Читать книгу Zeit der wilden Orchideen - Nicole-C. Vosseler - Страница 10

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Georgina saß auf der Veranda und sah in den Regen hinaus, der sich über den Garten ergoss.

Sie war zurückgekommen. Vom nebelgrauen, schrillen Lärm Londons, der etwas von der hektischen Aufbruchstimmung eines immerwährend frühen Morgens hatte, heimgekehrt in den ewigen Nachmittag Singapurs, heiß, still, verträumt.

Der straffe, manchmal gehetzte Tagesablauf am Royal Crescent, dem sie sich anfangs erbittert widersetzt, mit der Zeit dann gebeugt hatte, zerfloss hier zwischen dem ersten Kaffee bei Tagesanbruch, Curry und Reis um neun, dem Tiffin zu Mittag und dem Dinner. Eine Langsamkeit, träge geradezu, die Georgina wohltat und den letzten Rest Müdigkeit nach der langen Reise aus ihren Knochen vertrieb. Eine eigentümliche Mischung aus Leere und Freiheit, in der sie durch die Tage driftete und sich in ihr altes, neues Leben spülen ließ.

Alle Briefe waren geschrieben – an Tante Stella, mit Grüßen an Onkel Silas und die drei Cousins. Einen eigenen für Maisie. Und einen nach Hongkong, in dem Georgina den Hambledons nochmals für ihre Gesellschaft während der Reise dankte. Seither gab es für sie nichts mehr zu tun, um die Stunden des Tages zu füllen, sobald ihr Vater und Paul Bigelow nach dem Frühstück in die Stadt fuhren und nach Feierabend zurückkehrten.

Sie war zurückgekommen, aber noch lange nicht wieder zu Hause.

Noch kam sie sich vor wie ein Eindringling im Haushalt von L’Espoir, der die eingefahrenen Rituale der zwei Junggesellen durcheinanderbrachte. Wenn sich die Gespräche bei Tisch um Preise und die Gewinnspannen von Muskatnuss und Indigo, Kupferdraht, Reis und Zuckerrohr drehten. Um die finanziellen Schwierigkeiten, die die seit zwei Jahren immer wieder verschobene Eröffnung des Armenhospitals auf dem Pearl’s Hill, vom chinesischen Towkay Tan Tock Seng erbaut, weiterhin verzögerten. Wenn die jüngsten Gerüchte diskutiert wurden, dass der Findlay’sche Konkurrent Edward Boustead sich nach dem Ausscheiden seines Partners im vergangenen Jahr ebenfalls in Kürze aus der Firma zurückziehen und nach England zurückkehren würde und man über die möglichen Folgen sowohl für Boustead als auch für Findlay & Boisselot spekulierte.

Bis die beiden Männer Georginas Anwesenheit am Tisch gewahr wurden, sich hüstelnd unterbrachen und nach einer betretenen Pause einem anderen, leichteren Thema zuwandten, vorzugsweise dem Wetter. Bevor sie sich bald nach dem Dessert ins Arbeitszimmer oder auf die Veranda zurückzogen, um sich bei Tabakrauch und einem Glas Hochprozentigem ungestört weiter den Geschäften zu widmen.

Wie unverhoffter und auch ein wenig ungelegener Besuch empfand sich Georgina, bei dem man insgeheim darauf wartete, dass er wieder abreiste. In den seltenen und knappen, wie nebensächlichen Bemerkungen ihres Vaters. Einer Andeutung eines Lächelns dann und wann, dünn und vorsichtig, beinahe verstohlen. In der Art, wie Paul Bigelow ihr anbot, mit ihm und einem der syces frühmorgens auszureiten, sich nach ihren Plänen für den Tag erkundigte und eine Führung durch den Godown von Findlay & Boisselot am Commercial Square vorschlug, bei Gelegenheit. Eine beflissene Höflichkeit, hinter der zuweilen etwas anderes aufflackerte, aber unausgesprochen blieb.

Was wirst du mit dir anfangen – dort?

