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Singapura. Die Löwenstadt.

Das alte Temasek, das Land im Meer.

Long Ya Men, das Tor des Drachenzahns und das Tor zu China.

Die Stadt unter dem Wind, wo der eine Monsun endet und der andere beginnt.

Wie ein Ginkgoblatt schwamm die Insel im Wasser.

Nur durch das schmale Band der Straße von Johor vom Krokodilrücken der malaiischen Halbinsel getrennt, öffnete sie sich auf die weite Bläue der Straße von Singapur. Und so klein und schmal der Fluss auch war, der sich durch die Regenwälder wand, durch Mangrovensümpfe, Salzmarschen und Sandbänke, der aufgehenden Sonne entgegen, so viel Macht trug er in sich. Ein kraftvoller Drache, das spitzzahnige Maul zur Küste hin aufgerissen, dessen Wasser sich dort in einem leidenschaftlichen Kuss mit denen des Meeres mischten.

Ein natürlicher Hafen entsprang dieser Liaison, durch die umliegenden Inseln vor den Unbilden der Elemente geschützt und wie dafür geschaffen, hier das Herz einer Handelsniederlassung zum Schlagen zu bringen.

Mutig hatte Sir Stamford Raffles mitten in das Grün und Blau von Meer und Dschungel das Saatkorn gesetzt, dem er den Namen Singapur gab. Beschirmt von der Flagge der East India Company und gestützt durch Verträge und Pläne keimte dieser Samen schnell im fruchtbaren Boden eines jahrhundertealten, weit gespannten Netzes aus Handelswegen. Singapur wuchs und gedieh, trug prächtig Früchte und verzweigte sich immer weiter über die vielen Menschen, die der Freihafen anzog wie eine besonders reiche Futterstelle die Vogelschwärme.

Dabei war Singapur ohne Wurzeln, wie eine Orchidee. Eine Stadt ohne Geschichte, ohne Vergangenheit, hastig aus dem Boden gestampft und überbordend in ihrer hemmungslosen Blüte. Geflutet von Menschen aus China und Indien, aus den Sultanaten der malaiischen Halbinsel, von Java, Sumatra, Bali und all den anderen Inseln des Archipels, aus Arabien und Armenien und umsäumt von der blassen Gischt aus Schotten, Engländern und Deutschen. Eine Stadt der Männer, die allein kamen, um Handel zu treiben, Arbeit zu finden, reich zu werden, bevor sie wieder dorthin zurückkehrten, wo sie herstammten.

Singapur war eine Stadt voller Zugvögel. Eine Stadt, in der man keine Wurzeln schlug, die niemandes Heimat war. In der Heimweh jede Schüssel Reis salzte.

Georgina India Findlay jedoch hatte bei ihrem allerersten Atemzug ihre Lunge mit der Tropenluft dieser Insel gefüllt. Sonnenglut, warmer Regen und die salzige Brise des Meeres hatten ihr Wachsen und Werden begleitet, und so wie sie im Garten von L’Espoir ihre ersten wackeligen Schritte tat, im Schatten unter dem Jasmin ihren ersten Milchzahn verlor, hatte sie in den ersten zehn Jahren ihres Lebens im dünnen Boden der Insel Wurzeln ausgetrieben, in roter Erde, Sand und Schlamm Halt gefunden.

Wurzeln, die von einem Tag auf den anderen gewaltsam gekappt worden waren. Eine klaffende Wunde, an der sie zu verbluten glaubte, bis sie sich mit der Biegsamkeit einer Kinderseele an ihr neues Leben in der Fremde gewöhnte. Und an das Heimweh, das mit der Zeit zu einem dumpfen Pochen abebbte, aber nie verging.

Selig badete Georgina in der dampfigen, kaum vom Wind gemilderten Hitze an Bord des Sampans, der sie und ihr Gepäck der Insel entgegentrug. Obwohl die Bänder ihres Huts auf ihrer Haut klebten und der Rücken ihres Kleids aus dünnem Musselin durchgeschwitzt war; hier würde sie nie mehr frieren.

Was ist das Gegenteil von Heimweh? Heimkehr?

Ein Wort, das Georgina viel zu leise, zu nüchtern vorkam, mehr eine Richtung vorgab denn eine Empfindung ausdrückte.

Dabei war alles um diese Heimkehr laut gewesen und von heftigen Gefühlen begleitet. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Tante, hitzig durch ihrer beider schottisches Blut und selbst von einem Gemütsmenschen wie Onkel Silas nicht zu schlichten. Die Tränen ihrer Cousine Maisie, die Georgina wie eine Schwester betrachtete und sie nicht mehr hergeben wollte. Georginas unfassbares Glück, als Tante Stella schließlich nachgab und ihre Zustimmung erteilte. Die fieberhafte Ungeduld, endlich aufzubrechen, endlich anzukommen, die sich auf dem langen Weg zu Wasser und zu Lande als hartnäckiger Gefährte erwies.

Wolkenschlieren maserten einen Himmel aus duftiger puderblauer Seide. Behäbig schmiegten sich ihre üppigen Schwestern an die Hügel, die sich wie weiche Moospolster an der Küste ausbreiteten. Der Government Hill mit seinem weithin sichtbaren Flaggenmast, Wächter über das Meer und die hereinkommenden Schiffe, das Haus des Gouverneurs noch weißer vor dem Grün der Hügelkuppe, schien Georgina erwartungsvoll entgegenzusehen. Als wollte er ihr zurufen: Endlich bist du zurück. Erinnerst du dich an mich?

Georginas letzte Erinnerungen an Singapur waren verzerrt durch hilflose Angst und einen flammenden Zorn, in dem sie Onkel Étienne kratzte und nach ihm schlug und schrie, als risse man ihr das Herz heraus. Sie erinnerte sich an den Blick ihres Vaters, voller Kummer und beschämter Erleichterung, bevor er sich wortlos umgedreht hatte und ins Haus zurückgegangen war. Daran, dass sich ihre Kraft erschöpft gehabt hatte, sobald sie an Bord gegangen waren und wie sie sich willenlos von Onkel Étienne in die Arme ziehen und trösten ließ und vor Tränen nichts mehr sah.

