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Kapitel 4

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Eine männliche Stimme hinter uns traf mich wie ein Blitzschlag.

„Hey Mary, na, wie läuft`s denn bei dir? Alles im Lot auf dem Boot?“

Einer dieser Momente, in dem ich mir unsicher war, ob ich mich gerade in einem meiner schlechten Träume befand oder die Realität grausam zugeschlagen hatte.

Inzwischen müsste ich es eigentlich besser wissen.

Wir blieben abrupt und geschockt stehen. Sehr langsam drehten wir uns mit der Geschwindigkeit einer Rennschnecke in die Richtung aus der die Stimme kam. Das war niemand Unbekanntes und die Frage mit dem Boot hatten wir unzählige Male gehört, dass sie uns zum Hals raushing.

Die männliche Stimme formte sich zu einer Gestalt, die wir ungläubig anstarrten. Das konnte nicht real sein. Er war doch tot. Zumindest hatten wir das angenommen. Ein verständnisloser Blick war nichts gegen das, was Mary und ich in diesem Moment wohl boten. Als wäre ich einem vierhöckrigen Lama begegnet, das mit roten Turnschuhen bekleidet mitten im Einkaufszentrum stand und Lambada tanzte. Das Lama bewegte sich zügig auf uns zu und reichte Mary einen seiner Vorderläufe. Mary stand genauso angewurzelt einfach nur da und starrte ihn an.

Das riesige Tier begann zu sprechen und knuffte dabei Mary in die Seite.

„Wollt ihr mir nicht mal die Tageszeit sagen?“

Das Lama begann zu grinsen und dabei mächtig zu spucken. Ich musste mich zusammenreißen, um dieses Bild von einem Tier, das bereits in meiner visuellen Vorstellung Formen angenommen hatte, wieder loszuwerden.

Es blieb jedoch vorübergehend ein stattliches 1,80 m großes Lama.

Sein Haar war wie früher immer noch blond, doch er trug es nicht mehr kurz, er hatte es zu einem langen Zopf zusammengebunden und zu meinem Erstaunen war er nicht mehr so gut genährt. Mittlerweile war sein Körper sogar richtig athletisch. Seine Gesichtszüge waren markanter als früher, und seine Zähne mussten eine komplette Restauration hinter sich haben. Die Stimme war das Einzige, was sich nicht wesentlich verändert hatte. Vielleicht eine Oktave tiefer und ruhiger. Er sah heute richtig gut aus und das wiederum passte nun überhaupt nicht ins Bild.

Ich dachte, du bist tot?

Nach seinem plötzlichen Verschwinden vor einigen Jahren, begegnete er uns lächelnd und strahlend hier im Einkaufszentrum, als wäre nichts gewesen.

Welcher Leichenfledderer hat dich nur wieder zurückgeholt und welchen Chirurgen hast du besucht, den hätte ich dann bitte auch gerne.

Wenn er überhaupt die Person war, die wir glaubten zu hören und zu sehen.

Mary löste sich nicht mehr aus ihrer Erstarrung. Mit weit aufgerissenen Augen, offenem Mund und zitternden Händen stand sie einfach nur da. Ich stellte mich schräg vor sie.

„Hey Piet“, ich reichte ihm die Hand und nickte ihm mit einem nichtssagenden Blick zu.

Was ist denn mit dem passiert? Wie geht so etwas?

„Du hast ja gar keine Pickel mehr, was ist geschehen? Hast Du eine Wunderkur gemacht? Oder haben dich Chirurgen zwischen ihren Fingern gehabt, meine Güte, das muss ja ein Vermögen gekostet haben.“

Ich erinnerte mich noch gut an den alten Piet, der übergewichtige Kerl mit dem Akneproblem, der wie Mary literweise Cola trank und tütenweise Chips in sich hinein stopfte.