Eine Frage, die ihre Tante wiederholt aufgebracht und die Georgina stets mit einem Schulterzucken abgetan hatte. Jemandem wie Tante Stella, die sich mühelos durch das Wabengebilde britischen Lebensstils bewegte, ihr von Kindesbeinen an vertraut und mit ihr mitgewachsen, konnte sie nicht verständlich machen, wie sehr ihr Seelenfrieden von dieser Rückkehr abhing.

Nicht, um als unbeschriebenes Blatt von vorne anzufangen. Nicht, um nahtlos dort anzuknüpfen, wo die Fäden ihres alten Lebens vor sieben Jahren durchtrennt worden waren, vielleicht schon davor. Sondern um die Fäden, die sie an diese Insel banden, wieder in die Hand zu bekommen. Fäden, ohne die sie niemals komplett sein konnte. Spinnweben, zart und fragil und doch überdauernd und unzerstörbar, die alte Geheimnisse bargen. Fragen, die ohne Antwort geblieben, weil sie noch nicht gestellt worden waren. Geschichten, die es noch zu erzählen galt.

Wie soll dein Leben denn künftig aussehen?

Es war Tante Stella unbegreiflich, wie Georgina von dem Weg abweichen konnte, den sie ihr sorgfältig und nicht ohne Mühen gebahnt hatte. Indem sie sie unterrichten ließ, ihr Benimm beibrachte und die nötigen Feinheiten der Etikette. Damit ihre Nichte eines Tages eine gute Partie machen und sich als wertvolles Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft erweisen konnte.

Sie verstand nicht, dass Georgina erst in ihre Vergangenheit zurückkehren musste, um nach vorne schauen zu können.

Einmal mehr fing sich ihr Blick am Blätterdickicht des Wäldchens, nassglänzend und tropfend im nachlassenden Regen, dampfend unter der Hitze der hervorbrechenden Sonne. Jeden Tag nahm sie sich vor, den alten Pfad durch das überbordende Grün hindurch zu suchen. Nachzuschauen, was von ihrer Kinderzeit dort übrig geblieben war, Erinnertes wiederzufinden, Vergessenes wachzurufen. Doch auf all ihren Schlenderwegen durch den Garten hatte sie sich dieser Insel der Wildnis, einst so geliebt und ihr ein sicherer Hort, nie mehr als ein paar Schritte genähert.

Als wäre sie mittlerweile alt genug, um an Geister zu glauben, die dort lauerten.

Georgina zog die Knie an und strich gedankenverloren über den dünnen, verschossenen Stoff des braungemusterten Sarongs. Solange ihr Vater und Paul Bigelow nicht im Haus waren, lief sie barfuß umher und trug nach wie vor die Kleider ihrer Mutter, teils aus wehmütiger Sehnsucht, teils aus Trotz gegenüber Cempaka. Vielleicht war es dennoch an der Zeit, dass sie sich eigene Sarongs und Kebayas zulegte. Von dem Taschengeld, das Onkel Silas ihr für die Reise spendiert hatte, war noch einiges übrig; bestimmt würde ihr Vater ihr auch etwas geben, wenn sie ihn darum bat.

Sie sprang auf und lief ins Haus, um sich rasch eins ihrer leichten Sommerkleider überzustreifen.

Erinnerungen strömten zurück, während sie im Palanquin über die Küstenstraße ruckelte und Häuser auf der einen, Wellen und Schiffe auf der anderen Seite vor den Wagenfenstern vorüberschaukelten, an die sie früher nur bis zur Nasenspitze herangereicht hatte.

Viens, mon p’tit ange! Komm, wir gehen deinen Papa bei der Arbeit besuchen!

Oft war Maman mit ihr in die Stadt gefahren, in den Godown ihres Vaters, und nie ohne einen Korb oder eine Dose mit hausgemachten Süßigkeiten. Kozhukattai, Teigtaschen aus Reismehl und geraspelter Kokosnuss. Kaju Katli, eine Masse aus gemahlenen Cashewnüssen, mit Kardamom gewürzt und in Rhomben geschnitten, und Laddu, süße Bällchen, die Anish in immer neuen Sorten und Farben zauberte, mit Mandeln oder Pistazien, Früchten oder Sesam, weiß, gelb, grün oder orange.