Der Sampan fädelte sich durch den Wald aus schaukelnden Schiffsleibern und schlingernden Bootsrümpfen, die an der Küste vor Anker lagen, unter dem Geäst aus Masten und Schornsteinen, Segeln, Flaggen und bunten Wimpeln hindurch. Große Schaufelraddampfer waren darunter wie derjenige der Peninsular & Oriental Steam Company, der Georgina von Suez aus hierhergebracht hatte, schwerfällige Segelschiffe und wendige, pfeilschnelle Klipper. Georgina erkannte die chinesischen Dschunken mit ihrem hufeisenförmig gebogenen Rumpf wieder, rot, gelb oder weiß bemalt, unter Segeln, die an Fächer erinnerten, und die dreieckigen Segel der Schiffchen aus Cochinchina. Die Segel der malaiischen Perahus waren rechteckig, und die Boote der Bugis zeichneten sich durch einen hohen Kastenaufbau am Heck aus.

Das Band aus weißen Hausfassaden und terrakottaroten Dächern lockerte sich hinter der offenen Fläche der Esplanade, jenseits des neuen, schlanken Turms von St. Andrew’s, und verwob sich mit den tropischen Gärten entlang der Beach Road zu einem verschwenderischen Muster aus Paisley, Palmetten und Millefleurs. Eines der Häuser dort musste L’Espoir sein, Georgina war nicht sicher, welches; Dunstschleier trübten ihre Sicht, vielleicht war es auch zu lange her.

Fischerboote glitten vorüber und Kähne voller Bananenstauden; andere hatten Körbe mit Mangos und rotpelzigen Rambutanen an Bord, mit Muscheln und Korallen, oder kreischende Äffchen und farbenprächtige Vögel in Bambuskäfigen.

Dort, wo sich der Fluss ins Meer ergoss, rollte sich der helle Saum der Stadt eng zusammen, und die beiden Flussufer reckten sich einander entgegen, als wollten sie sich die Hände reichen. Scharf schwenkte der Sampan in diese schmale Passage ein, und dann sprang Georgina das Leben am Singapore River in seiner ganzen Buntheit, seiner ganzen lärmenden Geschäftigkeit entgegen.

Dutzende und Aberdutzende von Booten und Kähnen drängten sich an die Ufermauer, tummelten sich den Fluss hinauf und wieder hinunter, den vollkommenen Halbmond der Godowns entlang. Von überallher erschallten Stimmen und Geräusche und verwoben sich zu einem Summen, Klappern, Dröhnen; die Gesichter, die Kleidung der Menschen, ein Kaleidoskop aller Facetten Asiens. Die Luft war schwer von überreifem Obst und Unrat, von Fisch, Staub und Schweiß und dem Moder der nahen Sümpfe, gewürzt mit Salz und Tang, dem Aroma von Spezereien und dem Rauch der Holzkohlefeuer.

Am Rand dieses brodelnden Sees aus Farben, Gerüchen, Klängen und Menschen, am rechten Ufer des Flusses, empfing Georgina die kühle, idyllische Insel eines weißen Säulenpavillons. Zwei Herren in Anzügen warteten, jeder für sich, in seinem Schatten auf ankommende Passagiere; Georginas Vater war nicht darunter.

Georgina wich ihren neugierigen Blicken aus und wehrte freundlich einen chinesischen Coolie ab, der sich näherte, um seine Dienste anzubieten. Ein zittriges Lächeln auf dem Gesicht, hielt sie nach der überschlanken, hoch aufragenden Gestalt ihres Vaters Ausschau, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Mit freudigen Rufen, Händeschütteln und Schulterklopfen nahmen die beiden Herren die Neuankömmlinge in Empfang, die aus den nachfolgenden Sampans kletterten. Einer von ihnen nickte Georgina kurz zu; ein junger Mann, nicht viel älter als sie selbst, semmelblond und rotgesichtig und ebenfalls aus London, der auf demselben Schiff angereist war und dessen Namen sie bereits vergessen hatte.

Ihre vergnügten Stimmen und Schritte verhallten zwischen den Säulen, und Stille breitete sich aus.

Georgina beobachtete die chinesischen Coolies, die am gegenüberliegenden Ufer Kisten mit Gewürzen und Tee, Säcke voller Pfeffer, Sago und Tapioka, Körbe mit Früchten und Bündel von Rattan von den Booten in die Godowns verluden oder umgekehrt. Wie sie es früher manchmal mit ihrem Vater getan hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. Den Möwen schaute sie nach, die mit heiseren Rufen ihre Kreise über dem Wasser zogen, auf der Suche nach einem Futterbröckchen, das vielleicht irgendwo für sie abfiel und den Pelikanen, elegante Segler in der Luft, zu Land aber tollpatschig und drollig anzusehen.

In gleichmäßigen Abständen schreckte sie das Schlagen einer Kirchturmuhr ganz in der Nähe auf. Ein Klang, der ihr in London vertraut geworden war, hier jedoch fehl am Platz schien. In ihrer Kindheit hatte keine Glocke die Stunden in Singapur gezählt, nur der Kanonendonner vom Government Hill Tagesanbruch, Mittag und die Abendstunde verkündet. Und obwohl sie nicht mitzählte, verkündete ihr jeder Uhrenschlag, dass die Zeit unerbittlich verstrich, während sie hier stand und wartete.

Sie mied die fragenden Blicke der nach ihr Ankommenden. Die der Herren, die nach und nach den Pavillon betraten, um jemanden abzuholen. Tat so, als bemerke sie nicht, wie die malaiischen syces auf den Kutschböcken sie musterten.

Während alles und jeder um sie herum in Bewegung war, harrte Georgina auf ein und derselben Stelle aus; ein aufgezwungener Stillstand, der sich wie ein Vakuum um sie zusammenzog und mit einem Gefühl der Verlassenheit füllte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war längst in sich zusammengefallen, verloren stolperte ihr Herz im Brustkorb umher.