Was er meiner besten Freundin damals angetan hatte, war aus meinen Gedanken noch längst nicht gelöscht. Er wollte sie heiraten, hatte ihr das Paradies auf Erden versprochen, doch dann war er damals nach der Arbeit einfach nicht mehr aufgetaucht. Er war wie vom Erdboden verschluckt, niemand wusste, was passiert war, ob er noch lebte, geschweige denn, wo er sich aufhielt. Mary hatte Todesängste ausgestanden. Auch die Polizei hatte ihn damals nicht ausfindig machen können. Wir alle hatte uns damit abgefunden, dass er bereits tot war. Es hatte Mary das Herz gebrochen. Sie ist damals vor Sorge und Kummer fast gestorben. Es hatte viele Monate gedauert, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie viele Nächte wir ihn gesucht hatten. Jeden verdammten Kanaldeckel hatten wir umgedreht, alle Freunde verrückt gemacht und stündlich die Straßen abgefahren, in denen er sich damals aufhielt. Vergebens! Er war wie vom Erdboden verschwunden.

Piet schien all das vergessen zu haben. Er stand einfach da wie das blühende Leben und lächelte wie ein junger Gott. Und genau das störte mich gewaltig. Ein seltsames Gefühl stieg in mir hoch als ich meine Hand zurückzog. Seine Hand fühlte sich leicht unterkühlt an und sein Handgriff war im Gegensatz zu meiner Erinnerung stark und fest geworden. Wer immer hier vor mir stand, es war nicht Piet. Er sah vielleicht aus wie er, aber er war es nicht, dessen war ich mir sicher. Er fühlte sich nicht an wie Piet.

„Was treibt ihr denn schönes hier? Mary, ich hab dich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Gut siehst du aus. Wir sollten uns mal wieder treffen.“

Mir platzte gleich der Kragen. Solange hatte sie gebraucht, um über seinen Verlust hinweg zu kommen und nun stand diese Person einfach da, und tat, als ob nie etwas vorgefallen wäre.

Ich konnte spüren, dass Mary innerlich zitterte, ihr Herz schlug wie ein Uhrwerk. Nur Piets Herz zeigte keine Reaktion. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, niemals die Gedanken anderer zu lesen, oder an ihren Emotionen teilzunehmen, aber manchmal war meine Begabung ein Geschenk des Himmels. Jeder sollte das Recht auf ein eigenständiges Dasein haben, ohne kontrolliert oder überprüft zu werden. Ich wollte nicht tiefer schauen, damit der andere sich seiner Geheimnisse sicher sein konnte. Doch bei Piet machte ich gerne eine Ausnahme. Es war eine Weile her, dass ich meine Kräfte bewusst genutzt hatte. So konzentrierte ich mich auf meine Sinne, versuchte sein Innerstes zu finden, doch was mich erwartete, nahm mir für den Bruchteil einer Sekunde die Luft.

Sein Herz schlug nicht mehr so, wie es eigentlich sollte, so, wie man es erwartete. Ich griff tiefer hinein, suchte seine Seele und stieß nur auf ein leeres und dunkles Loch. Er war stark, sehr stark, seine inneren Schutzmauern waren unglaublich gut ausgeprägt, sonst hätte ich es früher gespürt. Er schien Meister im Verbergen zu sein. Ich prallte immer wieder an etwas Sonderbarem ab.

Ich blickte ihn an, konnte aber seinem Gesichtsausdruck nichts entnehmen.

„Piet“, fragte ich mit unschuldigem Lächeln: „Was treibst du denn jetzt so?“

„Sarah, ach weißt du, ich habe jetzt einen Club. Ganz edel, nur geladene Gäste haben Eintritt. Aber ihr zwei könntet mich ja mal besuchen. Ich würde mich freuen.“

Er hatte mich nur beiläufig von der Seite angesehen, denn sein Blick heftete wie eine Zecke an Mary.

Er legt seine Hand auf ihre Schulter, lehnte den Kopf leicht an ihren und flüsterte: „Süße, wir sollten noch einmal über alles reden.“

„Wo bist du gewesen?“, stotterte Mary und blieb weiter starr wie eine Litfaßsäule stehen.

Das würde ich allerdings auch gerne wissen…

„Kleines“, erwiderte er Süßholz raspelnd.

„Tut mir leid, mir ist damals etwas dazwischen gekommen. Ich würde es dir so gerne erklären, aber mir fehlt die Zeit, komm in meinem Club und ich werde dir alles erklären, mein Schatz.“

Ihm war was dazwischen gekommen, wie süß, und ich weiß auch schon was.

Mary nickte nur stumm. Sie stand unter Schock.