Ihr Vater hatte sich immer über ihren Besuch gefreut, und während Maman und Papa bei einer Tasse Tee zusammensaßen, hatte Georgina, den Bauch übervoll mit Zuckerzeug, auf dem Boden mit Münzen aus fremden Ländern gespielt und Paläste aus Zigarrenkistchen errichtet.

Auf der Fahrt dorthin hatte Maman ihr erklärt, was sie gerade sahen oder ihr Abzählverse beigebracht. Oder sie hatten zusammen gesungen, Lieder, die Georginas grand-maman aus ihrer Heimat mit nach Indien gebracht hatte.

Sur le pont d’Avignon, L’on y danse, l’on y danse …

Ein Lächeln huschte über Georginas Gesicht, und unwillkürlich umfasste sie die Blechdose fester, die sie auf dem Schoß hielt: Khaja, süße Teilchen aus Weizenmehl, das weiche Innere vollgesogen mit Zuckersirup, die sie Anish vorhin abgeschmeichelt hatte.

Ratternd, polternd, gellend rollte der Lärm der Stadt auf den Palanquin zu und umtoste ihn wie ein reißender Strom. Georgina hörte den syce vorne fluchen, dann bremste der Wagen mit einem Ruck.

Georgina streckte den Kopf zum Fenster hinaus, vor dem ein riesiges Bündel Wäsche auf dem Kopf eines dhobi-wallah vorüberschaukelte. Der Palanquin stand zwischen anderen Wagen eingekeilt, die in dieselbe oder die entgegengesetzte Richtung wollten.

»Jati«, rief sie nach vorne, »was ist?«

Der syce drehte sich auf dem Kutschbock um. Der Palanquin der Findlays war einer der wenigen in der Stadt, der von dort aus gelenkt wurde, da Gordon Findlay die gängige Praxis, dass der syce neben dem Pferd einherlief, unmenschlich fand; dementsprechend stolz war Jati auf seine Arbeit, den Palanquin und Tuan Findlay.

Sein Gesicht, braun und zerfurcht wie eine Walnuss, war betrübt verzogen.

»Minta maaf, ich bitte um Verzeihung, Miss Georgina! Geht gleich weiter!«

Seufzend lehnte sich Georgina zurück. Von selbst begann eins ihrer Knie zu wippen, trommelten ihre Finger einen schnellen Takt auf den Rand der Blechdose, und sie beugte sich zum Fenster hinaus. Jetzt konnte sie weiter vorne ein Ochsengespann erkennen, das quer stand und sich offenbar keinen Inch vor- oder zurückbewegte. Die beiden zartgrauen Rinder harrten mit gesenkten Köpfen reglos aus, stocktaub gegenüber gebrüllten Befehlen, lockenden Rufen und Peitschenknallen.

Hinter dem Ochsengefährt war schon der Brückenbogen in Sicht, über den sich in zwei gegenläufigen Perlschnüren Karren und Wagen mal stockend, dann wieder geschmeidiger bewegten.

Georgina erinnerte sich: Bis zu dieser Brücke hatte der syce sie früher immer gebracht, schmaler damals und noch nicht von Wagen befahren. Danach waren sie zu Fuß weitergegangen, Georginas kleine Hand fest in der von Maman, die in ihren weiten Röcken forsch ausschritt, den Kopf hoch erhoben und die Ränder des riesigen Strohhuts im Wind flappend. Bewundernd hatte Georgina immer wieder zu ihrer Mutter aufgeschaut, die schmal und feingliedrig war, aber so stolz, so furchtlos wirkte, dass jedermann sofort Platz machte. Als sähe man ihr an, dass sie in Indien ihre Brüder auf Tigerjagden begleitet hatte.