Langsam ließ sie sich auf dem größten ihrer Koffer nieder und starrte vor sich hin.

»Miss Findlay?«

Eine männliche Stimme, tief und volltönend, unterlegt von schnellen Schritten.

Georgina fuhr herum. »Ja?«

»Gott sei Dank, Sie sind noch da!«

In einem schwungvollen, breitbeinigen Gang, der Tatkraft verhieß, eilte ein Fremder auf sie zu, der auch nichts von seiner resoluten Wirkung einbüßte, als sich seine Schritte verlangsamten und er stehen blieb. Das gewinnende, aber unpersönliche Lächeln auf seinem Gesicht jedoch fiel wie eine Maske; ratlos wirkte er mit einem Mal, beinahe unsicher.

Georginas Herz setzte einen Schlag aus, und wackelig kam sie in die Höhe.

»Ist … ist etwas mit meinem Vater?«, raspelte sie aus trockener Kehle, ihre Tasche mit beiden Händen umklammert.

»Nein«, kam es tonlos und leise von ihm.

Ein neues Lächeln, echter, offener diesmal, flackerte über sein Gesicht und gab ihm etwas Jungenhaftes.

»Nein, keineswegs. Mister Findlay wollte Sie ursprünglich selbst abholen, musste sich aber um eine kurzfristig eingetroffene Ladung kümmern. Also hat er mich geschickt.«

Sein Lächeln gewann an Sicherheit und weitete sich, während er vor sie hintrat und ihr seine Rechte entgegenstreckte.

»Sehr erfreut, Miss Findlay. Paul Bigelow. Ich arbeite für Findlay and Boisselot. Hatten Sie eine gute Reise?«

Die Welle der Erleichterung, die eben noch in Georgina aufgebrandet war, sackte in sich zusammen und lief in eine brackige Pfütze der Enttäuschung aus. Mechanisch nickte sie und ergriff Paul Bigelows kräftige Hand.

Sein Händedruck fiel eine Spur zu fest aus, heiß und ein bisschen feucht. Ihre Augen begegneten sich dabei auf gleicher Höhe, denn Paul Bigelow war nicht besonders groß, während Georgina hochgewachsen war für eine Frau, rank und schlank wie alle Findlays.

»Wie Sie sehen«, in einer lockeren Handbewegung deutete er auf sein Hemd mit den aufgerollten Ärmeln, das unter den Hosenträgern angeschwitzt war, »habe ich mich derart beeilt, dass ich ohne Rock aus dem Kontor gestürmt bin.« Er rieb sich über sein hellbraunes Haar, das er kurzgeschoren trug. »Und ohne Hut.«

Mit gesenktem Kopf sah er sie von unten herauf an. Sein Mund krümmte sich zu einem Lächeln, entschuldigend, mehr aber noch schelmisch, und Georgina konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

»Ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen, Mister Bigelow.«

In seinen Augen blitzte es auf. »Danke, Miss Findlay. Darauf hatte ich gehofft.«

Er winkte zwei chinesische Coolies herbei und bot Georgina seinen Arm an.

»Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«

Trotz der Fensteröffnungen über den niedrigen Türen und der geschlitzten Jalousien auf allen Seiten war es heiß und stickig in dem Wagen aus Holz, in den Paul Bigelow ihr hineinhalf; mehr aus Galanterie denn echter Notwendigkeit, denn der Einstieg befand sich dicht über dem Boden.

Mit schwitzigen Fingern nestelte Georgina an der Schleife unter dem Kinn herum, riss sich mit einem erleichterten Seufzer den Hut vom Kopf und wischte hastig mit dem Ärmel über Stirn und Schläfen.

»In die Beach Road, bitte«, wandte sie sich an Paul Bigelow, der auf der anderen Seite zustieg.

»Ich weiß.« Er schmunzelte und deutete eine Verbeugung an. »Gestatten – Ihr Untermieter. Ich habe mir im Übrigen erlaubt, jemanden nach L’Espoir vorauszuschicken, der dort Bescheid gibt, dass Sie unterwegs sind.«

Die Brauen zusammengezogen, nickte Georgina.

Paul Bigelow klopfte außen gegen die Tür; der Wagen ruckte an und holperte auf seinen dünnen Metallrädern los. In den halbwegs komfortablen Kutschen auf den Straßen Londons hatte Georgina vergessen, wie sehr man in einem Palanquin Singapurs durchgerüttelt wurde. Der warme Fahrtwind zog herein, und dann, als der Wagen auf die Küstenstraße einbog, eine schwüle Meeresbrise.

Georgina reckte den Hals nach der weißen Fassade von St. Andrew’s, der von Gordon Findlay und anderen schottischen Kaufleuten der Stadt finanzierten kleinen Kirche. Für Georgina von jeher das heimliche Wahrzeichen Singapurs, ihr Leitstern auf jedem Weg, der nach Hause führte.

Robust, geradezu kompakt wirkte der Angestellte ihres Vaters, mit dem sie künftig unter einem Dach leben würde, dabei noch jugendlich; er konnte höchstens Mitte zwanzig sein. Genauso breitbeinig wie er ging, saß er ihr im Wagen gegenüber, die Füße in den blank polierten Schuhen fest auf dem Boden, entspannt zurückgelehnt und die Arme auf der Lehne ausgestreckt. Überraschend starke Arme waren es und leicht gebräunt, als würde er seine Tage mehr damit zubringen, Kisten zu schleppen, denn am Schreibtisch der Firma zu sitzen. Im Sonnenlicht glomm der dichte Flor darauf golden auf, und obwohl es erst früher Nachmittag war, überzog bereits wieder die Ahnung eines falben Bartschattens die Partie um seinen Mund, eine draufgängerische Note an seiner sonst soliden Erscheinung.

Seine Augen, bestechend blau, trafen sich mit ihren. Georgina lenkte rasch ihren Blick zum anderen Fenster hinaus, auf die Schiffe und Boote, die auf den Wellen tanzten.

»Sie haben die letzten Jahre in England verbracht, wie Mister Findlay mir erzählte.«

Ein Tonfall zwischen bemühter Höflichkeit und echtem Interesse, nüchtern und gleichzeitig vorsichtig.

