Читать книгу Sarah Boils Götterkrieger - Nicole Laue` - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеIch schlüpfte hektisch in meine Jeans, warf mir meinen hell-beigen Wollpulli über und wühlte im Schrank nach meinen Schuhen. Die weißen Turnschuhe lagen wieder mal ganz tief unter einem Berg vergraben. Himmel! Ordnung war wirklich nicht mein Talent.
Der linke Schuh war zerknautscht und ein wenig schmutzig. Es war mir egal. Hauptsache bequem. Ich riss meine braune Lederjacke von der Garderobe, verließ die Wohnung und lief zu meinem Wagen. Der einzige für mich existierende männliche Freund, der mich noch nicht verlassen hatte. Schlimm genug, dass ich manche Nacht ziellos durch die Gegend gefahren war und Selbstgespräche geführt hatte.
Unfassbar! Was war nur aus mir geworden?
Früher hätte ich versucht mit Martin zu reden, obwohl das eigentlich auch für die Katz war, er hörte meist nur den Anfang meiner Erzählung und verließ einfach mitten im Gespräch das Zimmer. Während unserer Beziehung war mir nie aufgefallen, dass wir in vielen Dingen überhaupt nicht zusammen passten. Martin war der geborene Egomane und ich eigentlich tief in meinem inneren, der absolute Herzmensch. Er hatte mich nie wirklich gesehen. Er wirkte zwar oft fürsorglich und kümmerte sich um vieles, doch eigentlich ging es ihm grundsätzlich nur darum, sich selbst daran zu ergötzen, was er doch für ein toller Partner war.
Durch Lionel wurde mir erst bewusst, wie eingefahren ich mein Leben verbracht hatte. Es war nicht so, dass Lionel besser war, nein, sicher nicht, er war noch schlimmer. Schließlich wollte er mich mehr als einmal umbringen. Lionel war einfach die Versuchung pur und dadurch, dass wir unsere Gedanken lesen konnten, wussten wir genau, was der andere wollte. Lionel war der geborene Charmeur, er war der Inbegriff der Sünde. Und eines konnte er wirklich: Zuhören. Durch ihn wurde mir zumindest bewusst, was mir bei Martin immer gefehlt hatte. Lionel gab mir das Gefühl von Schutz und Sicherheit, obwohl ich nie gefährlicher gelebt hatte, als in seiner Nähe. Ich würde wohl nie begreifen, was uns wirklich verband. In meinen Adern floss das Blut Christophers, rein und in erster Generationsfolge. Mein Vater hatte wiederum Lionel gebissen und zum Vampir gemacht, vielleicht hatte Lionel dadurch diese unerklärliche Verbindung zu mir.
Der Altvampir war in meinem Leben aufgetaucht, als hätte ich ein Leben lang nach ihm gesucht.
Oder habe ich Todessehnsucht?
Irgendwo tief in Lionels Innerem würde immer eine brutale und unmenschliche Bestie schlummern, die es nach meinem Blut dürstete. Aber alles war besser als ein Sterblicher, der mich nicht einmal wahrnahm. Einen Seufzer lang bestand die Gefahr, lethargisch zu werden.
Natürlich konnte ich keine Beziehung mit einem Untoten führen. Ein Vampir liebte nicht, ein Vampir wollte Blut, begehrte allerhöchstens das Fleisch und die Ekstase. Für eine Weile hatte ich dummerweise geglaubt, Lionel wäre fähig gewesen, so etwas wie Liebe zu empfinden. Doch nach unserem letzten gemeinsamen Kampf, bei dem sein Körper fast komplett verbrannt war, wurde mir wieder einmal bewusst, was er wirklich war. Und die Chance, dass er eines Tages seine Seele zurückerhalten könnte, war gleich Null. Zu oft, wenn er mich angesehen hatte, waren alle Zweifel wie weggewischt. Wie ein Schleier hatte die Lüge mich dann wieder in zärtliches Vertrauen gebettet. Wie eine weiche, flauschige Wolke säuselte sie mir ins Ohr, versprach mir all die Lügen, die ich zu gern hören wollte. Ich war nicht in der Lage gewesen, ihn zu töten, ich rettete ihm sogar sein jämmerliches Leben. Aber war es ein Leben, oder war es die Hölle? Wie immer ich es drehte und wendete, es kam aufs Gleiche hinaus. Ich hatte Lionel nach unserem letzten Kampf verschont und ihn seit dem auch nicht mehr wiedergesehen. Einem jedoch war ich mir sicher: Es würde der Tag kommen, an dem ich ihn töten musste.