Wie eine Löwin sah sie aus, hatte Georgina oft gedacht, mit den schmal zulaufenden braunen Augen, golden und grün gesprenkelt, besonders, wenn ihr tiefbraunes Haar morgens und am späten Abend gelöst über ihre Schultern floss, schwer und seidig-glatt. Für Georgina mit ihren vier Jahren war es ein zweifach tüchtiger Marsch gewesen, nach dem sie meistens schon während der Rückfahrt auf Mamans Schoß einschlief. Eine Strecke, die heute gewiss nur mehr ein Katzensprung wäre, denn Singapur war keine große Stadt, fast zu klein für all die vielen Menschen, die Fuhrwerke und Unmenge an Waren und ihre Entfernungen überschaubar.

Georgina hielt es nicht länger aus; sie riss den Wagenschlag auf und sprang aus dem Palanquin.

»Ich geh schon voraus«, rief sie dem syce zu. »Komm einfach nach, sobald es wieder vorangeht!«

Jati riss die Augen auf, und seine Stimme überschlug sich.

»Nicht, Miss Georgina! Geht doch gleich weiter! Warten Sie! Bitte, Miss Georgina!«

Fröhlich winkte Georgina ihm zu und schlüpfte zwischen den anderen Wagen hindurch.

… sur le pont d’Avignon L’on y danse tout en rond.

Die Gebäckdose unter den Arm geklemmt, sang Georgina leise vor sich hin, und im Takt ihrer langen Schritte tanzte ihr Hut an den vorne verknoteten Bändern über ihren Rücken. Frei und leicht war ihr zumute, während sie die Steigung der Brücke hinauflief, den bunten Fassaden der chinesischen Godowns entgegen, auf scharlachroten Bannern Schriftzeichen in Schwarz und Gold, die an Kraniche und Pagoden erinnerten, an Blütenzweige, Palmblätter und Sternblumen. Viel später war sie mit Ah Tong noch einmal hier gewesen; wann genau und warum, das wusste sie nicht mehr. Aber sie erinnerte sich noch an die kleinen Läden und Buden jenseits der Godowns, an eine Flut fremdartiger, bunter Dinge und überwältigend intensiver, teils aufregend neuer Gerüche und an chinesische Gesichter, die sie freundlich ansahen.

Obwohl sie vorhin vor Ungeduld beinahe zersprungen wäre, blieb sie auf dem höchsten Punkt der Brücke stehen, in einem seltsamen Schwebezustand zwischen hoch aufschießender Freude und stiller Seligkeit. Die Unterarme auf dem Sims, blinzelte sie in die Sonne und sammelte Fragmente aus Licht, Farbe, Gerüchen, Bildern und Klängen.

Das Glucksen des Flusses gegen Bootsrümpfe. Der Schwung, mit dem die Coolies einander Kisten zureichten, in dem die Sehnen und Adern ihrer dünnen Arme hervortraten wie stramme Paketschnur. Jadegrün. Azurblau. Mohnrot. Schallendes Lachen irgendwo und ein munter gepfiffenes Liedchen. Der feuchte, dumpfe Geruch von Schlamm und darunter der zibetgleiche Bodensatz von night soil, dem Schmutz der Nacht, wie man hier die Abwässer der Stadt nannte. Die Säure von nassem Stein, Holz und Moos, Moder und Schimmel. Schritte, die hinter ihr vorbeieilten; Hufe, die vorüberklapperten, das Rattern von Wagenrädern. Schnelle, auf- und abflatternde Folgen der nasalen Zischlaute des Chinesischen und die dunkleren, beweglicheren der malaiischen Dialekte. Die aufgemalten Augen am Bug der Tongkangs, die mit ihrem scharfen Blick Gefahren auf dem Weg entdecken sollten. Die Form und Struktur der Wolken am Himmel. Eine Ahnung von Zimt und Kardamom, Kohlenstaub und Sägespänen und der beißende, betäubende Duft von Räucherwerk, das zum Schutz vor Unheil und als Opfergabe auf dem Kai vor sich hin glomm. Das Klingeln von Metall gegen Metall und ein goldenes Aufblinken in der Ferne. Der Wind auf ihrer Haut, der einen Gruß des nahen Meeres mit sich trug.