Ein charmantes und doch hinterlistiges Lächeln machte sich auf Piets Gesicht breit. Er drückte Mary eine Visitenkarte in die Hand. Ein letztes Zwinkern und er verschwand mir nichts dir nichts ohne jeden weiteren Kommentar in der Menge.

„Das ist so Hammer heftig“, entwich es Mary kopfschüttelnd und sie ließ das Kärtchen zitternd in ihrer Hosentasche verschwinden. Ihr Herz schlug so schnell und laut, dass ich Sorge hatte, sie würde jeden Moment einen Kreislaufzusammenbruch erleiden.

„Oh mein Gott… Träume ich etwa? Er lebt…..Hast du gesehen, wie süß er mich angesehen hat? Oh Sarah, er will mich sehen, ach du meine Güte, ich glaub er liebt mich noch. Und wie gut er aussah. Er hat abgenommen. Wo hat der bloß diesen Traumkörper her? Und was macht er hier?“

„Boah Mary, komm wieder runter“, schnaubte ich verächtlich.

Sie senkte den Kopf.

„Und wo war er? Warum hat er mich so verlassen? Vielleicht hat er eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat und vielleicht hat er eben ja gespürt wie sehr er mich noch liebt.“

Ich schluckte, nein, er liebte sie nicht mehr, dass tat er mit Sicherheit nicht. Dazu war er nicht mehr fähig. Ich sah das Entsetzen und gleichzeitig die Hoffnung in ihren Augen aufkeimen.

Ich muss es ihr sagen. Aber wie?

Piet war ihre erste große Liebe gewesen und sein unerwartetes Verschwinden, hatte in Marys Seele Spuren hinterlassen. Die Wunden waren nur ganz langsam verheilt. Es hatte viele Tränen gegeben, durchzechte Nächte, stundenlange Gespräche und Monate, in denen Mary völlig depressiv und verwirrt durch die Straßen Kölns lief. Einen Menschen zu verlieren ist das Eine, nicht zu wissen, was ihm widerfahren ist, ist etwas ganz anderes. Der Mensch sucht immer nach Antworten, und bleiben diese aus, dann hinterlässt genau das eine dunkleleere Stelle im inneren unserer Seele.

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, manche jedoch, verschwinden niemals ganz. Sie werden kleiner, hinterlassen Narben, doch die Erinnerung ist oftmals intensiver, als die Gegenwart je sein kann. Nun rissen Marys alte Wunden in wenigen Sekunden wieder auf.

Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und schob sie weiter in Richtung Ausgang. Wir waren von der großen Glastüre nicht mehr weit entfernt und passierten schnellen Schrittes den kleinen Gang zu den gegenüberliegenden Parktaschen. Mary stolperte verwirrt neben mir her, sie konnte kaum Schritt halten und riss sich zwischen den parkenden Autos von mir los.

„Was ist eigentlich los mit dir? Hast du ein Problem damit, dass er mich sehen will?“

Verdammt, ja, das habe ich…

Sie warf mir einen giftigen Blick zu und verdrehte die Augen. Dann verzog sie zynisch ihre Lippen und gab mir einen nicht ganz sanften Schubs.

„Mensch Sarah, ich weiß was jetzt kommt, er hat mir weh getan, ja, und ich hab gelitten, ja, und ich hab dich eine lange Zeit vollgeheult, auch ja, aber ich bin jetzt total überrascht. Als er jetzt so plötzlich vor mir stand… Ich meine, vielleicht will er mich zurück, oder er liebt mich doch noch tief in seinem Innern. Nicht, dass ich ihn zurücknehmen würde, aber... nun ja, ich meine… mal dahin gehen schadet doch nichts. Ich wüsste auch gerne, warum er damals nicht zurückkam. Ach komm schon, du weißt doch, wie das ist. Ich dreh noch am Rad, ich muss wissen, was das damals alles sollte. Ich will wenigstens eine plausible Erklärung.“

Ich habe eine Erklärung, aber die willst du ganz sicher nicht hören.

„Und außerdem, schau ihn dir an, wie geht so was? Wie verdammt nochmal hat er das gemacht? Er sieht aus wie ein junger Gott!“

Gott mit Sicherheit nicht, eher wie ein Teufel im Schafspelz !

