Читать книгу Ich nannte dich Kate - Nicole Beisel - Страница 11
Die potentielle Käuferin
ОглавлениеWährend Betty im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß und gedankenverloren auf die gläserne bunte Scheibe starrte saß Linda in ihrem Zimmer an ihrem großen, hölzernen Schreibtisch, ebenfalls grübelnd. Schon viel zu oft hat sie den Zettel mit leicht feuchten Händen auseinander- und wieder zusammengefaltet. Beinahe so oft, dass sie befürchtete, er könnte beim nächsten Mal auseinanderfallen. Und doch brachte er sie nicht weiter. Die Informationen auf diesem Stück Papier vermittelten ihr nichts, erzählten ihr keine Geschichte, weder über diese Frau, noch über sich selbst. Sie konnte froh sein, dass Tony ihr diese Informationen überhaupt gegeben hatte, und sie war ihm auch wirklich dankbar dafür. Aber ihre Gedanken fuhren weiterhin Karussell, noch immer mit der gleichen Geschwindigkeit wie am Abend zuvor.
Ihr würde nichts anderes übrig bleiben als abzuwarten, ob Fiona Jones die Bank noch einmal aufsuchen würde, um weitere Details zum Darlehensvertrag zu klären, sollte sie tatsächlich ein Haus finden, in dem sie leben konnte. Sie musste am Montag dringend nochmal mit Tony sprechen. Er musste ihr versprechen sie zu informieren, sobald es Neuigkeiten von Miss Jones gab. Sie war sich dessen bewusst, dass diese Bitte in Tonys Ohren ziemlich verrückt klingen musste, aber ebenso sicher war sie sich, dass er ihrer Bitte nachkommen würde, sobald er wieder von seiner Kundin hörte.
An diesem Freitagnachmittag hatte sie noch nicht gewusst, dass ihr Gespräch mit Tony zum Beginn der neuen Arbeitswoche ganz anders verlaufen würde.
Nachdem Linda ein Mal mehr erkannte, dass sie nicht weiter kam, faltete sie den Zettel ein letztes Mal wieder zusammen und schob ihn unter ihre Schreibtischunterlage. In ihrer Hosentasche konnte sie ihn nicht lassen, denn wenn Betty sich um die Schmutzwäsche kümmerte durchsuchte sie stets sämtliche Taschen um auszuschließen, dass etwas verloren ging. Es war ihr festes Ritual, eine Angewohnheit, über die sie nicht mehr nachdachte, obwohl sie noch nie etwas gefunden hatte.
Linda ging ins Wohnzimmer und nahm neben ihrer Großmutter Platz, die erst aufblickte, als das Sofapolster neben ihr einsank.
"Oh, hallo meine Kleine. Hast du heute noch etwas vor?" Linda dachte einen Moment lang nach. Sie hatte nichts mehr geplant, aber es gab da tatsächlich etwas Nützliches, das sie gemeinsam hätten erledigen können. "Grandma, könnten wir den Wocheneinkauf vielleicht schon heute erledigen? Dann kann ich die Zeit morgen Vormittag zum Lernen nutzen." Betty sah sie zuerst verwundert, dann ein wenig erschöpft an. "Puh, ich war ja vorhin erst einkaufen, aber wenn du möchtest…?" "Das wäre toll. Ich glaube nämlich nicht, dass ich mich heute noch konzentrieren kann." Linda hielt inne als sie erkannte, was sie gerade sagte. Irgendwie musste sie dafür sorgen, dass sie morgen Vormittag zuhause war, aber sie hätte sich wenigstens eine bessere Ausrede einfallen lassen können. Betty ahnte bereits, dass Lindas zerstreuter Blick mit dieser Dame zu tun haben musste, wollte es aber nicht ansprechen in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch täuschte. Linda war dankbar für das Schweigen ihrer Großmutter. Was hätte sie ihr auch sagen sollen? Dass sie noch immer an diese Fiona Jones dachte, ohne ersichtlichen Grund? Dass sie die Vermutung hatte, dass diese Frau sich in wenigen Stunden das Haus der Blakes ansehen würde? Dass sie nicht wusste, warum sie diese Frau nicht einfach wieder vergessen konnte, so, wie sie nach Feierabend zahlreiche andere Kunden vergaß?
"Gut, dann lass uns gleich aufbrechen." Betty stand schwerfällig auf, blieb eine Sekunde lang stehen und lief anschließend in die Diele, um ihre Tasche von der Kommode zu nehmen. Linda eilte in ihr Zimmer, schnappte sich ebenfalls Tasche und Autoschlüssel und begleitete ihre Großmutter hinaus. Die Autofahrt dauerte nicht sehr lange, aus dem Radio strömte leise Musik, die Lippen der Fahrzeuginsassen waren fest geschlossen. Man hätte denken können, sie hätten sich gestritten.
Der Einkauf war schnell erledigt. Betty achtete weiterhin auf gesunde Lebensmittel, mageres Fleisch und wenig Fett. Linda wunderte sich ein wenig, sagte jedoch nichts. Vielleicht wurde Grandma einfach nur alt und hatte sich spontan zu einer gesünderen Ernährung entschlossen. Trotzdem war Linda sich sicher, dass ihr der leckere Sonntagsbraten fehlen würde.
Linda befuhr die Auffahrt und brachte ihren Kleinwagen auf dem knirschenden Kies zum Stehen. Betty und Linda stiegen aus, um die vollbepackten Taschen ins Haus zu bringen, als sie einen fröhlichen Ausruf vernahmen. Es war Josefine, die gerade den Müll rausbrachte.