Es war nicht die Schuld der Gillinghams, dass sie nie in London heimisch geworden war. In ihrem Äußeren, ihren Farben eine Findlay durch und durch, war sie dort trotzdem immer eine Fremde geblieben, in den Tiefen ihres Seins so früh von den Tropen geformt und geprägt. Sie mochte ihr Essen scharf und vielfältig gewürzt, Süßes konnte ihr nicht süß genug sein, bis es in den Zähnen ziepte, und ihre Lieblingsfarben waren kräftig bis grell. Ihr Blut schien zu dünn für die Kühle Englands, selbst im Sommer, sie selbst zu leicht erregbar, zu maßlos in ihren Empfindungen. Was so wenig zu ihr passen mochte, die nach außen hin oft so still, so zurückhaltend wirkte, einer wohlgefälligen Fügsamkeit zum Verwechseln ähnlich.

Unter der filigran ziselierten, dezenten und wohlgeordneten Oberfläche Englands vermisste sie immer etwas Urwüchsiges, Elementares. Ein Überschwang in allen Dingen. Eine gewisse Art von Leidenschaft. Etwas Magisches.

Georgina stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich weit über den Sims. Als könne sie dort unten, in den sanften, brackigbraunen Wellen des Singapore Rivers, nicht nur ihre Kindheit wiederfinden, sondern auch ihre Zukunft geweissagt sehen.

Kurze, zuschnappende Rufe schreckten sie auf. In einem der Boote am Kai standen zwei Coolies, die sie mit breitem Grinsen taxierten und ihr Worte zuwarfen, die sie nicht verstand.

Georgina wurde rot; abrupt löste sie sich vom Brückensims und wollte sich schon hastig abwenden. Ein Blick aus dunklen Augen hielt sie jedoch fest und zog sie unnachgiebig zu sich heran.

Augen wie satte Tropfen eines schwarzen Ozeans, ruhig und unergründlich; fragend, zweifelnd, hoffend.

Reine Neugierde hatte ihn aufblicken lassen, als er dabei war, das Segel seines Bootes zu hissen. Am Morgen noch schwer von den Schätzen des Meeres, schaukelte es leicht wie ein Korken auf dem Wasser und zerrte ungeduldig an der Leine, mit der es am Kai vertäut war.

Sein Chinesisch war nicht besonders gut, umfasste kaum mehr das Nötigste: einzelne Worte und Redewendungen, die er über die Zeit aufgeschnappt hatte. In den Godowns der taukehs, in denen er auf Malaiisch begrüßt wurde und auf Malaiisch feilschte. Auf den Straßen der Stadt und hier am Boat Quay. Es genügte jedoch, um herauszuhören, was die beiden Coolies in seiner Nähe in solche Aufregung versetzte. In dem guten Gefühl, den Rest des Tages alle Zeit der Welt zu haben, auch für eine solche Nebensächlichkeit, folgten seine Augen den Blicken der beiden. Hin zu der jungen Frau, fast ein Mädchen noch, die sich über den Rand der Thomson’s Bridge beugte.

Während die Coolies noch darum stritten, ob sie nun eine ang mo char bor, eine Weiße war, obwohl sie weder rote noch bleiche Haare hatte, oder vielmehr eine chap cheng kia, eine Frau von gemischtem Blut, verlosch das kleine Grinsen auf seinem Gesicht.

Die Narben auf seinem Arm, seinem Bein, nicht die jüngsten, die sein Leib aufwies und längst verheilt, begannen leise zu pochen. Zart und zitternd wie ein Schmetterlingsflügel streifte ihn die Erinnerung, noch bevor er sie wirklich erkannt hatte oder auch nur eine Ähnlichkeit ausmachen konnte.