»Die ersten paar Monate war ich in Indien, in Pondichéry. Bei meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, und seiner Frau.« Georgina warf ihm einen Seitenblick zu. »Sie kennen ihn bestimmt. Étienne Boisselot.«

Paul Bigelow nickte. »Sicher. Mir obliegt ein Großteil des Schriftwechsels mit Mister Boisselot. Er war vergangenes Jahr erst für einige Wochen hier.«

Sein Englisch hatte einen schwingenden Akzent, der manche Laute langzog und verflachte; stammte er aus dem Norden?

»Sind Sie schon lange in Singapur?«

»Vier Jahre müssten es mittlerweile sein.« Seine Stirn legte sich in Falten. »Angefangen habe ich bei Boustead, und seit zwei Jahren bin ich bei Findlay and Boisselot. Ja, ziemlich genau vor vier Jahren bin ich hierhergekommen.« Er schmunzelte. »Geradewegs aus Manchester.« Mahnchastah.

»Ich war fast sieben Jahre in London, bei der Schwester meines Vaters und ihrer Familie.«

»Wie alt waren Sie, als Sie von hier fortgegangen sind?«

»Zehn.« Ihre Stimme klang schwach; ein Nachhall des Bruchs, mit dem ihr Leben, viel zu früh von tiefen Rissen durchzogen, in jenem Jahr endgültig entzweigegangen war.

»Zehn.« Leise war das Echo, das von ihm kam. Unvermutet weich. »Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«

Tief und dunkel waren seine Augen dabei, wie eine ruhige See an einem bewölkten, aber windstillen Tag.

Erst der plötzliche Ruck, als der Palanquin abbog, löste ihre Blicke voneinander, und schweigend ließ Georgina das flimmernde Wechselspiel aus Sonnenlicht und dem Schatten hoher Bäume über ihr Gesicht streichen.

Ihr Herz klopfte heftig, als sie die ersten Häuser in ihren saftiggrünen, blühenden Gärten wiedererkannte. Begann zu tanzen, als der Palanquin in eine Einfahrt schwenkte und im schattigen Tunnel der überdachten Auffahrt zum Stehen kam.

Ein Malaie sprang herbei, öffnete den Wagenschlag und verneigte sich tief; möglich, dass er noch einer der beiden syces war, die sich früher auf L’Espoir um Pferde und Wagen gekümmert und ihren Vater immer in die Stadt kutschiert hatten.

»Ich muss zurück ins Kontor«, hörte sie Paul Bigelow sagen, als er ihr aus dem Wagen half. »Bis heute Abend.«

Georgina konnte nur nicken; sie war gefangen im Anblick der Personen, die auf den Stufen der Veranda aufgereiht standen. Wie in einem Traum tat sie einen Schritt vorwärts, und das starre Tableau erwachte schlagartig zu überschwänglichem, lautem Leben, in dem das Geräusch des davonfahrenden Palanquins unterging.

»Selamat datang! Willkommen, herzlich willkommen!«

Lachend und rufend lief ihr das Personal entgegen und umringte sie. Die drei Boys zuerst, erstaunlich wenig verändert, wie von der Zeit unberührt, die sie förmlich und geradezu steif, aber mit breitem Lächeln begrüßten, ehe sie in Richtung des Gepäcks weitereilten.

»Schaut sie euch an! So schaut doch!«, kiekste Kartika und umschloss Georginas Gesicht mit ihren kaffeebraunen Händen. »Unsere kleine Nilam ist eine Lady geworden! Eine richtige Lady! Und so hübsch! Genauso hübsch wie unsere Mem damals!«

»Hier, Nilam!«

Anish, dessen makellos weißen Turban Georgina inzwischen um mehr als Haupteslänge überragte, der Bart mit den gezwirbelten Enden gänzlich ergraut, drängte sich neben Kartika. Nachdrücklich hielt er Georgina eine Platte mit bunten Häppchen entgegen.

»Eigens für dich gemacht! Für den Anfang!«

Ah Tongs Ledergesicht spiegelte seine Verlegenheit wider, aber auch Stolz und Freude; in den überschlanken, knorrigen Händen hielt er einen Kranz aus aufgefädelten Orchideen, deren Blütenblätter mit der gelbgetupften Zunge weiß leuchteten.

»Im Namen von uns allen«, erklärte er feierlich und hörbar bewegt, »möchte ich dich zu Hause willkommen heißen, Ay… Miss Georgina.«

Mit einer leichten Verbeugung legte er ihr die Blütenkette um, und dieser fast vergessene, nun in seiner Intensität aufwühlende Duft ließ Georgina mehr als alles andere mit den Tränen kämpfen.

»Terima kasih banyak-banyak«, flüsterte sie mit enger Kehle, das lange nicht mehr geübte Malaiisch störrisch auf der Zunge. »Vielen, vielen Dank.«

Fragen nach der Reise und ihrem Wohlbefinden schwirrten durch die Luft, nach England und ihren Verwandten; stets aufs Neue wurde betont, wie froh man war, dass sie heil wieder hier und wie groß sie doch geworden war. Kartika, von einem jungen Mädchen zu üppiger Fraulichkeit gereift, bewunderte ausgiebig Georginas zartgrünes Kleid mit den weiten Röcken und wurde nicht müde, ihr immer wieder über den Kopf und Arm zu streichen oder sie bei der Hand zu fassen.

Über Kartikas Scheitel hinweg trafen sich Georginas blaue Augen mit den dunklen einer Frau, die auf der Treppe stehen geblieben war. Erste Linien hatten sich in ihr zimtfarbenes Gesicht gegraben, und das lackschwarze Haar, wie eh und je zu einem strengen Knoten zusammengefasst, durchzogen mittlerweile ein paar feine Silberfäden.

»Selamat sejahtera, Cempaka«, sagte Georgina leise und griff dabei unbewusst auf die ehrerbietige Form des Grußes zurück.

