Читать книгу Zeit der wilden Orchideen - Nicole-C. Vosseler - Страница 12

4
___________

Оглавление

Zischend schnitt der Kiel des Schiffs durch die Wellen.

Im Schatten unter dem Sonnensegel blinzelte Georgina auf das Meer in Türkisgrün und Indigoblau hinaus und klaubte immer wieder Strähnen ihres Haares aus dem Mund, die ihr der Wind fortwährend ins Gesicht blies.

Die Bungalows entlang der Beach Road hatten sie längst hinter sich gelassen. Den Istana, den Palast des Sultans von Johor, eine prächtige zweistöckige Villa inmitten weitläufiger Gärten, und das malaiische und arabische Viertel von Kampong Glam mit seinem kleinen, geschäftigen Hafen. Bis auf einzelne Siedlungen von einfachen Holzhäuschen, palmblattgedeckt und auf Stelzen halb ins Wasser gebaut, drängte sich seit geraumer Zeit nichts als Dschungel ans Meeresufer. Ein hoch aufschießender Wall aus Gehölz und Laubwerk, überquellend in seiner grünen Saftigkeit, seiner Urwüchsigkeit. Wie eine Reise in die Vergangenheit war diese Fahrt, zurück zu den Ursprüngen der Insel.

Georgina wandte den Kopf.

»Willst du mir nicht endlich verraten, wo es hingeht?«

Die Augen weiter unverwandt geradeaus gerichtet, zeichnete sich ein Lächeln auf Raharjos Gesicht ab.

»Erst wenn wir dort sind.«

Entspannt und doch mit wachen Sinnen steuerte er das Schiff. Ab und zu hob er die Hand, wenn ein Perahu seinen Weg kreuzte oder sie an einer Flotte kleiner Fischerboote vorbeisegelten, und erwiderte einen Gruß im eigenwilligen Zungenschlag der einheimischen Völker.

Wie leichtfüßig, beinahe katzengleich, er sich über die Planken bewegte, so selbstverständlich mit den Leinen und Segeln hantierte, wie er atmete, verriet, wie sehr er auf dem Meer zu Hause war. Als wären sein Leib und der Leib des Schiffs eins, beide schlank, beide wendig und das polierte Holz von fast derselben Farbe wie seine Haut.

Kleiner als eine chinesische Dschunke, war das Schiff doch größer, als Georgina erwartet hatte, mit viel Stauraum unter Deck und einer Koje, in der spartanische Kahlheit das Durcheinander einfachen Lebens beherbergte: ein paar Hemden und Hosen, eiserne Töpfe und Schalen aus glasiertem Ton, eine Lampe. Größer als die Perahus war es, die Georgina schon vom Strand aus gesehen hatte; wohl genauso groß wie die Schiffe der Bugis und mit dem langen Bugspriet auch von ähnlicher Form, wie ein Schwertfisch.

»Warum hat dein Schiff keinen Namen?«

Seine Brauen hoben sich. »Braucht es denn einen?«

»Natürlich braucht es einen! Wie Seagull oder Morning Star. Etwas, das mit dem Meer zu tun hat. Wie Neptun oder Triton. Den Namen einer Stadt oder eines Flusses. Oder einen Frauennamen! Viele Schiffe tragen weibliche Namen. Wie Mary Ann oder Emma oder …«

»… oder Nilam?« Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem Grinsen.

Georgina wurde rot und senkte den Blick auf die beiden Bücher in ihrem Schoß, die Raharjo ihr vorhin unter Deck gegeben hatte. Nicht die zwei, die damals fehlten, als er eines Morgens verschwunden war; jedes Mal, wenn er in den Pavillon zurückkehrte, brachte er die Bücher wieder, die er sich zuvor geborgt hatte, und nahm andere dafür mit.

Zärtlich streichelte Georgina über die Schrammen und Brüche im Einband, den schrundigen, gekräuselten Buchschnitt. Sie stellte sich vor, wie diese Bücher Raharjo auf seinen Reisen durch die Inselwelt Nusantaras begleitet hatten, in müßigen Stunden hier an Deck vielleicht oder im Lampenschein einer stillen Nacht, die er irgendwo in einer Bucht vor Anker lag.

