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Der Notizzettel

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Während Dr. Hayes Betty herzlich in Empfang nahm und sie nach ihrem Befinden fragte, ging Linda ihrer Arbeit in der Bank nach. Sie machte ihre Arbeit gut und professionell, wie immer, und doch war sie mit ihren Gedanken ganz woanders, wenngleich sich ihre Gedanken ebenfalls mit ihr im Bankgebäude befanden. Aber ihre Gedanken kreisten nicht um ihre Arbeit oder um die Kunden, die heute an ihrem Schalter in der Schlange standen, um Geld auf ein Konto einzubezahlen, eine Überweisung zu tätigen oder um zahlreiche Geldscheine in eine andere – aufgrund der kurzen Entfernung zu Calais meist in die französische – Währung umtauschen zu lassen. Die Gedanken in ihrem Kopf kreisten um den vorangegangenen Tag, um eine Frau, die ihr nicht mehr aus dem Sinn wollte, obwohl sie sie nicht kannte und es auch sonst keinen Grund gab, warum Linda so viele Gedanken an eine einfache Kundin verschwenden sollte. Und doch tat sie es, ungewollt, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Linda verstand noch immer nicht, wie diese Frau sie so sehr faszinieren konnte.

Der frühe Feierabend nahte, und Linda beschloss, Mr. Watts rechtzeitig abzufangen, bevor er zur Tür hinausging. Es war Freitagmittag und wenn sie ihn jetzt nicht auf diese Kundin ansprach, würde sie ein ganzes Wochenende lang warten müssen, bis sie möglicherweise mehr oder weniger hilfreiche Informationen in Erfahrung bringen konnte. Schnell eilte sie hinter dem Schalter hervor und lief auf sein Büro zu, das er gerade verlassen wollte. Ein wenig überrascht schreckte der Finanzberater zurück, als er Linda schnellen Schrittes auf ihn zukommen sah.

"Linda! Ist etwas passiert?" Er sah den unsicheren Blick in ihren Augen, der ihn ein wenig stutzen ließ. Schnell versuchte sie ihn diesbezüglich zu beruhigen, obwohl sie noch immer sehr unsicher war. Einerseits kam sie sich fast ein wenig dumm vor, weil sie einen ihrer Kollegen über eine Kundin ausfragen wollte, aber andererseits hatte sie das tiefe Bedürfnis, mehr über diese Frau herauszufinden, auch wenn sie nicht genau wusste, wozu das führen sollte.

"Nein, nein. Alles in Ordnung. Aber vielleicht könntest du mir trotzdem helfen, Tony." In dieser Bankfiliale war es nicht unüblich, dass die Mitarbeiter, die keinen allzu großen Altersunterschied hatten, sich beim Vornamen nannten. "Gerne. Worum geht's?" Linda musste schlucken, ehe sie sich endlich traute, ihre Fragen laut auszusprechen. Sie wusste nicht, welche Informationen Tony ihr geben konnte und sie wusste genauso wenig, welche Antworten auf ihre Fragen sie sich erhoffte, aber es gab ihr ein gutes Gefühl, überhaupt jemanden fragen zu können.

"Erinnerst du dich an die Frau, die gestern Abend bei dir war? Ich hatte sie in dein Büro geführt. Wie hieß sie doch gleich? Jones…?" Verwundert sah Tony seine junge Kollegin an. "Ja, Fiona Jones. Was ist mir ihr?" Oh Gott, gleich werde ich mich blamieren, dachte Linda. Wie sollte sie ihm denn nur erklären, dass sie immer und immer wieder an diese Frau denken musste, obwohl es offensichtlich keinen Grund hierfür gab? Linda gab sich einen Ruck und fuhr fort. "Das würde ich dich gerne fragen. Es ist mir wirklich unangenehm, aber sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf." Tonys Blick verwandelte sich von Verwunderung in Ratlosigkeit, ehe er sie mit einem schmunzelnden und zugleich beinahe enttäuschten Gesichtsausdruck ansah. Linda konnte nicht glauben, dass ihr Kollege so etwas von ihr dachte und stellte seine erste Vermutung schnell richtig. "Oh, nein, Tony. Nein, es ist nicht das, was du jetzt denkst. Ich kann es mir ja selbst nicht erklären. Ich habe nur wenige Worte mit ihr gewechselt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht kenne und auch noch nie gesehen habe, aber trotzdem fühlt es sich so an, als gäbe es eine Verbindung zwischen uns. Ich weiß auch nicht… sie zieht mich in eine Art Bann. Anders kann ich es dir auch nicht erklären…" Hilflos rang Linda nach weiteren Worten, die einer Erklärung gleich kamen, aber ihr fiel nichts weiter dazu ein. "Oh, verstehe." Tony glaubte selbst nicht an seine eigenen Worte, aber er wollte Linda nicht noch weiter in Verlegenheit bringen indem er ihr Fragen stellte, die sie sich selbst kaum beantworten konnte.

