandy. Sie war leise hereingekommen, um ihn nicht zu wecken. Er konnte sich gerade noch ein Lächeln verkneifen.
"Wir haben von den Mönchen etwas zu essen bekommen. Willst du was?"
"Ja, gerne. Aber ... Mönche? Bin ich jetzt etwa Geisel der Kirche?"
Sie lachte auf: "Du machst dir Gedanken!" Sie trat dicht an sein Lager. "Du bist keine Geisel," fuhr sie leise fort. "Hab nicht so viel Angst!"
Sie beugte sich vor und strich mit dem Rücken einer schmalen, kräftigen Hand über seine Wange. Auch wenn er körperlich fern jeder Erregung war, konnte er seinen Blick nicht von ihren Brüsten abwenden, die ihm voll und rund entgegen schwangen. Sie bemerkte seinen Blick.
"Gefallen sie dir?"
Seine Stimme war zu belegt, um zu antworten. Seine Augen wanderten zu ihren. Nun lächelte er doch.
"Du wirst sehen ... es wird alles gut!" sprach sie sanft auf ihn ein wie eine Mutter, die ihren Sohn tröstet. Eigenartig, wie leicht eine Frau, die allenfalls Mitte zwanzig war, in diese Rolle schlüpfen konnte, selbst für einen Mann in seinem Alter! Vielleicht war es auch die Wirkung der beiden unübersehbaren Attribute, die dicht über ihm pendelten ...
Sie ergriff seine Hand, zog sie empor, und legte sie leicht an die eine Brust.
"Mach nur! Es wird dich entspannen!"
"Ich ..." – krächzend. Er räusperte sich. "Sie sind wirklich ... Sie ... Sie sind hübsch, doch! Aber Sie machen sich über mich lustig, oder?"
"Nein!" Sie streichelte wieder seine Wange. "Wirklich nicht! Verstehst du, wir mögen dich ... alle. Uns wurde ... einiges über dich erzählt. Und es tut uns leid, dass das am Anfang nicht besser für dich lief ... und für deine Leute!"
"Hätten Sie es nicht verhindern können?"
"So einfach war das nicht! Wir ... also Susie und die anderen ... mussten erst mal herkommen, ohne dass jemand was merkt. Das ging alles wahnsinnig schnell. Natürlich ... wir hätten versuchen können, euch zu warnen. Aber hättest du uns geglaubt ... einer Truppe durchgeknallter Weiber, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen?
"Zumindest hätten wir den Nazis das Handwerk gelegt."
"Das denkst du! Aber hast du mal darüber nachgedacht, woher die Idee kam ... dich zu entführen ... ursprünglich, meine ich?"
Zuerst hatte er eine rasche Antwort auf der Zunge, doch dann kam er ins Grübeln. Gedankenverloren streichelte er weiter die wunderbar runde, weiche Brust.
"Gut, sagen Sie's mir! Woher kam die Idee? Oder genauer gefragt: Wie lautet Ihre Version?"
"Ha! 'Version'! Das ist keine Version. Wir wissen es auch nicht genau. Wir wissen nur, dass irgendjemand aus deinem Verein dahinter steckt. Aus dem Rat. Und diese Leute auf uns aufmerksam zu machen, wäre das Letzte, was wir gebraucht hätten. Das war der Grund, weshalb wir es so gemacht haben. Jetzt wissen die nur, dass irgendetwas gewaltig schief gelaufen ist."
"Irgendjemand wird die Wahrheit rauskriegen. Zumindest diese geheimnisvollen Unbekannten, die angeblich hinter den Nazis steckten ... obwohl ... ein kleines Stück weit glaube ich Ihnen. Die Nazis sind zwar gut ausgerüstet, aber viel zu beschränkt, um sich an etwas so Großes zu wagen wie den Rat. Eine solche Aktion kann nicht allein auf diesem braunen Mist gewachsen sein."
"Siehst du!" Sie beugte sich vollends herab und küsste ihn auf die Stirn. "Du bist gar nicht so dumm. Mit ein bisschen Hilfe ..."
Ihre Brüste drückten nun auf seinen Brustkorb. Durch das dünne Tuch spürte er die Warzen. Er hatte die Hand zurück gezogen und streichelte ihren Oberarm. Es war verrückt! Diese Frau mochte sich immer noch als Gegnerin entpuppen, und sie konnte seine Tochter, fast seine Enkelin sein. Dennoch genoss er die tröstliche Zuwendung, die längst nicht mehr mütterlich war! Er war im Begriff, sie vollends zu umarmen und an sich zu ziehen ... sie schien das für völlig in Ordnung zu halten, kein Muskel spannte sich zur Abwehr ... als eine Stimme hinter ihnen aufklang.
"Kandy!"
Es war die große Frau mit dem dunkelroten Bubikopf. Kandy blickte auf.
"Is ja schon gut! Ich hab den armen Kerl nur ein wenig getröstet."
In jeder anderen Situation wäre Joschi beleidigt gewesen. Als 'armer Kerl' ließ er sich nicht gern bezeichnen. Allerdings hatte das in den letzten drei Jahrzehnten auch niemand mehr versucht. Nun jedoch tat ihm nur noch die Unterbrechung leid ... auch wenn er sich schmerzlich bewusst war, dass er absolut nicht in der Lage gewesen wäre, die Situation "auszunutzen". Die Rothaarige zog Kandy an der Schulter nach oben.
"Entschuldige, Silajev! Sie hätte das nicht tun sollen. Wir wollen dich nicht 'verführen'. Vergiss es bitte, wenn du kannst."
***
Er ist im Mehringhof. Ein riesiger, uralter, verwinkelter Gebäudekomplex ... schattige Höfe unten, hinter den hohen Fenstern und geschlossenen Jalousien. Es riecht nach sauberem Staub und alten Dingen, die warm geworden sind. Trocken und warm. Der Geruch von Sonnenhitze. Plötzlich fühlt er Geborgenheit ... unpassend für eine Geisel, unpassend auch für einen Mächtigen, der doch in sich selbst geborgen sein sollte, in der Aura seiner Macht, seiner Leistung und der Anerkennung der anderen. Doch all das ist abgeblättert von ihm auf der Höllenfahrt im umgebauten Benzintank. Wiedergeboren wurde nur der nackte Mensch, ein Embryo, als sie ihn befreiten, und hier wächst die erste neue Haut.
Hatte er davon geträumt, so herausgerissen zu werden, während er in Straßburg endlos, sinnlos seine Arbeit verrichtete ... eine Qual, die sich Regieren nannte ... mit Agonie als neuer Staatsform? Im Vergleich dazu ist die Verantwortungslosigkeit des Geiselseins befreiend, berauschend ... er lächelt glücklich in die staubige Wärme ... Leben am Ohr von unten aus dem großen Hof, dem Mehringhof, hallendes Hundegebell, verzerrte Kinderstimmen, die einen Reim herauf singen. Sind Geiseln nicht immer bereit, sich zu identifizieren – als Überlebensreflex, Stockholm-Syndrom genannt?
Er blinzelt. Neben ihm, einige Meter entfernt, tanzen Staubteilchen in flachen, goldenen Strahlen, die durch die schadhaften Läden hereinbrechen. Später Nachmittag, der Zenit der Hitze, Zeit zum Aufstehen. Zeit für Entdeckungen. Wofür ist er schließlich hier? Die Erinnerung bricht sich Bahn. Schon einmal in seinem Leben wurde er in eine fremde Welt gestoßen. Schon einmal siegten Neugier und Abenteuerlust in ihm über den Schrecken, alles Vertraute verloren zu haben.