Die beiden Coolies schleuderten Bemerkungen zu ihr hinauf, die so klangen, wie sie es wohl überall auf der Welt taten, wenn Männer eine Frau auf sich aufmerksam machen wollten, die ihnen gefiel: halb ungeschickte Komplimente, halb zotig. Hastig richtete sie sich auf, und die Erinnerung traf ihn mit ganzer Wucht. Wie ein Hieb in die Magengegend, der ihm den Atem nahm.

Ihr Haar, gescheitelt und am Hinterkopf zusammengenommen, war so dunkel, wie er es im Gedächtnis behalten hatte, tiefbraun wie poliertes Palmholz. Dicke Strähnen kringelten sich in ihr noch immer schmales Gesicht, in seinen klaren Konturen offener als früher, mit einer Spur femininer Weichheit, gerade genug, um es eher interessant erscheinen zu lassen als einfach nur hübsch.

Eine feine Röte hatte sich auf ihre hohen Wangenknochen gelegt und vertiefte sich, als ihr Blick mit seinem zusammentraf. Ihre Brauen, eben noch verärgert zusammengekniffen, lockerten sich, hoben sich dann zu einer stummen Frage.

Die Leine des Segels glitt aus seinen Fingern, voller Staunen, was aus dem seltsamen kleinen Mädchen geworden war. Das ihn in diesem Häuschen im Garten gefunden hatte, sein Bein zusammenflickte und seine Hand hielt, als er im Fieber lag.

Sieben Jahre musste es her sein, er hatte sie mitgezählt.

Die Zeit der östlichen Winde war es gewesen, so wie jetzt, die im Kalender der Orang Putih auf die Monate Februar, März, April fiel, je nach Jahr auch bis weit in den Mai hinein.

Es waren ihre Augen, die den letzten Zweifel fortwischten. Diese merkwürdigen Augen mit dem dunklen Wimpernsaum, in demselben tiefen Blau, fast Violett wie der Abendhimmel, kurz bevor die Dunkelheit hereinbricht. Augen, die er unter Tausenden wiedererkennen würde.

Nie wieder hatte er solche Augen gesehen, obwohl er immer danach Ausschau gehalten hatte.

Nilam.

Lautlos formte sein Mund ihren Namen, dann hob er langsam die Hand.

Ein Funke des Wiedererkennens glomm in ihrem Blick auf, und in seinen Ohren begann es zu rauschen. Und als es um ihren Mund zuckte, sich ein zaghaftes Lächeln abzeichnete, riss es ihn mit fort wie die Welle, die ihn damals an Land geschwemmt hatte.

Für einen Moment war die Zeit stehengeblieben und strömte dann rückwärts.

Georgina war wieder neun, fast zehn. Unter ihren Fingern spürte sie die Haut des Piratenjungen, den das Meer zu ihr gebracht und ihr danach wieder genommen hatte. Der junge Meermann, der sie mit seinen Erzählungen der fremden Welt, aus der er kam, betört und verzaubert hatte.

Sie erinnerte sich an die Gezeiten seines Atems, wenn er schlief. Wie ihre Stirnen sich über den Buchseiten fast berührten und an ihre kleine Hand in seiner großen. Ihr Selkie, der sie mit so viel Sehnsucht im Herzen zurückgelassen hatte.

Jäh stürzte Georgina zurück ins Heute, als der Mann, der Raharjos Augen hatte, vom Boot auf den Kai sprang und loslief, auf die Brücke zu. Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart gerieten aus dem Gleichgewicht, prallten aneinander, brachen sich gegenseitig auf, und Georgina verlor den Boden unter den Füßen. Mit einem Mal unsicher und scheu, wollte sie flüchten, sich in aller Eile irgendwo ein Versteck suchen und darin verkriechen. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht; die Blechdose in den überkreuzten Armen an sich gepresst, starrte sie ihm entgegen, ein Tosen im Bauch.