"Und was genau möchtest du wissen?" Linda überlegte. Es gab so vieles, das sie wissen wollte über diese Person, die seit beinahe 24 Stunden in ihrem Kopf herumschwirrte. "Nun ja, wo kommt sie her? Ist sie von hier? Wo arbeitet sie? Hat sie eine Familie? Möchte sie ein Haus kaufen? Wie alt ist sie? Ach, bitte sag mir alles, was du über sie weißt und was du mir sagen kannst." Flehend blickte sie ihrem Kollegen in die Augen. Es schien Linda wirklich sehr wichtig zu sein, mehr über seine Kundin zu erfahren, aus welchem Grund auch immer. Seufzend stellte er seine Aktentasche wieder ab und bot Linda einen Platz an, ehe er selbst sich in seinen schweren ledernen Bürosessel fallen ließ und eine Schranktür öffnete, um eine Akte heraus zu holen.

Linda hatte innerhalb des Bankgebäudes noch nie in einem solchen Raum, in einem solchen Stuhl gesessen. Die Sitzfläche und die Rückenlehne waren ebenfalls aus schwarzem Leder, wahrscheinlich Kunstleder, wie sie vermutete. Ihre Finger krallten sich fest um die gebogenen Stahlrohre, die ebenfalls mit einem kleinen Kunstlederpolster bestückt waren und als Armlehnen dienten. Hatte Miss oder Mrs Jones gestern auf dem gleichen Stuhl Platz genommen oder saß sie auf dem Stuhl nebenan? Linda fühlte sich beinahe wie verzaubert, kam sich im gleichen Moment jedoch sehr albern vor. Unzählige Kunden hatten hier schon gesessen, und Fiona Jones war nur eine unter ihnen, mehr nicht. So jedenfalls versuchte Linda es sich einzureden, konnte ihren eigenen Worten und Gedanken jedoch selbst kaum Glauben schenken. Tony zögerte, als er die Akte aufschlug und sah Linda ernst an.

"Du weißt, dass diese Daten innerhalb dieser vier Wände bleiben müssen. Sie sind streng vertraulich, aber wenn dir tatsächlich so viel daran liegt, werde ich versuchen, all deine Fragen so gut ich kann zu beantworten. Aber sei bitte nicht enttäuscht, wenn ich dir nicht allzu viel über sie sagen kann." Linda war bereits ganz aufgeregt und nickte eifrig. In diesem Augenblick wirkte sie wie ein kleines Kind, das versprach, ganz brav und artig zu sein, damit es sein Eis bekam. Tony setzte gerade zum Sprechen an, als Linda ihn in letzter Sekunde unterbrach. "Ähm, entschuldige bitte, Tony. Hättest du etwas zu Schreiben für mich?" Mit einem leichten Seufzer reichte er ihr Stift und Papier, damit Linda alle Informationen sorgfältig aufschreiben konnte und sie nichts vergaß.

"Also, wie du weißt, lautet ihr Name Fiona Jones. Sie ist 39 Jahre alt und ist im Mai 1974 in London geboren. Sie ist nicht verheiratet und hat keine Kinder." Plötzlich stockte Tony mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen, die Augenbrauen eng zusammen gezogen, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, das ihm im Nachhinein womöglich ein wenig seltsam vorkam. Und so war es auch.