Und sie wünschte sich, dass seine Gedanken dann manchmal zu dem kleinen Mädchen gewandert waren, das sie einmal gewesen war.

Er konnte sich nicht sattsehen an ihr. Gerade in solchen Augenblicken, wenn sie in ihre Gedanken vertieft war und sich unbeobachtet glaubte; vermutlich ahnte sie nicht, dass sich jede ihrer Regungen auf ihrem Gesicht widerspiegelte wie das Spiel von Wolken und Sonne auf den Wellen.

Wieder und wieder fuhr er mit seinen Blicken ihr klares Profil entlang und verfing sich jedes Mal im Schwung ihrer dichten Wimpern, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, sie würde im nächsten Moment aufblicken und ihn dabei ertappen, wie er sie anschaute. Unter ihrer stillen Art schien immer ein Sturm zu schwelen, der jederzeit losbrechen konnte, und wie eine Tropeninsel, die auf dem Gipfel der Hitze nach dem erlösenden Gewitter lechzt, konnte er nicht erwarten, sich in diesen Sturm zu stellen.

Doch noch immer konnte er sich keinen Reim machen auf dieses seltsame Mädchen, das Nilam war.

Das wie eh und je barfuss und in abgetragenen Sarongs und Kebayas umherlief, während das große Haus jenseits des Dickichts von Geld und Macht kündete. Bei dem es damals wie heute niemanden zu kümmern schien, wenn es sich fortstahl, um ganze Tage in einem verborgenen Winkel des Gartens zu verschwinden.

Nackte Wut packte ihn, wenn er an ihren Vater dachte, diesen feinen Tuan, von dem er weder Gesicht noch Namen kannte. Dieser Orang Putih, dem seine Tochter derart gleichgültig war und sein Kind aufwachsen ließ wie wildes Kraut, zufällig in lockeren Sand gesät, ohne dass es wusste, wo es hingehörte.

Etwas unendlich Trauriges ging von ihr aus, besonders, wenn sie von ihrer Mutter sprach, die schon lange tot war. Etwas so schmerzlich Verwaistes, dass er nicht nachzufragen wagte, um nicht an diesem alten Schmerz zu rühren. Kein Wunder, dass sie wie von einem finsteren Schatten umgeben war, ihre Augen manchmal fast wund wirkten, wie ein frischer Bluterguss.

Sie hob den Kopf und fing seinen Blick auf, ließ diesen Blick jedoch sogleich wieder fallen, als sei sie diejenige, die ertappt worden war, bevor sie ihn erneut aufgriff. Ihre Augen hellten sich auf, in einem Strahlen, das sich auf ihrem ganzen Gesicht ausbreitete und ihn weich in den Knien werden ließ.

Ein kaum merklicher Wechsel im Rhythmus der Wellen unter ihm weckte ihn auf.

»Wir sind da«, sagte er, leise und rau.

Georgina sah ihm zu, wie er das Schiff zur Küste hin drehte, den Anker auswarf und die Segel reffte. Sie legte die Bücher beiseite und stand auf.

»Machst du immer alles allein auf dem Schiff?«

»Manchmal heuere ich zwei oder drei Männer an«, erklärte er, während er das Beiboot hinabließ. »Orang Laut wie ich. Die an Bord mit Hand anlegen und das Schiff bewachen, wenn ich an Land gehe.« Er kletterte die Strickleiter hinunter.

»Aber nicht heute«, flüsterte Georgina über die Reling hinweg, als begreife sie erst jetzt, dass sie beide hier ganz allein waren. Wie blind sie sich ihm anvertraute.

»Nein.« Ernst sah er sie an und streckte die Hand nach ihr aus. »Heute nicht.«

In einer schmalen Meerenge lag das Schiff vor Anker; dort, wo sich die Küste Singapurs zur malaiischen Halbinsel hinüberreckte und dazwischen kleine Inseln wie Splitter aus grünem Glas in der Sonne aufglänzten. Dunst verwischte die Konturen der Hügel und der mächtigen Mangroven, die ihr Netz aus Luftwurzeln ins Meer auswarfen und unter tief herabhängenden Ästen schattige Höhlen schufen.