Die Antwort lag mir auf der Zunge, ich hätte sie ihr jetzt hier und sofort offenbaren können, hier und in diesem Augenblick, doch wenn Mary nicht von selbst ein Licht aufging, blieb mir keine Wahl, als ihr nahezulegen, ihre kleinen Gehirnzellen mal ein wenig anzustrengen. Einen Herzinfarkt in einem gut besuchten Einkaufszentrum musste allerdings auch nicht sein. So schwieg ich vorerst und schlenderte nachdenklich neben ihr her, während ich mit der Gummisohle meiner Schuhe über den Boden schabte und quietschende Geräusche erzeugte.

Endlich hatten wir den langen Gang, der zum Ausgang führte, hinter uns gelassen und liefen durch eine Glastür hinaus ins Freie. Der graue Steinboden, der vor uns lag, wirkte trostlos. Überall klebten alte Kaugummis, die im Laufe der Zeit zu dunklen Flecken mutiert waren. Schwarze, hässliche, platte Kreise, die die Straße alt und abgenutzt aussehen ließen. Ghettosiegel, die das Großstadtviertel auf penetrante Art markierten. In der Straßenrinne lagen Zigarettenfilter und vereinzelt sonstiger Unrat. Ich suchte nach den richtigen Worten. Wie konnte ich erklären, dass Piet nicht mehr der Mann war, den sie einst kannte, ohne sie zu verletzen? Ich setzte an, etwas zu sagen. Doch ich presste die Lippen aufeinander. Stattdessen stieß ich mit dem Fuß eine alte Blechdose die Straße entlang und hielt meine Klappe. Sie schepperte über den unebenen Steinboden, prallte an einer Straßenlaterne ab und rollte dann mit einem letzten blechernen Seufzer in den Rinnstein.

Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Auto. Ich wühlte in meiner Tasche, zog den Schlüssel heraus und schloss den Wagen auf.

Als ich den Motor startete, ließ ich das Lenkrad wieder los.

„Mary?“, fragte ich vorsichtig.

Sie sah meinen besorgten Gesichtsausdruck und schien zu wissen, das jetzt etwas kam, was ihr nicht gefallen würde und so giftete sie nur burschikos: „Nein, und noch mal nein, für mich ist das ein innerer Reichsparteitag, zerstör mir das jetzt bitte nicht.“

Ihr flehender Gesichtsausdruck versetzte mir einen Stich mitten ins Herz.

Schmerz und Traurigkeit spiegelten sich auf Marys Gesichtszügen wieder. Ich schluckte, denn der Gedanke, dass sie gleich noch mehr in sich zusammen sinken würde, riss mir fast ein Loch in meine Seele.

Ich wollte gerade ansetzen als sie mir das Wort aus dem Mund nahm: „Och bitte, komm schon, lass mir das Gefühl, dass ich die Wahrheit erfahren werde…“, bettelte sie.

„Lass mich für einen Moment siegesgewiss sein und mich gut fühlen, dass er uns eingeladen hat, auch wenn es höllisch weh tut, dass er lebt. Ich meine... ach du weißt schon.“

Ich nickte andeutungsweise mit dem Kopf und die Worte, die dann über meine Lippen kamen, waren auch für mich nicht angenehm. Ich räusperte mich.

Das wird jetzt nicht besonders schön!

„Mary, ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll, aber“, meine Hand lag ruhend auf der ihren, unsere Blicke trafen sich.

Mary kannte diesen Ausdruck in meinem Gesicht zu gut, sie starrte mich ängstlich an.

„Das, was wir eben gesehen haben, war nicht Piet.“

Mit dem Versuch, meine Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen, schenkte ich ihr einen mitleidigen Blick. Mary stutzte und ihr fragender Gesichtsausdruck änderte sich langsam und verwandelte sich in eine wütende Grimasse.

„Wie jetzt? Klar war das Piet, ich war schließlich mit ihm… oh oh… nein, sag das jetzt nicht, sag es bitte nicht, ich will es nicht hören, nein, das glaub ich jetzt nicht... pah… nie im Leben... ist er jetzt ein… nein, das kann nicht sein.“

Sie brachte das Wort 'Vampir' nicht über die Lippen, doch der Groschen war endlich gefallen.