"Huhu! Na? Ich dachte, du warst schon einkaufen?" Betty lachte stöhnend. "Das ist richtig, aber den Wocheneinkauf kann ich alleine nicht mehr bewältigen. Da bin ich doch sehr froh, wenn Linda mich fährt. Und du steckst mitten in den Vorbereitungen?" Josefine verstand nicht gleich. "Welche Vorbereitungen meinst du?" Betty fragte sich, ob ihre Nachbarin mittlerweile vergesslicher war, als sie selbst.
"Na, der Besichtigungstermin morgen. Du räumst doch sicher das Haus auf, oder nicht?" Josefine fing an zu lachen, während Linda mit zwei schweren Tüten in den Händen still dastand und dem Gespräch neugierig lauschte. "Ach so, natürlich. Ja, du hast recht. Ich wäre froh, wenn wir es sehr bald verkaufen könnten."
Linda überlegte einen Moment, ob sie Josefine auf die potenzielle Käuferin ansprechen sollte, wollte dabei aber nicht von ihrer Großmutter belauscht werden. "Ich bringe eben schon mal die Tüten ins Haus." Betty eilte beinahe hinterher während sie über ihre rechte Schulter blickte und ihrer Nachbarin winkte. "Ich wünsche euch viel Glück! Linda, stell' die Tüten einfach in die Küche, ich räume sie gleich aus." Linda tat, wie ihr geheißen und ging noch einmal zurück an ihr Auto. "Ich hole noch schnell die Getränke rein."
Während Betty in der Küche beschäftigt war hob Linda den schweren Wasserkasten aus dem kleinen Kofferraum. Sie schloss ihr Auto ab und schaute nochmal in den Vorgarten nebenan, in dem Josefine Blake damit beschäftigt war, einige welke Blütenblätter abzurupfen. Linda stellte den Wasserkasten noch einmal ab, schaute zur Sicherheit noch einmal zu ihrer eigenen Eingangstür um sich zu vergewissern, dass Betty sich noch immer in der Küche befand und lief auf Josefine zu.
"Hallo Mrs Blake." Die ältere Dame blickte auf, ehe sie sich aufrichtete, damit sie Linda ansehen konnte. "Hallo Linda. Du weißt doch, dass du mich Josefine nennen sollst. Wie geht es dir?" Linda verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und wirkte dabei ein wenig verlegen, was Josefine zumindest im ersten Moment nicht aufzufallen schien. "Danke, gut. Darf ich Sie etwas fragen?" "Natürlich, Liebes. Nur zu." Linda atmete tief ein, als hätte sie Angst vor der Antwort auf ihre Frage. "Grandma erzählte mir vorhin, dass Sie Ihr Haus verkaufen wollen. Sie sagte mir auch, dass schon morgen jemand vorbei kommt, um es sich anzusehen." Linda machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach. Josefine unterbrach sie nicht, sondern hörte aufmerksam zu. "Darf ich nach dem Namen dieser Person fragen? Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, aber ich arbeite ja bei der Bank und ich habe mich gefragt, ob es vielleicht einer unserer Kunden ist."
Josefine störte sich nicht an der Frage. "Es ist eine Dame, ich glaube um die Dreißig. Aber den Namen weiß ich gerade nicht. Thomas hat ihn aufgeschrieben, der Zettel müsste irgendwo liegen. Soll ich ihn suchen gehen?"
Linda bemerkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte, die sie nun hörbar ausstieß. Sie war auf eine Antwort gewappnet, hatte sich innerlich vorbereitet auf einen Namen, der möglicherweise dem glich, der ihr seit etwa vierundzwanzig Stunden im Kopf herumschwirrte, aber jetzt, da die Chance scheinbar vertan war, verließ sie der Mut.
"Nein, danke, Josefine. Ist schon gut. Wir sehen uns sicher die Tage noch, vielleicht wird sie ja tatsächlich unsere neue Nachbarin und spätestens dann werde ich ihren Namen sicherlich erfahren. Ich wünsche euch viel Glück." Josefine war beinahe traurig darüber, dass sie dem jungen Mädchen ihre Frage nicht beantworten konnte. "Dankeschön, Liebes. Ihr werdet es als Erste erfahren, sobald das Haus verkauft ist."
Mit dieser Information, die genaugenommen gar keine war, nahm Linda den schweren Wasserkasten wieder auf und trug ihn ins Haus, um ihn in die Vorratskammer neben der Küche zu stellen. Jetzt schämte sie sich beinahe dafür, dass sie Josefine tatsächlich nach einem Namen fragte, der eine Art Unbehagen in ihr auslöste. Vielleicht hatte sie Glück und konnte morgen Vormittag aus dem Fenster schauen, wenn sie ein Auto hörte, dass in die Auffahrt der Blakes einbog. Vielleicht würde sie das Zuschlagen einer großen, schweren Autotür hören oder das Klirren eines Autoschlüssels, der herunter fiel, womöglich auch das Klappern von Absätzen teurer Schuhe auf dem sauberen Asphalt vor Josefines Haustür.
"Wo warst du denn so lange?" Betty räumte gerade die letzte Tasche leer. "Ich habe mich nur kurz mit Josefine unterhalten."
Das war eine durchaus ehrliche Antwort gewesen. Schließlich hatte sie nichts weiter getan, als ein paar belanglose Worte mit ihrer Nachbarin zu wechseln, ehe sie hierzu keine Chance mehr hatte.