Ein geheimer, ein verschwiegener Ort. Der Tempel einer Wassergottheit. Ein Hort vergrabener Schätze. Ein Schlupfwinkel für Piraten.

»Pulau Seranggong«, erklärte Raharjo mit einem Blick über die Schulter, während er das Boot mit kräftigen, gleichmäßigen Ruderschlägen durch das türkishelle Wasser trieb. »Die Insel von Serangoon.«

Ein Name, so paradiesgleich wie die dicht bewachsene kleine Insel, auf die sie zuglitten. Der das leuchtende Blau von Wasser und Himmel in sich trug und das Grün des Dschungels.

»Serangoon.« Georgina ließ sich die weichen Laute auf der Zunge zergehen. »Ich könnte mir keinen schöneren Namen für dein Schiff vorstellen.«

Raharjo schwieg, aber sie sah ihm an, dass ihm dieser Vorschlag gefiel. Der Kiel schrammte über festen Grund; Raharjo sprang aus dem Boot, um es auf den Strand hinaufzuziehen, und Georgina tat es ihm gleich. In einer schnellen Bewegung zog er sich das Hemd über den Kopf und schleuderte es ins Boot.

»Und jetzt lernst du schwimmen!«

Er packte Georgina bei der Hand und lief so schnell los, dass sie lachend halb neben ihm herrannte, halb stolperte, in die aufspritzenden Wellen hinein.


Raharjo war ein guter Lehrmeister.

Schien das Wasser anfangs zu flüchtig, um sie zu halten, ihr Leib unbeweglich und massig wie ein Fels, dazu verdammt unterzugehen, lernte Georgina nach und nach, dem nassen Element zu trauen. Sich von ihm tragen zu lassen und aus eigener Kraft darin fortzubewegen kam ihr bald ganz natürlich vor. Auch wenn sie sich plump und schwerfällig fühlte neben Raharjo, der schon schwimmen konnte, bevor er sicher auf zwei Beinen lief.

In eleganten Zügen glitt er durch das Nass und tauchte geschmeidig bis auf den Grund, scheinbar ohne den Drang zu verspüren, jemals wieder Atem zu schöpfen. Den flinken Ottern nicht unähnlich, die sie beobachteten, wenn sie nebeneinander im Sand saßen, bis Raharjos Hosen, Georginas Sarong und Kebaya auf ihrer Haut getrocknet waren.

Das Grüblerische, Schwermütige, das zuweilen von ihm Besitz ergriff, seine Stirn dann umwölkte, seine Augen verhärtete, fiel im Wasser von ihm ab. In ein Meerwesen verwandelte er sich dort, unbeschwert und frei, am Ziel seiner Sehnsüchte.

Sein schlanker Körper, von Muskelsträngen quergerippt und in schmale Hüften auslaufend, seine starken, sehnigen Arme waren wie geschaffen für ein Leben im Ozean. Manchmal war es Georgina beinahe, als könne sie einen Ansatz von Kiemen oder Schwimmhäuten an ihm entdecken, der beim nächsten Wimpernschlag bereits wieder verschwunden war. Jedes Mal, wenn er aus dem Meer hervorbrach und sich lachend das triefende Haar zurückstrich, Wasser von seiner Haut, braun wie Palmzucker, tropfte und zwischen den Muskelsträngen hinabrann, war sie froh darum, ihr glühendes Gesicht in den Wellen zu kühlen.

Für Raharjo glich sie einer Nixe, ab dem Tag ihrer Geburt ihrem Ursprung entfremdet und endlich heimgekehrt, ein wenig unbeholfen noch in dieser neuen, aber zunehmend vertrauten Welt. Eine Sirene, deren Anblick ihn betörte, wenn der hochgerutschte Saum des Sarongs ihre langen Beine enthüllte. Sein Blut rauschend durch seine Adern strömen ließ, wenn nasser Stoff durchscheinend auf ihrer Haut haftete und die noch schüchternen Rundungen ihres Leibes, biegsam wie junger Bambus, preisgab.