Ich nickte zerknirscht und konnte mitfühlen, wie sich ihr ruhiges und inneres Meer in einen tosenden Sturm verwandelte. In diesem Moment verfluchte ich meine Gabe. Ihre Gefühle waren so stark, dass sie wie ein Orkan über mich hinweg peitschten.

Leise flüsterte sie: „Verdammt, wie konnte das passieren? Deswegen ist er in der Nacht nicht mehr zurückgekommen. Was haben sie ihm nur angetan? Und wer? Ich muss ihm helfen, ich muss ihn daraus holen.“

Ich flüsterte nur noch: „Es ist zu spät. Du weißt, dass es nicht möglich ist. Du kannst ihm nicht mehr helfen. Es ist nicht mehr der Piet von früher, er ist tot, Mary. Es tut mir leid.“

Es war ein schweres und bedrückendes Schweigen, das zwischen uns lag, man hätte die dicke, grausame Masse in Scheiben schneiden können. Wortlos startete ich den Motor und fuhr los. Niemand sprach ein Wort. Mary saß regungslos einfach da und ihre Augen suchten den Himmel ab. Die Stille wurde von Minute zu Minute unerträglicher und ich brach endlich das Schweigen.

„Ich schätze, das war das Werk von Richard und seinen Anhängern. Er wird einige Menschen in unserer Stadt zum Jungvampir gemacht haben um seine Armee zu vergrößern. Er wird sein Ziel wohl nie aus den Augen verlieren.“

„Ja, mag sein.“ Sie starrte durch die Scheibe hinaus auf die Straße.

Die Häuser zogen an ihr vorbei, Fußgänger liefen über den Gehweg, Kinder hüpften über den Asphalt, eine deutsche Dogge hob ihr Bein und pinkelte unverfroren gegen eine mit bunten Plakaten beklebte Litfaßsäule. Die Welt drehte sich unaufhörlich weiter, doch für diesen einen Augenblick schien für Mary die Zeit stehen geblieben zu sein.

„Es tut mir unendlich leid.“

Erneut suchte ich nach tröstenden Worten, doch was hätte ihr in diesem Moment den Schmerz nehmen können, der sich in ihre Eingeweide fraß? Der wie eine Messerklinge jede Faser ihres Körpers durchdrang und immer tiefere Wunden verursachte.

„Deswegen ist er auch bei Nacht und Nebel einfach verschwunden, nicht mehr wieder gekommen….“ stammelte sie.

Ihre Brille war verrutscht und die kleinen Gläser waren beschlagen. Sie begann zu weinen. Tränen liefen unter dem roten Gestell hindurch, sie verließen ihre Wangen wie ein Rinnsal, fanden den Weg über ihren Hals und endeten auf dem Kragen ihres Shirts. Sie schluchzte nicht. Es war ein leises Wimmern, dass aus der Tiefe ihres Herzen empor stieg. Wütend trat ich das Gaspedal durch.

Wann hörte das endlich auf? Und wie viele waren jetzt in der Stadt? Wo hielten sie sich auf und was taten sie?

„Ich weiß um deinen Schmerz…“, es war mein letzter Versuch nach Worten zu ringen, doch sie schien mich nicht mehr zu hören.

„Ich werde sie alle töten…“ ihre Stimme klang nicht verbittert und ihre Worte sprach sie auf eine beängstigende Weise so klar und deutlich aus, dass ich zusammenzuckte. So hatte ich sie noch nie erlebt. Die Art, wie sie das Wort „töten“ aussprach, verpasste mir eine Gänsehaut und mir war im selben Moment klar, dass sie das, was sie dort sagte, sehr ernst meinte.

„Oh Gott Mary, ich verstehe deinen Zorn und deine Wut. Und wir werden den Schuldigen finden. Aber dreh mir jetzt nicht durch.“

Sie sah mich nicht an. Sie blickte weiter starr aus dem Fenster und sagte in einem Ton, der mir ernsthaft Angst machte: „Ich werde dort hingehen und ich werde sie alle vernichten. Das ist eine ganz persönliche Sache.“

Den Bruchteil einer Sekunde fehlten mir die Worte, ich verstand ihren Zorn und ihren Schmerz, doch dieser verächtliche Tonfall in ihrer Stimme war mir gänzlich unbekannt und in diesem Moment wusste ich, dass eine zweite Seite in ihr erwachte. Niemals hatte ich sie in einer derartigen Verfassung gesehen.