Wenn er mir nicht vorher die Lichter ausblies, das wäre dann wohl der Preis dafür, dass ich ihn nicht gleich entsorgt hatte, als sich mir noch die Gelegenheit dazu bot.
Ich ließ den Wagen aufheulen und machte mich auf den Weg zu Mary. Es regnete in Strömen, der Himmel war immer noch dunkel und bedeckt. Das Telefonat geisterte mir immer wieder durch meinen Kopf, gleichzeitig machten sich die letzten Wochen wieder bemerkbar und wirbelten meine Gedanken wild durcheinander und mischten Bilder, Sätze, Wortfetzen und Erinnerungen, sodass sich ein buntes Spektakel in meinem Gehirn festkrallte. Alles was ich zu verdrängen versucht hatte, war präsenter als je zuvor. Ich sah Richard vor mir, einer der Altvampire und Lionel, wie er blutend und aufgeschlitzt am Rad der Weisheit hing. Es war, als wäre es gestern erst geschehen. Blutige Szenarien, brutal entstellte Wesen, dessen Gedärme herausquollen, Knochensplittern und Fleischwunden, schmerzerfüllte Schreie und immer mit dem eigenen Fuß nah an der Schwelle des Todes. Immer wieder tauchten die Bilder vor meinem geistigen Auge auf und erinnerten mich daran, dass die Welt nicht mehr das war, was sie früher war. Ein Schauer lief mir über den Rücken, die Erinnerung war in ihrer Intensität ein scharfes Schwert, das in meiner Seele steckte.
Ich war in dieser Nacht durch die Straßen gelaufen bis die Sonne aufging. Ziellos und voller Schmerz. Erst im Morgengrauen hatte ich mich erschöpft in meiner Wohnung verschanzt und versucht, alles um mich herum auszuschalten. Immer wieder aufs Neue spielten sich die Szenen in meinen Gedanken ab. Ich hatte die ersten zwei Nächte nicht geschlafen und es dauerte Tage, bis ich irgendwann auf dem Teppichboden zusammensackte und vor Erschöpfung von einem Albtraum in den nächsten fiel.
Iris war in der Nacht nach diesem besagten Abend mit Mary noch in die unterirdischen Gänge zurückgekehrt und sie hatten das Rad geholt. Es war bei Iris in guten Händen. Sie wollte dafür sorgen, dass es für immer verschwindet. Nicht auszudenken, wenn wieder jemand versuchen würde, die Pforten erneut zu öffnen.
Was immer Iris damit vorhatte, es interessierte mich nicht mehr. Ich hatte getan, was ich tun konnte und musste mich danach erst einmal zurückziehen, um all die Erlebnisse zu verarbeiten. Was ich am meisten gebraucht hatte, war Zeit. Zeit, um mich selbst neu kennenzulernen.
Als ich bei Mary vor der Türe parkte und klingelte, war es wieder da, dieses vertraute Gefühl, das mich ständig wie ein Nebelschleier sanft umgarnte und mir die Illusion von vertrauter Wärme erzeugte. Ich blickte mich suchend um. Er war da! Irgendwo war Lionel. Ich konnte ihn nicht sehen, doch ich nahm seine Anwesenheit deutlich wahr. Ich spürte ihn hautnah und mein Nervensystem bestätigte mir, dass ich Recht hatte. Mein Körper zitterte vor Erregung. Schemenhaft sah ich sein Gesicht vor mir, seine blauen Augen, diese verdammten Augen, die mich um den Verstand gebracht hatten. Ich nahm den Duft seines Aftershaves war. Mein Herz begann zu klopfen, mein Innerstes wurde auf seltsame Weise berührt und meine Seele begann wie ein Magnet nach ihm zu greifen. Ich klatsche ein paar Mal laut in die Hände, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen.