Und wenn sie sich mit ihm auf den Grund sinken ließ, in dieses jadegrüne Licht hinein, ihre Finger mit seinen verschränkt, ihr Haar dann um sie herumfloss wie Seegras und Luftbläschen über ihren lächelnden Mund perlten, war es, als lege sie in ihren Augen ihre Seele bloß.

Hier, an den silbrigen Stränden der Straße von Johor, fühlte Raharjo, wie stark das Band war, mit dem Nilams Seele an der Insel von Singapur hing.

Wie sehr sie ein Kind Nusantaras war, genau wie er.

Sanft schaukelte das Boot den Sungai Seranggong, den Serangoon River, entlang.

Die Luft, die an der von Fischerbooten gesäumten Mündung noch die herbe Leichtigkeit des Meeres gehabt hatte und die salzige Frische des nahen Fischmarkts, war hier schwer von gewässerter Erde und Dung und der Süße reifer Früchte. Rauchfähnchen stiegen zwischen den kleinen Holzhütten mit ihren gepflegten Gärtchen auf, in denen malaiische Frauen und Männer werkelten und Hühner gurrten und gackerten.

Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein, lange bevor Sir Stamford Raffles zum ersten Mal einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte; vielleicht hatte Zeit hier auch nie eine Rolle gespielt.

Aus einer der alten malaiischen Siedlungen wie dieser hier musste Cempaka stammen. Georgina wusste nicht viel über ihre Ayah; nur, dass sie hier auf der Insel geboren und aufgewachsen war, ehe sie um die Zeit von Georginas Geburt nach L’Espoir kam. Irgendwann danach hatte Ah Tong den alten malaiischen Gärtner ersetzt, der für diese Arbeit zu gebrechlich geworden war, dann lange um Cempaka geworben und mit dem Segen des Tuans und der Mem schließlich geheiratet. Georgina glaubte sich blass an ein kleines Fest im Garten zu erinnern und an Musik und Gesang aus den Dienstbotenquartieren bis in die Nacht hinein; möglich, dass sie auch nur eine Erzählung davon aufgeschnappt hatte, sie musste damals wirklich noch sehr klein gewesen sein.

Eine Handvoll nackter Kinder sprudelte irgendwo zwischen den Gärten hervor, rannte jauchzend neben dem Boot her und sprang kreischend und quietschend in sein Kielwasser.

Lachend richtete Georgina den Blick wieder nach vorne, zu Raharjo, der sie den Fluss hinaufruderte. Auch sein Mund zeigte ein Lächeln, und ein heiterer Funke glomm in seinen Augen auf.

Hinter den Gärten breitete sich ein Mosaik aus Gemüsebeeten und kleinen Feldern aus, verschwand dann unter kräftigen Sträuchern, und der Fluss wand sich in ein schattiges Gewölbe hinein.

Bis zum Himmel reckten sich die Bäume empor und neigten sich einander entgegen, ließen nur einen schmalen blauen Streifen hoch oben über Georginas Kopf übrig. Einzelne aus den Laubkronen ausgestanzte Flecken von Himmelstuch und Sonnenlicht rissen weiter auf, wenn der Mast des Bootes überhängende Zweige streifte. Das smaragdene und bläuliche Grün der Blätter, manchmal ins Gelb oder Rot spielend, manchmal fast schwarz, sprenkelte das gedämpfte Licht, in dem Reiher zu ihrem majestätischen Flug aufbrachen, und Vögel pfiffen und trillerten.

Tiefer und tiefer ruderte Raharjo sie in diese Welt jenseits der Zeit hinein, bis er die beiden Paddel an Bord holte und das Boot auslaufen ließ. Er reckte den Arm nach einem kräftigen Ast, zog das Boot heran und vertäute es.

Die Unterarme locker auf den Knien, saß er eine Weile einfach nur da und schaute die Biegung des Flusses entlang, an Georgina vorbei.