„Wir werden ihn zur Rechenschaft ziehen und er wird seine gerechte Strafe bekommen. Aber bitte um Himmelswillen, lass das meine Sorge sein. Es werden vermutlich so viele neue Vampire da sein, die nicht in abgeschirmter Sicherheit leben wollen, die sich nicht bedeckt halten werden, und sie werden nicht vor dir flüchten. Sie werden morden, und zwar immer weiter. Und du weißt das. Du weißt auch, dass du nichts tun kannst.“

Mit ernster Miene und eiskalter Stimme, als wäre sie just in dieser Sekunde erst erwachsen geworden, sprach sie: „Du musst Lionel finden, Sarah, spring über deinen Schatten.“

Dann schmetterte sie mir die Worte, die wie ein Befehl über ihre dünnen Lippen jagten, wie ein Faustschlag ins Gesicht: „Besorg mir Lionel. Ruf nach ihm. Sofort!“

Ihre Blicke verloren sich im Nu wieder irgendwo im Nichts. Es war nicht mehr die kleine fipsige, verspielte und unschuldige Mary, die ich kannte. Dort sprach nun eine dunkle und barocke Stimme, energisch und befehlend.

Lionel, ja fantastisch, der hat mit jetzt gerade noch gefehlt.

Lionel, ja ich konnte ihn rufen. Ob er mich noch hören wollte, sei mal dahin gestellt. Da ich keinem trauen konnte, nicht mal Lionel, war ich mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee wäre. Vielleicht hatte er zwischenzeitlich die Seiten gewechselt. Oder Lionel hatte Piet erschaffen? Vielleicht stellte auch Lionel eine kleine Armee zusammen? Wer wusste das schon? Wie viele Lügen hatte ich schon von ihm gehört? Ich musste grundsätzlich davon ausgehen, dass immer die Möglichkeit bestand, dass er früher oder später wieder komplett zum Monster mutierte. Der Gedanke ließ Ekel in mir aufsteigen.

Ich beschloss, bis zum Abend zu warten und mit Iris zu sprechen.

Wir hatten also zwei Probleme, den bronzenen Käfig zu finden und herauszufinden, wer Menschen in Vampire verwandelte. Piet war transformiert worden und das bedeutete, dass jemand wohl vorhatte, sich zu vermehren oder zumindest seine Brut zu vergrößern.

„Mary, versteh mich bitte nicht falsch, wir werden uns darum kümmern, ich verspreche es dir, aber wichtiger ist jetzt, heraus zu finden, was es mit dem bronzenen Käfig auf sich hat und wo wir ihn finden. Lass uns bitte bis zum Abend warten und mit Iris darüber sprechen, bevor wir Lionel aufsuchen.“

Mary nickte nur stumm. Die Stille im Wagen und das Surren des Motors machten mich wahnsinnig. Die sonst so gutmütige, quirlige und zapplige Mary war zu einer Eisenstatue erstarrt und die Gefühle, die nicht nur von Schmerz, sondern von abgrundtiefem Hass geschürt wurden, peitschen durch das Fahrzeug und schlängelten sich wie scharf geschliffene Stahlbänder durch den dichten, unsichtbaren Nebel, der im Fahrzeug lag. Die Sekunden zogen sich wie zähes Kaugummi in die Länge.

Als wir endlich bei Mary vor der Türe angekommen waren, zuckte ich zusammen.

Ich parkte den Wagen und wir stiegen aus. Da war sie plötzlich wieder. Diese Verbundenheit, die mich anwiderte. Was in aller Welt trieb Lionel hier? Er war ganz in der Nähe, ich spürte ihn deutlicher als sonst. Ich blickte mich hektisch um. Sein alter Mercedes war nirgends zu sehen. Belagerte er jetzt Marys Wohnung? Wusste er etwa von schon von dem Käfig oder steckte er selbst hinter dem ominösen Anruf? Oder war er mir einfach nur gefolgt?

Ich schob Mary hektisch in den Hausflur und dann die Treppen hinauf. Erst als sich die Wohnungstüre hinter mir schloss, fühlte ich mich einigermaßen frei. Die Nähe des Altvampirs war nicht mehr zu spüren.

Sarah Boils Götterkrieger

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