Einen Augenblick lang schien es, als wolle Cempaka etwas erwidern, dann legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Abrupt kehrte sie Georgina den Rücken zu und eilte ins Haus.

Erfrischt vom Bad, das Haar noch feucht über den Schultern des Morgenrocks ausgebreitet, stand Georgina vor dem geöffneten Kleiderschrank. Es widerstrebte ihr, sich in der Hitze des Tropentages mit den Häkchen des Korsetts abzumühen, sich ein Kleid, mochte es auch aus noch so leichtem Stoff sein, nebst mehreren Petticoats über ihre Unterwäsche zu streifen.

Halbherzig langte sie nach einem der dünnen Sommerkleider, die Kartika vorhin unter verzückten Ausrufen über die Stoffe und ihre Verarbeitung, über die Bänder, Spitzen und Biesen aus den Koffern in den Schrank geräumt hatte. Sie ließ die Hand wieder sinken und wandte sich um.

Stäubchen glitzerten im Sonnenlicht, das buttrig durch die Schlitze der Bambusjalousien quoll, und unter dem Schrillen der Zikaden sickerten Wellengeflüster und Blättergeraschel herein.

Ihr altes Kinderzimmer.

Unverändert und doch nicht mehr dasselbe. Das Bett unter dem Moskitonetz, das ihr einmal so groß vorgekommen war wie der Bauch eines Ostindienfahrers, seine Laken eine kühl knisternde Polarlandschaft, lange bevor sie zum ersten Mal Schnee und Eis gesehen hatte. Der Schrank, der wie ein Zimmer für sich gewesen war und in dem sie sich manchmal vor Cempaka versteckt hatte. Die Kommode, einstmals eine unerschöpfliche Schatztruhe für die kindliche Lust am Spiel, irgendwann in den letzten sieben Jahren gnadenlos geplündert, ihre gähnende Leere nur unzureichend mit Georginas Leibwäsche, Strümpfen und Handschuhen gefüllt.

Auf bloßen Füßen tat sie ein paar ziellose Schritte, die sie schließlich aus dem Zimmer führten.

Die Türen jenseits der Balustrade, unter der sich die Eingangshalle ausdehnte, früher einen Ozean weit entfernt, waren ganz in die Nähe gerückt; vermutlich hatte sich Paul Bigelow in einem der Zimmer dort eingemietet.

Das gesamte Haus von L’Espoir schien geschrumpft, enger und dunkler als in ihren Erinnerungen, Georgina eine Riesin, nach sieben mal sieben Jahren in einen einstigen Palast zurückgekehrt, der seinen früheren Glanz verloren hatte und dem Untergang geweiht war. Tropenluft hatte Stein zersetzt, Holz verformt, Spiegel braun gefleckt; Meeresfeuchte hatte Stoffe und Rohrgeflecht ausgelaugt und Schatten an die Wand gezeichnet. Mit nassem Atem lockte die See L’Espoir zu sich, und das Haus schien gewillt, sich in ihre Umarmung fallen zu lassen.

Zaghaft, fast scheu schob Georgina die Tür neben der des Badezimmers auf und schwankte unter der Flut an Erinnerungen, die über sie hereinbrach. Die Gehröcke, Fräcke, Hemden und Hüte, Schuhe und Reitstiefel ihres Vaters auf der einen, der Regenbogen an Kleidern und Abendroben ihrer Mutter auf der anderen Seite. Der unverkennbare Geruch des Ankleidezimmers, nach feuchter Seide, Wolle und Baumwolle, nach Neemholz, Pfeifenrauch und Leder, nach Staub und Blütenhauch.

Gierig vergrub Georgina beide Hände in den feinen Stoffen und drückte das Gesicht hinein. Trank jede vergilbte, fast verwehte Spur von Duft, jeder Tropfen Erinnerung so kostbar und selten wie ein funkelndes Juwel.

Die farbenprächtigen, glitzernd bestickten Saris, die Maman vor so vielen Jahren aus Indien mitgebracht hatte, waren von Stockflecken dunkel gemasert und rochen modrig; die Sarongs und Kebayas jedoch, die sie zu Hause am liebsten getragen hatte, dufteten frisch nach Flusswasser und Seife, wie gerade erst vom dhobi-wallah gewaschen und geplättet zurückgebracht. Als erwarte man in L’Espoir jeden Tag die Rückkehr der Mem, während Georginas Spuren so gründlich getilgt worden waren, als ob es hier nie ein kleines Mädchen gegeben hätte.

Georgina schlüpfte aus dem Morgenrock, stieg in einen blaugrundigen Sarong und streifte eine der zarten Kebayas über ihr Hemdchen.

»Schämst du dich nicht?!«

Die Arme vor der Brust verschränkt, stand Cempaka im Türrahmen, unverhohlene Missbilligung in den Augen.

»Das sind die Sachen der Mem!«

Verschämt zupfte Georgina an der Kebaya herum, die ihr an den Ärmeln zu kurz war, wie auch der Sarong ihre Waden nicht mehr als zur Hälfte bedeckte.

»Nur geborgt«, beteuerte sie leise. »Fürs Erste. Bis ich mir hier etwas Neues …«

Ihre Stimme zerfiel unter dem lodernden Blick Cempakas.

»Bilde dir nur nicht ein, du könntest hier die neue Herrin spielen. Niemals wirst du unserer Mem Joséphine das Wasser reichen können.«

Die altbekannte Furcht reckte ihre kalten Klauen nach Georgina.

»Es … es tut mir leid, wenn ich dir früher das Leben schwer gemacht habe«, flüsterte sie, nach den richtigen Worten suchend. »Wenn ich ein ungezogenes Kind war. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr, und …«

Wortlos drehte sich Cempaka um und ging davon.

»Cempaka!« Georgina lief ihr nach. »Kannst du nicht endlich deinen Groll gegen mich ablegen? Nach all der Zeit? Es wenigstens versuchen?«

Cempaka wandte sich ihr halb zu, das Gesicht weniger zornerfüllt als verwaschen von Müdigkeit.