»Das ist mein Land«, sagte er schließlich. »Von da vorne«, er deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und wandte sich dann halb um. »Bis dort hinauf.« Seine Handfläche überstrich das Ufer zu seiner Linken. »Bis zur Serangoon Road – alles mein Land. Seit gestern.«

Als müsse er sich selbst dessen versichern, wiederholte er leise: »Mein Land. Auch wenn es noch dauern wird, bis ich das Geld zusammenhabe, um ein solches Haus darauf zu bauen, wie ich es mir vorstelle.«

Georginas Blick wanderte über die verwunschene Flusslandschaft; es wäre herrlich, hier zu wohnen.

Zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung davon, was Raharjo tat, wenn er zwischendurch für einige Tage fort war; das, was er stets in einem kargen Geschäfte zusammenfasste und ihr die Zeit mit ihm noch kostbarer machte. Sie versuchte sich vorzustellen, was für eine Art von Haus Raharjo hier wohl bauen würde, doch es gelang ihr nicht. Raharjos Zuhause war für sie das Meer, seine Behausung das noch immer namenlose Schiff, das Georgina an die Schneckenhäuser der Einsiedlerkrebse erinnerte, die über die Strände der Insel krabbelten.

»Du und ein Haus an Land?«

Um seinen Mund zuckte es, halb belustigt, halb spöttisch.

»Wir Orang Laut haben immer schon Häuser gebaut, Nilam. Es gibt Stämme, die ganze Dörfer auf Stelzen ins Wasser hineinbauen. Doch wir bauen nicht für die Ewigkeit. Meist nur Pondoks, einfache Hütten am Strand, aus dem, was uns der Wald an der Küste gibt. Für die Dauer eines Monsuns. Oder wenn eine unserer Frauen ihr Kind lieber im Schutz eines Pondoks zur Welt bringen will. Danach brechen wir diese Hütten wieder ab, verwenden Holz, Bambus und Blätter für unsere Boote und ziehen weiter.«

Er schaute auf den Fluss hinaus. Seine Gedanken bildeten sich auf seinem Gesicht ab, in schwachen, kaum merklichen Bewegungen wie die Dünung einer windstillen See. Bis sich seine Brauen finster zusammenzogen und er angestrengt auf seine Hände starrte, während er mit dem Daumen über die Innenfläche seiner anderen Hand rieb.

»Die Zeiten haben sich geändert, Nilam. Vor allem für uns Orang Laut. Für die Malaien waren wir immer ein wildes Volk, mit seltsamen Bräuchen und unverständlicher Sprache. Ein Volk mit eigenen Gesetzen und ohne rechten Glauben. Menschenfresser und Hexenmeister.«

Ein Grinsen blitzte auf seinem Gesicht auf, zeigte seine weißen, geraden Zähne, und aus seinen Augen loderte der Stolz auf sein Volk. Auf das, was er war.

»Immer schon haben sie uns gering geschätzt und gleichzeitig gefürchtet. Weil wir starke, unerschrockene Krieger zur See sind und den Wind und das Meer im Blut haben. Solange der Sultan von Johor und sein Temenggong uns brauchten, waren wir angesehen. Wir waren die Wächter ihres Reiches, ihre Soldaten im Krieg. Wir bauten ihnen Schiffe und Boote und sorgten dafür, dass ihre Schatullen gut gefüllt waren.« Seine Mundwinkel bogen sich abwärts, abschätzig, beinahe verächtlich. »Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt sind die Orang Putih die Herrscher der Meere. Mit ihren Kriegsschiffen, ihren besseren Waffen. Sie sind es jetzt, die Macht und Reichtum von Sultan und Temenggong sichern. Die im Gegenzug alles tun, damit kein Orang Laut mehr in den Gewässern um Singapur auf Beutezug geht und die Orang Putih verärgert. Der Temenggong hat gar ein Ehrenschwert vom Gouverneur der Orang Putih erhalten, als Auszeichnung für seine Verdienste im Kampf gegen die Piraten.«

Georgina zog die Knie näher zu sich heran, legte die überkreuzten Arme darauf und schmiegte ihr Gesicht dagegen.

Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, inwieweit Händler wie Gordon Findlay diesen Teil der Welt veränderten. Allein durch ihre bloße Anwesenheit brachten sie ein Gefüge, das seit Jahrhunderten Bestand gehabt hatte, aus dem Gleichgewicht und formten es neu. Dabei klang in allem, über das ihr Vater und Paul Bigelow bei Tisch sprachen, etwas Provisorisches, Schnelllebiges an, als sei die Handelsstadt von Singapur eine Blase, die jederzeit platzen konnte.