Schluss damit. Feierabend!
Ich atmete tief durch, versuchte ihn zu ignorieren und lief durch den langen Flur des Treppenhauses und sprang in Windeseile die Stufen hoch.
Immer drei auf einmal. Ich betrat Marys kleine Diele. Hinter mir fiel die Haustüre ins Schloss. Mary riss mich in ihre Arme und drückte mich so fest an sich, dass ich den Kopf nach hinten neigen musste und ihr ein erstauntes und fragendes Lächeln schenkte. Ihre graugrünen Augen strahlten: „Ist das schön, dass du wieder da bist. Oh Sarah, man, ich hab dich so vermisst.“
Sie schob mich ins Wohnzimmer und ich erwiderte schuldbewusst: „Ich brauchte die Zeit. Es tut mir leid, aber...“
Sie ließ mich nicht ausreden. Und es tat so verdammt gut, ausgebremst zu werden.
„Es ist ok, alles ist ok. Ich kann dich total verstehen. Du hast aber auch einen Scheiß an der Backe gehabt. Aber ich bin froh, dass du endlich wieder da bist.“
Sie schob mich durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer, legte die Hände auf meine Schultern und presste mich auf ihr Sofa. Mary selbst schmiss sich sofort daneben in ihren hellgrauen Fernsehsessel und blickte mich mit großen Augen fragend durch ihre rote Brille an. Dabei tippelte sie nervös mit den Fingerspitzen auf ihren Knien und schien die Spannung kaum noch auszuhalten.
„Gibt es was Neues von Martin oder Lionel?“
Dabei deutete sie auf eine Schale Kekse, die vor mir auf dem kleinen Tisch stand. Genüsslich stopfte sie einen nach dem anderen in ihren kleinen Mund und sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts. Martin will seine restlichen Sachen holen, wenn er soweit ist und Lionel soll dahin gehen, wo er herkommt, er soll sich zum Teufel scheren.“
Mein Gesicht verdüsterte sich, leise fügte ich kaum hörbar hinzu: „Wenn er nicht schon längst dort ist.“
Der Gedanke an ihn brachte mich immer wieder zur Weißglut. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde ein glühender Pfeil in meiner Brust stecken und meine Venen schienen schon wieder unkontrolliert zu pulsieren. Ich hasste mich immer mehr dafür, dass ich ihn nicht gleich vernichtet hatte. Und ich hasste mich ebenfalls dafür, dass ich ihn vermisste. Hass und Liebe lagen scheinbar manchmal sehr nah beieinander.
Es waren nur kleine Nuancen die den feinen Unterschied machten, aber das Gefühl war in etwa dasselbe.
Wobei Hass noch mehr zu verbinden scheint als Liebe.
Aber wer hat schon die Liebe wirklich verstanden? Und was war Liebe?
Seit Lionels Auftauchen und die Gewissheit, dass meine kleine und gottbehütete Welt gar nicht so behütet war, meine angeblich große Liebe mich mir nichts dir nichts verlassen hatte, da hatte der Glaube an die Liebe ein jähes Ende genommen. Lionel war die pure Lust und mit ihm tanzten die Hormone einen ewigen Tango.
Noch immer wusste ich nicht, was er in diesem Moment tat, ob er sich an seine eigenen Regeln hielt oder wieder plante, die Menschheit auszulöschen. Wie ich den Gedanken auch drehte und wendete, ich kam zu keinem Ergebnis. Dieser Kerl machte mir schwer zu schaffen und darauf war ich wahrhaftig nicht stolz.
Mary nickte verstohlen. Sie brauchte mich nur anzusehen und wusste, wie ich mich fühlte und was in mir vorging.
„Weißt du Sarah, Martin hat dich wirklich nicht verdient. Und Lionel? Wenn er ein Mensch wäre mit Gefühlen und Empfindungen, dann wäre er schon der Richtige, obwohl…ein paar hundert Jahre zu alt.“
Schweigend und in Gedanken versunken schenkte ich ihr ein bedächtiges Nicken.