»Warum musstest du zurückkommen?« Eine Müdigkeit, die ihre sonst so kräftige Stimme dämpfte und aushöhlte. »Du wirst nur Unheil über dieses Haus bringen. Wie du es früher schon getan hast.«

Ohne auch nur einen weiteren Blick an Georgina zu verschwenden, ließ Cempaka sie stehen.

Stumm starrte Georgina ihr hinterher.


Der Garten simmerte unter einem Himmel aus Kreidestaub. Das klare Licht des Nachmittags versickerte im Boden, und verfrühtes Dämmergrau wusch die Farben von Blättern und Blüten aus.

Jeder Herzschlag war schweißtreibend, die Luft, die Georgina atmete, legte sich warm als zäher Film auf Kehle und Lunge. Eine bleierne Schwere hatte in ihren Gliedern Einzug gehalten; ein Nachhall der Strapazen einer solch langen Reise, selbst für einen jungen starken Leib wie den ihren, während ihre Seele in Aufruhr war.

Sie war dankbar für die Ruhe auf der Veranda, obwohl sich ihre Mundwinkel hoben, wann immer sie hinter sich im Haus die Boys hörte, einander so ähnlich in ihrem melodischen Tonfall. Die raue Stimme Ah Tongs. Der Bass und das dröhnende Lachen von Anish. Kartikas Kichern. Selbst der harsche Befehlston Cempakas hatte aus der Ferne etwas Vertrautes, Behagliches, obwohl Georgina jedes Mal, wenn er an ihr Ohr drang, unbewusst die Schultern hochzog.

Auch der Garten schwieg, halb andächtig, halb abwartend; allein das Meer wirkte beunruhigt und murmelte orakelgleich vor sich hin.

Ein kräftiger Wind zerzauste raschelnd die Kronen der Palmen und durchwühlte das Laub der hohen Bäume. Blätter wippten unter den ersten Tropfen, und unter polterndem Donner öffneten sich die Schleusen des Himmels.

Von Menschenhand unberührt schien das Wäldchen am Meeresufer. Ihr Lieblingsplatz als kleines Mädchen. Genauso undurchdringlich wuchernd, genauso verwunschen wie damals, als sie es zuletzt gesehen hatte; womöglich nach ihr von niemandem je wieder betreten und der Pavillon längst verfallen.

Wo sie in einem Regen wie diesem einen Jungen gefunden hatte, verwundet und geschwächt. Ein junger Meermann. Ein Selkie. An den sie ihr Kinderherz verlor, jeden Tag ein bisschen mehr, und der ihr dieses kleine, große Herz gebrochen hatte, als er eines Morgens verschwunden war.

Sein Gesicht, seine Stimme hatte sie mitgenommen über das Meer und als kostbaren Schatz im Gedächtnis gehegt. Ihr Talisman in all jenen Nächten, in denen quälendes Heimweh den Schlaf fernhielt; das Schicksal, das sie ihm in ihrer Phantasie zudachte, ein Wiedersehen, das sie sich stets aufs Neue ausmalte, ihr Leitstern. Bis die Erinnerung sich an der scharfkantigen Wirklichkeit abgenutzt, ihr Abbild in Georgina sich bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst hatte.

Warum musstest du zurückkommen?

Grell zerschnitt ein Blitz den Himmel, scharf zerriss der nächste Donner die Luft mit einem krachenden Peitschenhieb, unter dem die Veranda erzitterte und Georginas Ohren klingelten. Pfützen sammelten sich im Gras und dehnten sich schnell zu Teichen aus; in Kaskaden sprudelte der Regen über den Rand des Vordachs hinweg, und Sturzbäche gurgelten am Fundament des Hauses vorbei.

Deshalb musste ich zurückkommen.

Georgina legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Eine Luft, die sich leichter atmen ließ, klar und rein war und eine Spur des Meeres in sich trug. Sie badete im Tosen der Elemente, der Wildheit von Blitz und Donner, von Regen und Wind, die sie so lange entbehrt hatte. Und ein Teil ihres Wesens, in der nüchternen, kühlen Fremde, die keine Extreme kannte, taub geworden, begann wieder aufzuleben.

Das malaiische Wort für Heimat kam ihr in den Sinn. Tanah air.

Erde und Wasser.

Der Regen hatte nachgelassen; stetig strömte er in perlgrauen Bahnen herab, und wo in der Ferne die Wolken zerfaserten, lugte leuchtend blauer Himmelsgrund hervor. Noch war die Luft wie frisch gewaschen, verdichtete sich aber bereits wieder zu schweißtreibender Schwüle. Unter dem Rauschen des Regens grollte ein sich entfernender Donner, und aus dem Gefühl heraus, nicht mehr allein auf der Veranda zu sein, wandte Georgina den Kopf.

Hoch aufgeschossen, dabei starkknochig, gaben ihm seine hängenden Schultern das Aussehen einer Trauerweide. Die Zeit hatte die schon vorhandenen Linien in seinem schmalen Gesicht tiefer eingeätzt, sein dunkles Haar weiter versilbert, die pelzigen Brauen aber nach wie vor verschont.

»Georgie?«

Papa, blieb es ihr im Hals stecken; umso stürmischer sprang sie auf.

Das offene Staunen in seinen Augen über das kleine Mädchen, vor sieben Jahren der Obhut seines Schwagers übergeben, das scheinbar über Nacht als junge Frau zurückgekehrt war, flackerte und verlosch. Verschlossen wirkte sein Blick mit einem Mal, er selbst verlegen, wie er an der Uhrenkette seiner Weste spielte, seine zusammengezogenen Brauen Ausdruck von Schuldbewusstsein, vielleicht auch eines alten, nie verwundenen Schmerzes.

Wie ein Zicklein rannte Georgina mit gesenktem Kopf auf diesen Wall aus Unnahbarkeit zu und warf sich dagegen, krallte sich fest und ließ ihren kindlichen Tränen freien Lauf.

»Papa«, weinte sie gegen seine Hemdbrust, die nach grüner Seife roch, nach Tabak, Sonne und trockenen Teeblättern und nach einer lange untergegangenen Kindheit. »Papa.«

Einen Moment lang stand Gordon Findlay auf unsicheren Beinen, in unentschlossener Abwehr oder auch nur hilflos. Schließlich legten sich seine Hände auf Georginas Rücken und fuhren unbeholfen darüber.