Deshalb waren die Straßen auch so schlecht, von Unrat übersät und von streunenden Hunden heimgesucht, bei Flut vom Singapore River überschwemmt, bei Einbruch der Dunkelheit von Funzeln mehr schlecht denn recht beleuchtet. Die Verwaltung in Calcutta ließ die Geschicke der Stadt in den Händen der Händler ruhen, deren Augenmerk jedoch ausschließlich auf das Kaufen, Verkaufen und Verschiffen von Waren gerichtet war. Nicht darauf, aus Singapur eine Stadt zu machen, in der es sich gut leben ließ. Weil keiner von ihnen wusste, ob er morgen oder in einem Jahr noch hier sein würde.

»Mein Stamm musste sich auf Befehl des Temenggong am Sungai Kallang niederlassen.« Seine Stimme, sonst so samtig, dass sie sich darin einhüllen wollte, klang rau und kratzig. »Und der Stamm, der im Kallang lebte, seitdem es Menschen auf der Insel gibt, wurde nach Johor gebracht, um in den Wäldern des Sultans als seine Knechte zu schuften. Bis ihn eine Seuche dort fast vollkommen auslöschte.«

Georginas Brust war schwer von all den Dingen, die sie Raharjo sagen wollte und von denen ihr doch nichts gut, nichts tröstend genug erschien. Er fing ihren Blick auf und deutete ein Kopfschütteln an, seine Augen unvermittelt hart und glänzend wie polierter Stein.

»Nein, Nilam. Kein Grund, uns zu bedauern. Wir wissen um den Lauf der Dinge. Darum, dass das Leben so veränderlich ist wie das Meer und der Himmel darüber.«

Georgina nickte; ja, das verstand sie. Obwohl ihr eigenes Leben viel mehr einem langsam dahintreibenden Fluss wie dem Serangoon River glich, über den alle paar Jahre ein verheerendes Unwetter hinwegfegte und nichts als Trümmer hinterließ.

»Deshalb ein Stück Land?«, riet sie ins Blaue hinein. »Ein Haus? Weil es Zeit ist für eine Veränderung?«

Raharjos Blick flackerte, und er zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht.«

Seine Augen bekamen einen sehnsüchtigen, verträumten Glanz.

»Die Malaien erzählen sich, die Orang Laut seien mehr Fisch denn Mensch. Meeresbewohner, die an Land zugrunde gehen. Vielleicht ist das so. Ich würde sicher zugrunde gehen, ohne immer wieder einige Zeit auf dem Meer zu verbringen. Ohne Wasser in meiner Nähe. Aber in einem Haus hier, an diesem Fluss, könnte ich gut leben.«

»Ich würde dein Haus gern einmal sehen«, flüsterte Georgina.

Raharjo sah sie an, ernst und ohne eine Regung in seinen nachtschwarzen Augen. Augen, die in ihrer Tiefe einen Sog auf sie ausübten. In die sie sich einfach hineinfallen lassen wollte, und das Tosen, das in ihr aufstieg, machte sie schlucken.

Jäh schnellte er hoch, und Georgina hielt sich erschrocken am Rand des schaukelnden Bootes fest.

»Ich bin gleich zurück«, warf er ihr heiser vor die Füße, sprang ans Ufer und verschwand zwischen den Sträuchern, die hinter ihm zurückschnappten.

Mit pochendem Herzen horchte Georgina auf das vielfache Rascheln, das sich eilig durch das Unterholz ausbreitete und entfernte, vielleicht kleine Nagetiere, die Raharjo dort aufgeschreckt hatte. Rotglänzende Flämmchen zuckten durch die Luft: Libellen, die surrend vorüberflogen, einander nachjagten und sich knisternd streiften, bereit, einander in Brand zu stecken.