„Na ja, zu blutrünstig ist er auch“, fügte sie mit einem kecken Lächeln hinzu.
Mary zog die Augenbrauen hinter den Gläsern der Brille hoch und grinste über beide Ohren. Bei diesem Anblick musste ich einfach lachen.
„Vielleicht, aber es wäre müßig darüber nachzudenken, denn er ist kein Mensch und er wird auch nie ein Mensch werden.“
Ich ertappte mich dabei, dass ich mich immer noch mit diesem Mistkerl beschäftigte. Den Gedanken an ihn von mir weisend fragte ich, was sie zu Trinken im Haus hatte.
“Cola“?
Mary stand auf und bewegte sich auf ihren Kühlschrank zu.
Ich blickte mich um, es hatte sich einiges hier verändert. An der Wand hingen neue Bilder und über der Flurtüre prangte ein großes Pentagramm aus glänzendem Edelstahl. Es roch auch anders als früher, nicht mehr so sehr nach Marys Vanillekerzen, es war ein seltsamer Geruch von Weihrauch, Thymian und irgendwelchen Gewürzen, die mein zweites Zuhause befremdlich erscheinen ließ. Ich war nicht lange fort gewesen und doch schien sich alles verändert zu haben.
„Mary, du musst mal lüften und….sag mal, ist Iris jetzt oft hier?“
Sie drehte sich um und starrte mich an, als hätte ich etwas Verbotenes gefragt.
„Nein, oder doch….“stotterte sie verlegen.
„Warum wirst du denn gleich so nervös? War doch nur ne Frage.“
„Sie ist jetzt schon mal öfter hier, und… Ja, sie bringt mir einiges bei. Wie sage ich dir das denn jetzt? Hm... Schau mal...“, und Mary fing euphorisch zu erzählen an.
„Wenn du zum Beispiel weißt, wie man Gewürze oder Kräuter anwenden kann, was für eine Kraft dahinter steckt, und was für eine gewaltige Wirkung sie haben, du würdest dich wundern, was sich da für Möglichkeiten auftun, die Natur bietet so viele wundersame Dinge.“
Meine Augen weiteten sich und ich zog stutzig die Brauen hoch.
Was ist denn hier los?
Mary fuhr unbeirrt fort.
„Wenn du zum Beispiel Panik vor einer Prüfung hast, dann kannst du einen Zauber wirken lassen, in dem auch Anis verwendet wird. Oder Basilikum, das gibt Mut und Kraft. Und auf Wunden kann man prima Arnika schmieren, und wenn du…“
Ich unterbrach sie: „Ist ja alles gut und schön, bitte Mary, lass uns ein andermal darüber philosophieren. Wann ist Iris hier?“
„Oh, ja, sicher, ich hab sie angerufen, sie hat noch einiges zu erledigen und kommt gegen Abend. Anders geht es leider nicht.“
Ich nickte. Solange konnte dieser Novus wohl auf seinen Käfig noch warten.
„Brauchen wir einen Zauber? Ich könnte schon mal…“
Ich ließ sie nicht ausreden und winkte sofort ab.
„Bloß nicht, du kleiner Zauberlehrling, Iris Magie reicht mir völlig aus, fang du bitte nicht auch noch damit an. Wer weiß, was du sonst anstellst.“
Mary lugte wie immer durch ihre kleine, rote Brille, die ihr rundes Gesicht noch mehr betonte. Meine barschen Worte taten mir fast schon wieder leid. Aber ich kannte die Kraft und Magie, die von Iris ausging, und wusste, wozu sie fähig war. Nicht auszudenken, wo es hinführen würde, wenn Mary sich darin übte.
Sie stellte ein Glas Cola vor mir auf den Wohnzimmertisch und flegelte sich neben mich zwischen die weinroten Kissen. Mit dem Kopf an meiner Schulter begann sie zu fragen.