Ein Lachen stand auf seinem Gesicht, hell leuchtend gegen seine braune Haut wie das weiße Hemd, das er trug. Sein lockerer Laufschritt verlangsamte sich, und er blieb vor ihr stehen.

Georgina wand sich unter seinem Blick, mit dem er jedes noch so kleine Detail von ihr in sich aufzunehmen schien; vielleicht aalte sie sich auch darin, sie war nicht sicher.

»Nilam.«

Wie selbstverständlich strich er über den Ärmel ihres blassblauen Kleides, berührte sie kurz am Ellbogen, so behutsam, dass sie kaum mehr spürte als eine flüchtige Wärme.

»Schau dich nur an. Wie eine feine Nyonya siehst du aus.«

Seine Stimme war noch tiefer geworden; weich und aufgeraut klang sie, ein dunkler Teppich mit dichtem Flor.

Raharjo. Sie musste den Kopf anheben, um ihm ins Gesicht zu sehen.

Der schlaksige Jungenleib von damals, nichts als scharfe Winkei und spitze Knochen, hatte sich zu dem eines Mannes ausgewachsen, geschmeidig und kraftvoll. Wie auch seine Züge zu einer maskulinen Harmonie gefunden hatten, massiv, fast hart und von einer herben Schönheit.

Gewaltsam löste Georgina ihren Blick von seinem Mund, der sie mit seinem sinnlichen Schwung verwirrte, und nickte zum Kai hinüber. »Dein Boot?«

»Mein Boot«, bekräftigte er. »Und draußen vor der Küste ankert mein Schiff. Nicht groß, aber schnell.«

Ein Lächeln schien auf Georginas Gesicht auf, das sogleich wieder erstarb, als der alte Kummer sich ihr aufdrängte.

»Warum bist du nie zurückgekommen?«, flüsterte sie mit gesenktem Kopf.

Sie spürte seine Augen auf sich.

»Ich bin zurückgekommen, Nilam. Mehr als einmal. Aber dich habe ich nie wieder gesehen.«

Georgina nickte. »Ich war …« Ihre Zunge kämpfte schwerfällig mit den Lauten des Malaiischen. »Ich war einige Jahre fort. Bei … Verwandten. Erst seit ein paar Tagen bin ich wieder hier.«

Ruhelos war ihr Blick umhergewandert, bis er an Raharjo Halt fand.

Er sah sie an, als suche er in ihren Augen das kleine Mädchen, das er vor sieben Jahren zuletzt gesehen hatte. Als versuche er zu ergründen, wo sie gewesen, was sie erlebt hatte und wer sie geworden war.

»Miss Georgina!«

Sie fuhr herum. In einer lockeren Reihe von Wagen rumpelte der Palanquin von L’Espoir die Brücke herauf, und Jati winkte ihr aufgeregt vom Kutschbock aus zu.

»Hier, Miss Georgina! Hier!«

Unwillkürlich wandte sie sich halb von Raharjo ab, verharrte jedoch unschlüssig auf der Stelle.

»Warte.« Er fasste sie beim Ellbogen und zog sie zu sich heran. »Morgen? An unserem alten Platz?«

Georgina konnte nur nicken, dann eilte sie wie auf Wolken über die Brücke. Noch bevor der Palanquin richtig zum Stehen gekommen war, riss sie den Wagenschlag auf und kletterte hinein.

Der Wagen rollte wieder an, und Georgina lehnte sich zum Fenster hinaus.

Aufrecht stand Raharjo da und sah ihr hinterher, barfuss, in seinen hellen Hosen und dem einfachen Hemd, das schwarze Haar vom Wind durchkämmt.

»Alles gut, Miss Georgina?«, rief es von vorne, als sie die Brücke hinabschaukelten und Raharjo aus Georginas Blickfeld verschwand.

»Alles gut, Jati!«

Durchatmend warf sich Georgina gegen die Lehne und lauschte dem glückstrunkenen Trommeln ihres Herzschlags.

Ihr Selkie war zu ihr zurückgekehrt.

Zeit der wilden Orchideen

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