Ihr Kopf ruckte hoch, als Raharjo unter dem Rascheln von Laub und Geäst wieder aus dem Gebüsch hervorkam und zurück ins Boot stieg. Behutsam diesmal, sodass das Boot nur sanft schwankte, auch dann noch, als er sich neben Georgina hinhockte.

Ein Lächeln schien auf ihrem Gesicht auf, und sie nahm die Blüte entgegen, die er ihr wortlos hinhielt: eine Orchidee, wie sie sie noch nie gesehen hatte, tiefblau, fast violett.

»Die wachsen hier an allen Flüssen«, raunte er. »Vor ein paar Jahren gab es sie noch oben am Sungai Singapura.« Und kaum lauter als der Klang des Windes fügte er hinzu: »Sie haben dieselbe Farbe wie deine Augen.«

Ihr Herz drohte ihre Rippen zu zertrümmern, und etwas gab in ihr nach; überzeugt, im nächsten Augenblick ins Leere zu stürzen, lehnte sie sich zu Raharjo hinüber und drückte ihren Mund auf seinen.

Ein keuscher, kindlicher Kuss, und ihr Gesicht stand in Flammen, als sie sich schnell wieder von ihm löste; sie konnte ihm nicht mehr in die Augen schauen.

»Heute ist mein Geburtstag«, wisperte sie wie zur Rechtfertigung.

Seine Hand legte sich kühl auf ihre heiße Wange, bevor sein Mund über ihren strich, ihren Namen dagegen hauchte und sie zu atmen vergaß.


Den Kopf auf Raharjos Schulter, schaute Georgina in die Baumwipfel hinauf, tanzende Blätterrispen, die ein Stück tiefblauen Himmels umgarnten. Der Wind trieb weiche Wolkennester vor sich her, und das Flüstern der Bäume fand sein Echo im Gluckern des Flusses, in dem das Boot an seiner Leine sacht hin und her trieb, und im Lied der Vögel.

»Glaubst du an einen Gott?«

Georgina hielt sich gern in der kleinen Kirche von St. Andrew’s mit ihrem maroden Turm auf, die erst ein Jahrzehnt stand, aber schon Moos angesetzt hatte. In der es so warm und feucht war zwischen den Kirchenbänken, dass sie nur darauf wartete, bis sich die ersten Orchideen die Wände entlangrankten. Doch in den Gottesdiensten dort empfand Georgina nie etwas, das dem gleichkam, was sie auf dem Meer oder hier auf dem Serangoon River empfand. Etwas, das ihre Seele erfüllte und zum Singen brachte.

Sie betrachtete Raharjos Gesicht. Sein kräftiges Profil. Die scharf umrissene, schwere Linie seines Unterkiefers. Die Biegung seines Mundes, und ein glückliches Flattern durchrieselte ihren Bauch.

»Ich glaube«, begann er langsam, »an die Mächte des Meeres und des Himmels. An die des Windes. Das sind die Mächte, die ich achte. Die ich verehre und anbete.«

»Glaubst du an Schicksal?«

Er wandte den Kopf, der auf seinem angewinkelten Arm ruhte. »Dass die Dinge vorherbestimmt sind?«

Sie nickte, und er richtete den Blick wieder gen Himmel.

»Nein. Ich glaube an Glück und Pech.« Er grinste. »Vor allem an das Glück, das mit dem ist, der es wittern kann. Der es zu packen und festzuhalten versteht.« Er warf einen Seitenblick auf Georgina. »Und du? Glaubst du an Schicksal?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte sie. Nachdenklich streichelte sie Raharjos Arm, der sie umfasst hielt, und ein kleines Lächeln malte sich auf ihr Gesicht. »Ja, doch. Manchmal schon.«

»Schau.« Raharjos Kinn ruckte aufwärts. »Ein Cit-cit.«

Georgina hatte hier am Fluss schon einige Königsfischer gesehen; geflügelte Edelsteine in Orange und irisierendem Blau, die pfeilschnell ins Wasser tauchten und genauso schnell wieder davonflogen. Aber noch keinen, der so ruhig dasaß wie dieser auf einem wippenden Ast über dem Boot. Immer wieder ließ er seine schwarzglänzenden Augen durch die Gegend huschen, bevor er erneut zu ihnen hinabspähte.

