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Der Hafen von Dover

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Linda stieg aus ihrem Kleinwagen aus und lief mehrere Meter geradeaus. An einem bestimmten Punkt blieb sie stehen, den leichten Wind in ihren Haaren, die Arme zum Schutz fest umeinander geschlungen. So stand sie da und ließ ihre Gedanken weiter kreisen. Das taten sie sowieso schon den ganzen Tag, aber hier hatte Linda das Gefühl, ihren Gedanken mehr Freiheit geben zu können, einen größeren Raum, in dem ihre Überlegungen und Gefühle sich weiter ausbreiten konnten.

Auch wenn ihr Blick in diesem Moment leer schien, so bargen sie einen ganz besonderen Glanz. Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ das Wasser ihre Strahlen widerspiegeln. Das Wasser am Hafen von Dover glitzerte in Lindas Augen, blendete sie, ohne, dass sie selbst etwas davon bemerkte. Ihr Blick richtete sich auf die Fähre, die in wenigen Minuten ihre letzten Passagiere aufnahm, um sie nach Calais zu überführen. Langsam bewegte sich ihr Blick auf die berühmten weißen Klippen von Dover zu mit ihren Felsen so schön und rein, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Ihre Augen ruhten wenige Minuten auf den Klippen, ehe ihre Augen weiterwanderten und sich im Horizont verloren. Linda kam gerne hierher, wenn sie etwas bedrückte oder wenn sie einfach nur alleine sein wollte. Oft dachte sie an ihre Eltern, die sie noch immer sehr vermisste. Würde sie ihnen von ihren Gedanken um die rätselhafte Frau erzählen, wenn sie noch leben würden? Vielleicht… immerhin hatte sie ihrer Großmutter davon erzählt, aber was Betty anging wusste sie, dass diese nicht locker ließ ehe sie wusste, was ihre Enkelin beschäftigte. Ob Linda ihrer Großmutter auch von den weiteren Informationen erzählen würde, die sie soeben von Tony erhalten hat, wusste sie in diesem Moment noch nicht. Darüber machte sie sich jetzt noch keine Gedanken.

Stattdessen dachte sie, wie so oft in den letzten Stunden, an diese schlanke, blonde Frau, die sie scheinbar grundlos faszinierte. Linda wandte den Blick vom Horizont ab und griff in ihre Hosentasche, um den Zettel hervor zu holen. Sachte entfaltete sie ihn, hielt ihn dabei gut fest, damit er nicht vom Wind davon geweht wurde. Linda murmelte leise vor sich hin ohne sich darum zu scheren, ob andere Spaziergänger oder Passagiere sie hören konnten. 39 Jahre alt, nicht verheiratet, keine Kinder. Keine Kinder, eine Antwort, die nur zögerlich kam, wie Tony anmerkte. Auch hier war Linda ratlos, denn sie war sich sicher, dass diese Anmerkung eine weitaus größere Bedeutung hatte, als man annehmen konnte.

Hatte Miss Jones vielleicht ein schlimmes Schicksal ereilt? Wer weiß, vielleicht hatte sie ein Kind verloren und hat den Verlust noch immer nicht ganz verkraftet? Aber Miss Jones sah gar nicht aus wie eine Frau, die etwas so schlimmes hätte hinter sich haben können. Im Gegenteil, sie wirkte sehr selbstsicher und mutig, war zumindest nach außen hin scheinbar stets um Haltung bemüht. Und doch hatte Linda das Gefühl, dass es etwas damit zu tun haben musste. Dass dieser Frau einst etwas Schreckliches zugestoßen sein musste, das Linda seltsamerweise zu spüren schien. Als hätte Linda hinter die Fassade dieser Frau blicken können um etwas zu erkennen, was sonst keiner sah und was vielleicht auch gar niemand sehen sollte. Wo dieses Gefühl herrührte, wusste Linda nicht, ebenso wenig wie sie wusste, wie sie herausfinden konnte, ob sie recht hatte.

Sie würde sicher keine Versuche starten, um mehr über sie herauszufinden. Ein solches Verhalten würde beinahe an Stalking grenzen, und von einer solchen Dummheit war Linda weit entfernt. Tony sagte, sie wolle nach Dover ziehen und sich ein Haus anschauen um es im Anschluss zu kaufen. Vielleicht hatte Linda Glück und sie würde dieser Dame eines Tages wieder begegnen, womöglich wurde sie sogar treue Kundin ihrer Bank.

