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Prolog – Die Lunchbox

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"Grandma, ich mache mich nun auf den Weg. Denk' bitte daran, dass heute Donnerstag ist und ich daher erst gegen halb sieben zurück sein werde." Linda schnappte sich ihre Lunchbox, die ihre Großmutter Betty ihr wie an jedem Morgen unter der Woche so liebevoll zubereitet hatte und drückte ihr einen Kuss auf ihre nicht mehr ganz so junge und leicht faltige, aber dennoch warme und weiche Wange. "Ist gut, mein Kind. Fahr vorsichtig, und hab einen schönen Tag." Linda hatte ihren Führerschein erst seit kurzem, und obwohl sie schon immer sehr vernünftig und vorsichtig war und sie die Führerscheinprüfung ohne jegliche Beanstandungen bewältigt hatte, machte ihre Großmutter sich ständig Sorgen um sie. Aber das war ja auch kein Wunder bei allem, was Linda in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte. Lindas Eltern, Bettys Sohn Charles und seine Frau Rachel, kamen vor etwa vier Jahren bei einem schweren Zugunglück ums Leben. In jeder Nachrichtensendung waren die schrecklichen Bilder zu sehen gewesen und noch bevor den Angehörigen telefonisch die Mitteilung gemacht wurde, dass ihre Verwandten in dem Unglück verwickelt waren hatten Betty und Linda die Nachrichten verfolgt und bereits beim Anblick der zusammengestauchten Metallteile das Schlimmste befürchtet. Betty wird nie die Worte vergessen, die sie beinahe emotionslos in den Hörer hauchte, als sie benachrichtigt wurde: "Ich weiß."

Linda hatte sich danach lange in ihrem Zimmer im oberen Stockwerk des hübschen, aber nicht sonderlich modernen Zweifamilienhauses verkrochen, während ihre Oma Betty im Stockwerk darunter in ihrem Wohnzimmersessel saß und geduldig auf ein Zeichen ihrer Enkelin wartete. Betty hatte gewusst, dass ihre Enkelin mit damals 17 Jahren alt genug war, um alleine in der Wohnung zurecht zu kommen, zumal Linda niemals wirklich ganz alleine gewesen war, denn Betty war immer ganz in ihrer Nähe gewesen. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Betty sich eines angewöhnt: Sie umsorgte ihre Enkelin ständig mit etwas Essbarem. Sie stellte es ihr – wie man es aus Filmen kennen mag, in denen es um schweren und scheinbar unheilbaren Liebeskummer ging – regelmäßig ein Tablett vor die Tür, ehe sie leise die Treppen wieder hinunter stieg und geduldig darauf wartete, dass Linda wenigstens eine Kleinigkeit zu sich nehmen mochte. In den ersten Tagen hatte das Tablett bei nochmaligem Nachsehen kaum eine Veränderung aufgezeigt. Teilweise war es schlichtweg auf die Seite geschoben worden, womöglich, damit Linda wenigstens zur Toilette konnte, ohne das Tablett oder das Essen, das sich darauf befand, zu zertreten. Erst beinahe eine Woche später, kurz nach der Trauerfeier, die aufgrund der wenigen Familienangehörigen recht schlicht und kurz ausfiel, nahm die Menge an Essbarem, das sich auf dem Tablett befand, stetig ab und von Tag zu Tag kam immer mehr vom Teller selbst zum Vorschein, den Betty samt Tablett am späten Abend wieder mit hinunter in ihre eigene Küche nahm um sich darüber zu freuen, dass sie wenigstens über das Essen eine Art Kontakt zu ihrer Enkelin halten konnte, die ansonsten noch immer sehr schweigsam gewesen war, obwohl das Band, das einst zwischen Großmutter und Enkelin gespannt war, vor dem Unglück beinahe fester war als das zwischen Linda und ihren Eltern.

Seit dieser Zeit kümmerte sich Betty um die Ernährung ihrer Enkelin, die sich immer mehr in der Wohnung im unteren Stockwerk aufhielt, weil sie es eines Tages in ihren bisherigen Wohnräumen nicht mehr ausgehalten hatte. Alles erinnerte sie an ihre Eltern und an ihre gemeinsame Zeit, vor allem aber auch an ihre Kindheit, in der es keine Sorgen und keine Ängste gab, denn dafür hatten Charles und Rachel gesorgt. Die Angst und die Unsicherheit von Linda fernzuhalten – das war ihre Aufgabe gewesen. Eine Aufgabe, die sie selbst gewählt hatten und die sie jeden Tag aufs Neue erfüllen wollten, vom ersten bis zum letzten Augenblick ihrer gemeinsamen Zeit.

Und bis heute hat Betty sich diesen Brauch, der alleine ihre Idee war, beibehalten. In der Zwischenzeit stand die Wohnung im Obergeschoss beinahe leer, nur noch wenige Möbelstücke füllten die Räume, die trotzdem viel zu leer und still wirkten, beinahe kalt und beängstigend. Auch sonst gab es in der darauffolgenden Zeit einige Veränderungen. Die Tatsache, dass Linda mit niemandem über ihre Eltern oder über das Geschehene sprach machte es ihr dafür umso einfacher, sich auf die Schule zu konzentrieren, was ihr tatsächlich zugutekam und ein halbes Jahr nach dem Unglück zu einem sehr guten Schulabschluss mit Bestnoten führte. Dies hatte sie einzig und alleine ihrer Entscheidung zu verdanken, ihre Gefühlswelt auszuschalten und ihre Trauer zu verstecken, sobald sie das Schulgebäude betrat. In beruflicher Hinsicht musste Linda nicht lange nachdenken, für welche Tätigkeit sie sich entscheiden sollte. Sie hatte beschlossen, in die Fußstapfen ihres Vaters Charles zu treten und eine Ausbildung zur Bankkauffrau zu machen. Auf diese Weise fühlte sie sich ihm zumindest ein Stück weit verbunden und vom Studieren hatte Linda sowieso noch nie viel gehalten. Durch ihr hervorragendes Abschlusszeugnis hatte sie keine Mühe, einen geeigneten Ausbildungsplatz zu finden und freute sich auf das Erlernen des neuen Berufs sowie über die Tatsache, dass sie nun langsam erwachsen wurde. Das waren eine Menge neue Dinge in relativ kurzer Zeit, die ihr Leben beinahe auf den Kopf stellten, während sie noch immer versuchte, alleine mit ihrer Trauer um ihre Eltern umzugehen. Umso wichtiger fand Betty es, ihrer Enkelin wenigstens einen festen Punkt geben zu können, an dem sie sich festhalten und orientieren konnte, etwas, dass ihr Sicherheit gab, weil es immer da war und sich niemals ändern würde.

Und so bekam eine einfache Lunchbox einen festen Platz in Bettys und Lindas Leben, unbedeutend und zugleich unheimlich wichtig. Für beide.


Ich nannte dich Kate

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