»Er beherrscht die Flüsse und Meere und kann Stürme abwenden«, flüsterte Raharjo. »Deshalb bringt er Glück und Reichtum.«

Georgina sah noch, wie sich der Königsfischer von seinem Ast abstieß und Raharjo sich über sie beugte, dann schloss sie die Lider.

Natürlich hatte es für ihn Frauen gegeben, irgendwo auf den Inseln Nusantaras. In sternenübersäten Nächten, in denen ein Blick, ein Lächeln genügte, um sich einig zu sein. Um einen Rausch der Sinne zu teilen, bevor jeder wieder seines Weges ging, ohne Versprechungen, ohne Reue.

Aber keine war wie Nilam gewesen.

Es war nicht nur das Feuer, mit dem sie seine Küsse erwiderte und mit dem sie Küsse für sich einforderte. Die Funken, die sein Rückgrat hinabsprangen, wenn sie die Finger in seinem Haar vergrub, und das Gefühl ihrer Haut unter seinen Händen, das ihn schwach machte. Es war mehr als die Flutwelle, die in ihm emporrauschte, wenn sie sich an ihn presste, und mehr als das Dröhnen in seinen Ohren, wenn er die Konturen und Wölbungen ihres Leibs durch die dünnen Stoffe hindurch spüren konnte; es war schwer, nicht den Kopf zu verlieren.

Als hätte er all die Jahre ihren Namen auf dem Grund seiner Seele eingeritzt getragen, so war es, und wenn sie ihn ansah, ihr dabei das Glück aus den Augen lachte, bekam das Leben einen neuen Sinn.

Gut möglich, dass er damals allein durchgekommen wäre, in diesem Versteck, in das ihn sein Glück geleitet hatte; wahrscheinlicher jedoch wäre er ohne die Hilfe des kleinen Mädchens heute nicht mehr am Leben. Ohne die Gedanken, die aus der Finsternis aufstiegen und zu ihm ins Bett krochen, in jenen Nächten, in denen er wach lag, weil seine Wunden brannten und puckerten. Diese Gedanken, die er mitnahm auf das Meer und die den Kurs änderten, dem sein Leben folgte.

Ein Kurs, der sich nun abermals geändert hatte. Jede seiner Fahrten würde an ihrem Ende nur noch ein einziges Ziel haben: Nilam.

Mit einem langgezogenen Laut, fast ein Seufzen, ließ Georgina den Atem ausströmen und rieb ihr glühendes Gesicht an Raharjos harter Brust.

»Ich muss für einige Zeit fort«, murmelte er in ihr Haar.

Sie schlug die Augen auf. »Länger als ein paar Tage?«

Er drückte seinen Mund auf ihre Stirn. »Ein paar Monate.«

Blinzelnd setzte sie sich auf und umklammerte ihre angezogenen Knie.

»Ich hätte längst in See stechen sollen. Der Wind kommt schon eine Weile aus dem Süden.«

»Wann«, ihre Kehle war wie zugeschnürt, »wann wirst du aufbrechen?«

»Morgen.«

Morgen, formten ihre Lippen.

Er richtete sich auf und fuhr die Rinne in ihrem Rücken entlang. Ein Schauder rann über ihre Haut.

»Ich kann es nicht länger aufschieben. Die Leute auf den Inseln warten darauf, dass ich ihnen ihre Waren abkaufe. Und ich lebe davon, dass ich sie mit Gewinn weiterverkaufe.«

Die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, nickte Georgina. Ja, das wusste sie; dayang, das malaiische Wort für Handel, war gleichbedeutend mit Reise, und trotzdem war ihr elend zumute.

»Spätestens, wenn der Wind wieder von Osten kommt, bin ich zurück.«

Sie nickte erneut und ließ den Kopf hängen.

Raharjo rutschte näher und legte einen Arm um ihre Schultern, fasste sie unter dem Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. Ernst blickten seine Augen, mit einem hoffnungsvollen Schimmer darin.

»Wirst du auf mich warten, Nilam?«

»Bis in alle Ewigkeit«, wisperte sie.

Zeit der wilden Orchideen

Подняться наверх