»Ist gut«, raunte er spröde. »Ist ja gut.«

Ohne den Kopf zu heben, nickte Georgina. Ja, jetzt war alles wieder gut, sie war wieder zu Hause.

Mit einem langgezogenen Räuspern fasste ihr Vater sie bei den Schultern und schob sie von sich weg. Er hob eine Hand, als wollte er ihr über das Haar oder ihr verweintes Gesicht streichen und ließ dann beide Hände einfach fallen.

»Du …« Ein Hüsteln unterbrach ihn und erzwang ein erneutes Ansetzen. »Du wirst dich sicher noch umziehen wollen.« Er zögerte, nestelte wieder an der Uhrenkette und nickte Georgina zu, während er sich zum Gehen wandte. »Wir essen um sechs.«


Eine Befangenheit, so dick wie die Hitze des Tropenabends, die über die Veranda hereindrang, füllte das Speisezimmer im oberen Stockwerk.

Der punkah-wallah, ein spilleriger malaiischer Junge, der in tiefer Hocke und mit glasigem Blick auf dem Boden kauerte, hielt mit seiner monotonen Handbewegung den Deckenfächer am anderen Ende der Leine in knarrendem Schwung. Die Ahnung eines Luftzugs ließ die Kerzen der Tischleuchter flackern, vermochte aber kaum an der zähen Schwüle zu rühren. Genauso wenig gelang es Georgina, die Stimmung bei Tisch zu entkrampfen.

Über den bunten Currys, mit denen Anish ein Feuerwerk aus süß, fruchtig, scharf, gar feurig, salzig und sauer entzündet hatte, schilderte sie ihre Reise über das Mittelmeer und die knochenbrecherische Fahrt von Alexandria nach Suez, auf der sie die Pyramiden und die Sphinx gesehen hatte. Von Eliza und William Hambledon erzählte sie, einem noch recht jungen Ehepaar, dem sie für die Dauer der Überfahrt anvertraut worden war und das von Singapur aus nach Hongkong weiterreiste, um westliche Medizin und Bildung und den christlichen Glauben nach China zu bringen. Und ausführlich berichtete sie von Tante Stella und Onkel Silas und ihrem Haus am Royal Crescent; von den Konzerten und Museen und Gärten, die sie besucht, und von den Ausflügen aufs Land, die sie gemacht hatte, und von ihren Cousins Stu, Dickie und Lee und ihrer Cousine Maisie. Schnell hingeworfene Skizzen, atemlos und ohne Tiefe, damit nicht auch nur einen Atemzug lang unbehagliches Schweigen entstehen konnte.

Immer wieder glaubte Georgina, die Augen ihres Vaters auf sich zu spüren. Auf seiner fremden Tochter, die so erwachsen im kurzärmeligen Mieder mit aufgebauschten Röcken, das Haar gescheitelt und sorgfältig aufgesteckt, zu seiner Rechten saß. Doch jedes Mal, wenn sie zu ihm hinsah, starrte er auf seinen Teller oder auf sein Glas. Es war Paul Bigelow, der zustimmend nickte, zwischendurch eine Frage stellte, eine Bemerkung oder ein Lachen fallen ließ, wenn er nicht gerade den Blick zwischen Gordon Findlay und seiner Tochter hin- und herwandern ließ.

»Tante Stella und Onkel Silas lassen dich herzlich grüßen«, warf Georgina ihrem Vater hastig zu, ihre Stimme hoch, beinahe schrill. »Vor allem Tante Stella!«

Gordon Findlay nickte bedächtig vor sich hin und ließ dann sein Besteck auf dem Teller ruhen. In eckigen, ein wenig umständlichen Bewegungen zog er die Serviette vom Schoß, legte sie beiseite und stand auf.

»Wenn du mich entschuldigst. Ich habe noch zu arbeiten. Gute Nacht.« Er nickte verhalten nach beiden Seiten. »Mister Bigelow. Wir sehen uns morgen.«

Paul Bigelow erhob sich halb und deutete eine Verbeugung an. »Gute Nacht, Sir. Bis morgen.«

Georgina lauschte den Schritten ihres Vaters, die sich eilig über den Korridor entfernten und unten auf der Treppe verhallten. Die Überreste ihres Currys verschwammen vor ihren Augen, die sich mit Tränen füllten.

Überlaut gellten die Zikaden von draußen herein; ein schadenfroher Chor, der sie für die Illusion verspottete, etwas hätte sich zwischen ihrem Vater und ihr geändert nach all der Zeit. Und das halb bedauernde, halb missbilligende Schnalzen, die sonoren Klagen aus den feuchten Kehlen der Ochsenfrösche waren wie ein fortwährendes Da hast du’s. Hätten wir dir gleich sagen können.

»Lassen Sie ihm etwas Zeit«, hörte sie Paul Bigelow sagen, behutsam, fast sanft. »Und sich selbst auch. Sie beide haben sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, nickte Georgina.

»Ja.« Tapfer blinzelte sie ihre Tränen weg und warf ihm über den Tisch hinweg einen dankbaren Blick zu. »Ja, das wird es sein.«

Boy Two löste sich von seinem Platz neben der Anrichte und hielt mit fragendem Blick erst Georgina, dann Paul Bigelow die Karaffe Wein entgegen und schenkte auf ihr Nicken hin nach.

Der punkah-wallah, der einen Herzschlag lang innegehalten hatte, wohl in dem Glauben, Tuan Findlays Aufbruch sei das Signal gewesen, die Tafel aufzuheben, begann wieder an der Leine zu rucken, und das gemütliche Knarzen des Fächers setzte sich fort.

Den angewinkelten Unterarm auf die Lehne gestützt, streckte Paul Bigelow die Beine von sich und griff zu seinem Glas.