Mit diesem leisen Hoffnungsschimmer und der Erkenntnis, dass all ihre Notizen sie nicht viel weiter gebracht hatten, faltete sie den Zettel sorgfältig wieder zusammen und steckte ihn zurück in die Hosentasche. Sie ließ ihren Blick ein letztes Mal über das Wasser schweifen, hinüber zu den weißen Klippen bis hin zum Horizont, ehe sie zu ihrem Auto zurücklief um nach Hause zu fahren. Grandma Betty würde sicher schon mit dem Essen auf sie warten, das wie so oft sehr reichhaltig ausfallen würde.

Betty verließ Dr. Hayes' Arztpraxis mit leicht schmerzender Armbeuge und nicht weniger Sorgen als zuvor. Die Worte des Arztes waren ernst, auch wenn er sie noch so freundlich formuliert hatte. Eigentlich sagte er nur das, was viele Ärzte älteren Menschen sagen. Essen Sie weniger Fetthaltiges, lieber mehr Gemüse und Obst, hatte er gesagt. Und: Ich verstehe, dass Sie sich um Ihre Enkeltochter sorgen, aber versuchen Sie trotz allem, ruhig zu bleiben und ihre Sorgen nicht zu Ihren eigenen zu machen. Dr. Hayes schien keine Enkel zu haben, oder zumindest keine, um die er sich sorgen musste.

Nun gut, ihre Ernährung konnte sie umstellen, aber Genaueres würden die Ergebnisse des Bluttests in der kommenden Woche ergeben. Betty nahm den Bus und stieg zwei Haltestellen früher aus als sonst, um noch schnell einen kleinen Einkauf zu erledigen. Eigentlich hatte sie genügend Lebensmittel zuhause, aber es waren wohl die falschen, wie sie nun glaubte. Sie würde ein wenig Putenfleisch holen und frischen Kohlrabi und Möhren. Sie wollte nicht allzu viel mitnehmen, da sie den restlichen Heimweg zu Fuß bewältigen wollte. Den wöchentlichen Großeinkauf machte sie für gewöhnlich gemeinsam mit ihrer Enkelin, was ebenfalls einfacher geworden war, seit sie ihren Führerschein hatte sowie ein kleines Auto, das Betty ihr geschenkt hatte. Immerhin hatten sie beide etwas davon.

Betty lief die Regale ab und hielt die Augen nach gesunden Sachen offen, als ihr plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte. Verwundert drehte sie sich um und blickte in das Gesicht ihrer Nachbarin Josefine Blake.

"Oh, hallo Josefine. Wie geht es dir?" "Danke, sehr gut. Dachte ich mir doch, dass ich richtig gesehen habe. Es gibt Neuigkeiten." Vor Neuigkeiten war Betty nirgends sicher, weder im Supermarkt noch in der Nähe ihrer Nachbarn, und in diesem Fall trafen beide Situationen im gleichen Augenblick aufeinander.

Josefine und ihr Mann Thomas wohnten seit vielen Jahren im Haus nebenan. Sie waren beide schon etwas älter, etwa Ende sechzig und hatten zwei Söhne, die mittlerweile selbst schon lange erwachsen waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten. Seit einigen Jahren lebten Josefine und Thomas alleine in diesem großen, aber sehr hübschen Haus, das stets in Schuss gehalten wurde. Das Verhältnis zwischen ihnen und Betty sowie ihrer Familie war stets gut gewesen, wenn auch nicht allzu eng. Sie wechselten ein paar Sätze, wenn sie zufällig zur gleichen Zeit in ihren Gärten waren oder hielten einen kurzen Plausch im Supermarkt, um den aktuellen Klatsch und Tratsch genauer unter die Lupe zu nehmen. Diesmal ging es allerdings tatsächlich um Neuigkeiten von etwas größerer Bedeutung.

Neuigkeiten, die Betty Linda zu Hause mitteilen würde, wenn sie gemeinsam beim Essen saßen. Neuigkeiten, die mehr veränderten, als Betty in diesem Augenblick vermutet hätte…


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