"Was ist? Sprich weiter." Auch Linda sah ihn nun fragend an. Tony war am Vorabend tatsächlich etwas aufgefallen, allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht näher darüber nachgedacht, schließlich war er mit seiner Arbeit beschäftigt und hatte für Verhaltensmerkmale keine Gedanken übrig. Aber war diese kleine Auffälligkeit nun tatsächlich so relevant? So wichtig, dass sie Erwähnung finden sollte in diesem Gespräch zwischen Arbeitskollegen, das doch mehr zu sein schien als nur das? Nun, für Linda war es das ganz sicher. "Mir fällt gerade ein, dass sie ein wenig zögerte als ich sie nach ihrem Familienstand fragte ehe sie mir sagte, sie habe keine Kinder. Es schien so, als hätte sie sich im ersten Moment verplappert. Die Frage nach Kindern hat sie nur zögerlich verneint. Wer weiß, was dieser armen Frau wiederfahren ist."

Linda ließ den Stift zügig über das Blatt Papier schweben und notierte alles, was ihr wichtig erschien. Tony fuhr fort.

"Sie hat eine Weile in einem Hotel in Frankreich gearbeitet, ist nun aber wieder nach England gezogen und benötigt ein Darlehen für ein Haus in Dover, das sie sich morgen ansehen möchte. Einen neuen Job hat sie hier bereits gefunden und auch sonst hat sie bisher einen gut bezahlten Job gehabt, um genügend Eigenkapital anzusparen. Zumindest sehe ich nichts, das gegen eine Darlehensbewilligung spricht." Linda musste aufpassen, dass sie die Worte trotz der Eile, für die ihre eigene innere Unruhe die Ursache war, trotz allem sorgfältig zu Papier brachte, damit sie ihre Notizen auch später noch entziffern konnte. Kopfschüttelnd beobachtete Tony den Stift, der in Windeseile über das Papier flog. Was wollte dieses Mädchen nur mit all den Informationen anfangen? Linda hielt inne und sah Tony zum wiederholten Male neugierig an. "Weißt du sonst noch was über sie?" Tony lachte und schüttelte den Kopf. "Nein. Es gäbe auch nichts, was ich sonst noch über sie wissen sollte. Wichtig ist ihre Bonität, die wichtigsten persönlichen Daten hat sie mir mitgeteilt. Ich kann sie ja schlecht ausfragen, außerdem hätte das auch gar keinen Sinn." Linda verstand und schob den Stift über den Tisch, ehe sie nur wenige Zentimeter von Tony entfernt die Finger vom Stift löste. Wie in Trance flogen ihre Hände zu dem Blatt Papier, das vor ihr lag, um es sorgfältig zu falten ehe es in ihrer rechten Hosentasche verschwand. Dann erhob sie sich mit heißen Wangen während sie noch immer versuchte, sich zu beruhigen.

"Ich danke dir, Tony. Ich danke dir wirklich. Du hast mir einen großen Gefallen getan." Mit Mühe und Not brachte sie ein ehrliches Lächeln zustande. Tony winkte ab, aber ermahnte sie auch. "Keine Ursache. Aber bitte sieh zu, dass dieser Zettel nicht in falsche Hände gerät." Linda versprach es und ging aus dem Zimmer, aus dem auch Fiona Jones am Abend zuvor heraustrat. Sie drehte sich noch einmal um und winkte ihrem Kollegen zum Abschied zu.

Auch wenn Linda nicht genau wusste, was sie nun mit all diesen Informationen anstellen sollte, so war sie doch dankbar für die Hilfsbereitschaft ihres Kollegen. Es gab ihr ein Gefühl von innerer Ruhe, eine Art Sicherheit, diesen Zettel in ihrer Hosentasche zu tragen. Nun würde sie erst einmal Feierabend machen und sich in ihr Auto setzen. Sie wusste auch schon, wohin sie nun fahren würde, denn genau das brauchte sie jetzt.


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