„Iris Kräfte sind stärker geworden, es ist unglaublich, wie sie sich entwickelt. Aber kommen wir zu dir. Was machen wir denn jetzt? Ich meine, wie finden wir denn jetzt diesen Käfig? Und was ist das überhaupt für ein Ding?“
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Mary druckste eine Weile herum, dann senkte sich ihr Kopf bis fast auf die Knie, und dann kam dieser Blick, der mich ahnen ließ, dass jetzt etwas Unangenehmes kam.
„Sarah“, sie blickte mich mit zerknirschtem Gesicht an.
„Vielleicht solltest du Lionel rufen?“
Ich hatte es geahnt. Und doch war mir auch klar, wenn Iris keine Lösung wusste, dann blieb es mir vermutlich nicht erspart. Aber das Wort Hilfe im Zusammenhang mit Lionel gefiel mir überhaupt nicht und war regelrecht grotesk.
Ihn wieder zu sehen, das war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.
Ich spürte, dass Mary mich beobachtete und ihr Mitgefühl, das wie ein Orkan meine Sinne berührte, war so stark, dass ich kurz Luft holte und meine Augen schloss, um es zu verdrängen. Sie kannte mich einfach zu gut, ich konnte ihr nichts mehr vormachen.
Ihr Blick war mitfühlend und verständnisvoll, als sie mir ihre kleine, kräftige Hand aufs Knie legte und leise sagte: „Du hast ihn noch nicht vergessen, stimmt's?“
Ich blickte verstohlen auf den Boden.
„Wen meinst du?“, flüsterte ich in der gleichen Lautstärke zurück. Meine Stimme versagte plötzlich und ich räusperte.
Wie selbstverständlich flüsterten wir weiter, als wäre die kleine Wohnung verwanzt.
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht mal, wen du meinst, Martin oder Lionel? Und es ist auch egal, wen du meinst, ich habe keine Antwort darauf.“
Ich hatte gelogen. Ich wusste es und Mary wusste es auch. Gerade jetzt, wo wieder etwas Unerwartetes in meinem Leben geschah, von dem ich nicht wusste, wo und wie ich es einordnen sollte, da sehnte ich mich nach Lionel. Er war stark, finster und gab mir das Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Durch ihn spürte ich meine Macht viel stärker. Anderseits war ich nie sicher, wie lange es anhalten würde, bis er mir genau diese Sicherheit wieder nahm.
Doch trotz all dieser negativen Aspekte war er das Wesen, das mir in diesen Momenten näher stand, als Martin je fähig gewesen war.
Ich blickte auf die Uhr, trank einen großen Schluck von meiner Cola, stand auf und lief hin und her. Lionel jetzt zu rufen, würde nur meine Schwäche zeigen. Er hätte wieder einmal den Triumph, dass ich ihn brauchte, und gerade das wollte ich vermeiden. Auf der anderen Seite hatte ich mal wieder keine andere Wahl.
„Vielleicht hast du sogar Recht, Lionel ist vermutlich der Einzige, der wirklich weiß, was zu tun ist. Aber es wird der letzte Ausweg sein. Ich habe ihn verschont, irrsinnigerweise sogar sein Leben, oder vielmehr sein jämmerliches Dasein gerettet, aber noch einmal werde ich nicht zulassen, dass er sich mir wieder in den Weg stellen könnte. Wir wissen doch beide, wozu er fähig ist.“
Mary runzelte die Stirn.
„Ob du mal auf eigene Faust diese komische Seherin fragst, die von diesem verrückten, italienischen Vampir festgehalten wird?“
Ich schüttelte wild mit dem Kopf. Der Typ hatte mir gerade noch gefehlt.