»Gab es einen bestimmten Grund, weshalb man Sie nach England geschickt hat? Ich will nicht indiskret sein«, fügte er schnell hinzu. »Ich bin nur … neugierig.«

»Hat mein Vater Ihnen das nicht erzählt?«

Ein Aufblitzen in seinen Augen, sah er sie über den Rand seines Glases hinweg an und trank langsam einen Schluck.

»Mister Findlay ist Schotte. Ich bin Engländer. Wir reden nicht viel über persönliche Dinge. Nur übers Geschäft.« Sein schmaler Mund krümmte sich zu dem schelmischen Lächeln, das typisch für ihn zu sein schien.

Unwillkürlich hoben sich auch Georginas Mundwinkel. »Verzeihung. Ich vergaß.«

Paul Bigelow lachte leise.

Georginas Brauen zogen sich zusammen, und ihr Blick verlor sich zwischen dem Porzellan und Silber auf der Dinnertafel.

»Es hieß, ich würde hier in den Tropen nur verwildern, allein von einheimischen Dienstboten beaufsichtigt. Und dass Singapur kein Ort für ein kleines Mädchen sei.«

Geistesabwesend klaubte sie ein Chapati aus dem Brotkorb und begann es über ihrem Teller zu zerkrümeln.

Ein Kind braucht mehr als nur ein Dach über dem Kopf, klang die entschiedene Stimme ihrer Tante in Georgina nach. Mehr als nur etwas zum Anziehen und eine Mahlzeit auf dem Tisch.

»Als dann in jenem Jahr die Cholera wütete, fast jede Nacht irgendwo in der Stadt eingebrochen wurde und die Überfälle am helllichten Tag zunahmen, ließ mich mein Vater von Onkel Étienne abholen. Zumal er kein besonders gutes Geschäftsjahr hinter sich hatte und sich mit dem Gedanken trug, die Niederlassung hier aufzugeben und nach Indien zurückzugehen.«

»Was er aber nicht tat.«

»Nein. Und ich war auch nicht lange dort.«

Noch immer schoss ihr das Blut ins Gesicht, wenn sie daran dachte, mit welchem Zorn, welch gewaltigem Trotz sie Onkel Étienne und Tante Camille und ihren kleinen Cousins und Cousinen begegnet war.

»Ich muss mich furchtbar aufgeführt haben«, murmelte sie kleinlaut und nahm sich ein weiteres Chapati vor. »Auch noch, als Onkel Silas kam und mich nach London brachte.«

Ihr wurde es warm ums Herz, fast ein bisschen schwer, als sie an Tante Stella dachte, eine aparte Erscheinung mit stahlblauen Augen und dem dunklen Haar der Findlays. Auf den ersten Blick unterkühlt und streng, wenn es nötig war, hatte sie jedoch mit der Geduld eines Engels alles getan, um für Georgina ein Heim zu schaffen. Onkel Silas, wohlbeleibt und fast einen ganzen Kopf kleiner als sein Frau, hatte mit allerlei Faxen versucht, das erst zornestobende, dann verstockte kleine Mädchen von seinem Kummer abzulenken, ihm ein Lachen oder wenigstens ein Lächeln zu entlocken. Und Maisie mit ihren dicken Zöpfen und den blauen Kulleraugen, die bereitwillig eine Hälfte ihres Zimmers für Georgina freigeräumt hatte, ihr sogar ihre zweitliebste Puppe samt dazugehöriger Garderobe schenkte, blieb unbeirrbar in ihrer Freude über ihre neue Schwester. In ihrer überschwänglichen Zuneigung, unter der Georginas bockige Abwehr bald in sich zusammenfiel.

»Sicher nicht schlimmer als wir Jungs früher«, kam es belustigt von Paul Bigelow. »Ich bin der Jüngste von fünf Brüdern. Der Nachzügler. Immer der Kleinste. Vielleicht können Sie sich vorstellen, was bei uns los war – und wie es dann zuging, als ich endlich alt genug war, es den anderen heimzuzahlen.«

Georgina dachte an Stu, Dickie und Lee, die sie anfangs mit einer Mischung aus Neugierde und stoischem Gleichmut behandelt hatten, bis sie ihr dieselbe ruppige Zuneigung und brüderliche Heimtücke entgegenbrachten wie Maisie, und sie musste lächeln.

»Ja, das kann ich mir ungefähr vorstellen.«

Das Läuten einer Kirchenglocke strömte über die Veranda herein, emsig und fortdauernd in der Dunkelheit vor den Fenstern, und Georgina sah Paul Bigelow fragend an.

»Die Glocke von St. Andrew’s. Sie läutet jeden Abend um acht die Ausgangssperre ein.«

Georginas Brauen hoben sich.

Paul Bigelow schmunzelte. »Ich fürchte, allzu viel hat sich hier nicht verändert. Singapur ist immer noch alles andere als eine sichere Stadt. Besonders nach Einbruch der Dunkelheit.«

Schweigend ließ sich Georgina vom metallenen, satt auf- und abschwellenden Ruf der Glocke umfließen.

»Meine Tante war entschieden dagegen, dass ich hierher zurückkehre«, sagte sie schließlich leise. »Allein schon wegen der weiten Reise. Sie hatte Angst, dass ich womöglich dem Schiffsfieber zum Opfer falle. Vom Leben in dieser Stadt gar nicht zu reden.«

Paul Bigelow setzte sich auf und stützte das frisch rasierte Kinn in die Hand; seine Bewegung trug den Hauch einer herben Seife zu Georgina herüber. Der warme Schein der Kerzenflammen schmolz alles Jungenhafte in seinem Gesicht, formte das Markige, Männliche daran stärker heraus. Die eckigen Konturen von Kinn und Wangen. Die starke Nase. Seine tief herabgezogene, geradlinige Brauenpartie.

Nur sein flacher Mund wirkte biegsam, beinahe nachgiebig, und ein ruhiger Glanz stand in seinen Augen.

»Und trotzdem sind Sie zurückgekommen.«

»Ja.« Unsicher klang ihre Stimme, als könne sie es noch nicht recht fassen. »Trotzdem bin ich zurückgekommen.«

Zeit der wilden Orchideen

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