„Bin ich denn des Wahnsinns? Der Kerl rennt doch gleich zu Lionel. Das wäre das gefundene Fressen für Lionel, die kleine Sarah kommt mal wieder nicht allein klar. Oder Vincenzo bringt mich gleich eigenhändig um. Schließlich gibt es keinen Grund mehr für ihn, mich noch am Leben zu lassen. Die Pforte ist geschlossen.“
Wir saßen schweigend einfach nur da und taten nichts. Die Minuten zogen dahin, bis Mary die Stille nicht mehr ertragen konnte und vorschlug, ins City Center nach Chorweiler, einem nahe gelegenen, teils verruchten Viertel von Köln zu fahren. Ein Stadtteil, in dem unbescholtene Bürger nachts nicht allein unterwegs sein wollten. Große Betonblöcke und renovierungsbedürftige Hochhäuser umringten ein modernisiertes Einkaufszentrum. In den verlebten Häusern, wohnten verschiedene Mentalitäten aus den unterschiedlichsten Sozialschichten. Nachts schlichen seltsame Gestalten durch die dunklen Straßen und trieben ihr Unwesen. Die meisten von ihnen waren bis unter die Zähne bewaffnet. Drogen und Gewalt war hier kein Fremdwort. Die hiesige Polizei fuhr nächtlich Streife und versuchte die Kriminalitätsrate so gering wie möglich zu halten, Raubüberfälle oder Pöbeleien waren hier noch das geringste Übel.
Tagsüber war das Viertel eher ruhig, da die Junkies und Alkoholiker ihren Rausch ausschliefen, oder in den U-Bahnen herumschlichen.
Das City Center selbst war innen hell beleuchtet und neu renoviert. Es bestand aus zwei Etagen. Gelegentlich konnte man hier und dort ein Schnäppchen machen.
„Komm schon, lass uns shoppen gehen bis Iris kommt. So kommst du wenigstens mal raus und wir könnten Eisessen gehen.“
Bei dem Wort Eis, das sie sich genüsslich über die Zunge zergehen ließ, leuchteten ihre Augen auf.
Ich nickte, vielleicht hatte sie Recht. Alles war besser, als Trübsal zu blasen und nichts zu tun. Und da Marys Lieblingsbeschäftigung essen war, konnte ich sie von ihrem Vorschlag nicht abhalten und würde ihr gleichzeitig eine Freude machen.
Also sprangen wir hoch, verließen das Wohnzimmer und schlüpften in unsere Jacken.
Mary blieb in der kleinen, schummrigen Diele stehen und zupfte an meinem Ärmel.
„Sag mal, hast du denn generell noch irgendwas von Richard und seinen Anhängern gehört? Ich meine, wäre ja möglich…..“
Ich schüttelte den Kopf und meine Lippen pressten sich bei dem Gedanken an Richard zusammen.
„Und du hast von Lionel wirklich gar nichts mehr gehört?“, bohrte sie weiter.
„Nach dem letzten Vorfall haben sie mich alle in Ruhe gelassen, und das ist auch gut so. Trotz alledem, was vorgefallen ist, ich traue diesem ganzen Haufen nicht. Und wenn du mit mir shoppen willst, damit ich auf andere Gedanken komme, dann tu mir einen Gefallen und erwähnte die nächsten Stunden nicht mehr seinen Namen!“
Damit war das Thema für mich beendet. Ich zog Mary hinter mir aus der Wohnung und dann die Stufen hinunter.
„Was zerrst du denn so an mir? Meine Güte, du bist ja echt geladen, wenn es um diese Vampire geht.“
Ich schenkte ihr ein boshaftes Lächeln und steuerte auf meinen Wagen zu.
„Trotzdem darf ich doch wohl noch fragen, ob du den Vampir, dessen Namen ich nicht aussprechen darf, noch mal gesehen hast oder nur irgendetwas von ihm gehört hast.“
„MARY!“
„Ist ja gut, schon gut, ich schweige wie ein Grab. Nein, natürlich kein Grab. Wie eine Tote. Ach nein, auch nicht. Ich bin einfach still, ganz leise.“
Sie grinste frech.
„Lass es dann doch einfach gut sein“, zischte ich durch die Zähne.
„Mach ich doch, ich erwähne seinen Namen doch gar nicht und versuche
nichts zu sagen, was damit in Verbindung steht. --- Was sich als sehr schwierig herausstellt, merke ich gerade.“
Das kräftige Zuschlagen meiner Autotür brachte sie endlich zum Schweigen.