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3. Ankommen

„Heimat entsteht in der Fremde.“13

Am 2. Mai, vier Wochen nach unserem Umzug und zwei Wochen vor meinem neunten Geburtstag, wurde ich wieder eingeschult. Meinen Eltern hatte man eine Wohnung ungefähr vierzig Kilometer von meiner Oma entfernt vorgeschlagen. Es handelte sich um eine Unterkunft für Aus- und Übersiedler, ein Neubau, gerade bezugsfertig geworden. Die Frau des Bauunternehmers holte meine Eltern vom Zug ab und fuhr sie zur Besichtigung. Dabei ergab sich im Gespräch, dass ihr Mann dringend Maurer für seine Firma suchte. Auf die Bemerkung meines Vaters, er sei Maurer, fragte sie, wann er zu arbeiten anfangen könnte. Wieder einmal zeigte sich, dass unsere Familie von Gott gesehen und versorgt wurde. Kaum war der Umzug in die neue Wohnung geschafft, hatte mein Vater eine neue Stelle.

Auch für mich sollte der Alltag wieder losgehen. Der DDR-Lehrplan unterschied sich natürlich vom bayerischen, aber eher zu meinen Gunsten. Ich war in der dritten Klasse und erfuhr, dass Adjektive Wiewörter heißen, Verben Tunwörter und Nomen Namenwörter. In der vierten Klasse lernte ich dann wieder um. Außerdem war die Schreibschrift eine andere. Ich hatte die vereinfachte Ausgangsschrift ohne viele Schnörkel gelernt. Jetzt machte ich Schwungübungen für H und X. Die größte Herausforderung bestand aber in etwas anderem. Der Lehrplan sah für den Deutschunterricht Dialektpflege und ein Gedicht in fränkischer Mundart vor. Die Wahl meiner Lehrerin fiel auf „Die Christbaumspitz“ von Franz Bauer. Um meine Verzweiflung zu verstehen, muss man das Gedicht kennen. Hier die erste Strophe, für einen Eindruck:

Die Christbaumspitz – a Gschicht vo daham14

Dös is fei wahr und is ka Witz

Die G’schicht fo unsrä Christbaumspitz.

Dös war a schene Spitz jawull

Fo auß’n silbri und inna hull

Drum hot mei Frau g’sagt „Gouder Fritz

Gib mä fei obacht auf die Christbaumspitz!“

Zusammengefasst für nicht fränkische Leser ist der Inhalt des Gedichts folgender: Fritz soll den Christbaum schmücken und auf Geheiß seiner Frau besonders vorsichtig mit der schönen Baumspitze umgehen. Leider passiert ihm dabei ein Malheur. Um das nicht zugeben zu müssen, repariert er den Christbaumschmuck mit Leim. Während der Bescherung – Fritz’ Frau singt gerade „Stille Nacht“ – löst sich die Spitze wegen der Wärme im Raum und fällt polternd zu Boden. Um nicht aufzufliegen, bezichtigt Fritz seine Frau, das Unglück durch ihren lauten, schrillen Gesang ausgelöst zu haben.

„Nun lass mal dein sächsisches Fränkisch hören“, meinte meine Grundschullehrerin, die eigentlich eine nette Frau war und wahrscheinlich insgeheim Mitleid mit mir hatte. Ohne unsere Nachbarin, eine alte Dame, die mir den Inhalt des Gedichts erst einmal übersetzte, hätte ich es wohl nie geschafft. Einfacher für mich war Religion. Die Klasse nahm gerade Martin Luther durch. Wegen der Christenlehre (einer Art Mischung zwischen Kindergottesdienst und Religionsunterricht, durchgeführt von der Kirchengemeinde) und weil Luthers Wirkstätten größtenteils in Ostdeutschland liegen, war ich mit dem Thema Reformation bestens vertraut. Wobei der Schwerpunkt meines Interesses auf der Liebesgeschichte zwischen der entlaufenen Nonne und dem ehemaligen Mönch lag, die vermutlich nur halb so romantisch war, wie ich sie mir in meinen Mädchenfantasien vorstellte.

Schulisch lief es einigermaßen rund. Zwischenmenschlich hatte ich mehr zu kämpfen. Ich fühlte mich teilweise wie ein Alien aus einer anderen Welt. Ich begann zu lügen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. So hatte ich plötzlich ein Pferd wie ein Mädchen aus gut betuchtem Elternhaus oder ich behauptete bei den Kindern in unserer Straße, ich hätte einen anderen Vornamen (den eines sehr beliebten Mädchens aus meiner Klasse). Wenn ich schlafen sollte, schlugen die Lügengeschichten, in die ich mich immer mehr verstrickte, wie dunkle Wellen über mir zusammen und ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Ich weiß nicht, an wie vielen Abenden ich wieder aus dem Bett kletterte, um irgendwelche erfundenen Geschichten zu beichten. In dieser Zeit mussten meine Eltern sehr viel Geduld mit mir haben, bis ich Freunde und auch mich selbst wiedergefunden hatte. Sie hörten mir zu und verurteilten mich nicht. Oft überlegten wir gemeinsam, wie ich am besten aus meinem selbst gesponnenen Lügennetz herauskommen könnte, ohne das Gesicht dabei zu verlieren. Wenn ich wieder ins Bett zurückging, fühlte ich mich, als wäre eine Last von mir gefallen. Haben wir diese Sehnsucht nicht auch im Erwachsenenleben? Das Bedürfnis nach einer Anlaufstelle, wo uns jemand zuhört, ohne mit dem Kopf zu schütteln, uns hilft, wieder auf den richtigen Weg zurückzufinden, und uns Vergebung zuspricht? Die Beichte, ein Sakrament bei den Katholiken, aber auch in der evangelischen Kirche jederzeit möglich, könnte eine solche Anlaufstelle sein. Ich habe den Eindruck, ihre Bedeutung ist ein Stück weit verloren gegangen. Verbindet man mit Beichten nicht das bloße Herunterleiern von Fehlverhalten? Andererseits ist in den letzten Jahren trotz der großen Anzahl an Kirchenaustritten eine zunehmende Sehnsucht nach Spiritualität, nach persönlicher Gotteserfahrung, spürbar. Vielleicht liegt darin eine Chance. Manchmal ist eine neutrale Person der richtige Ansprechpartner, wenn wir nach Verständnis und Vergebung suchen. Ein anderes Mal ist ein guter Freund gefragt. Ich habe als Kind erfahren, wie gut es tut, Fehlverhalten auszusprechen und das Gewissen zu erleichtern, und ich will offen dafür sein, dies auch meiner Familie und meinen Freunden zu ermöglichen.

Nach und nach lebten wir uns gut in unserer neuen Heimat ein. Gemeindeanschluss fanden meine Eltern nicht. Ob sie aktiv danach gesucht haben, weiß ich nicht. Ich probierte mal dieses, mal jenes aus, war in der Kinderstunde der Landeskirchlichen Gemeinschaft und in einer katholischen Jugendgruppe. Geblieben bin ich weder da noch dort. Die Konfirmandenzeit änderte daran nichts. Heute, wo ich selbst Kinder in diesem Alter habe, weiß ich, dass es eine große Herausforderung ist, Jugendliche für den Glauben zu begeistern. Der Pfarrer unserer damaligen Gemeinde hatte keinen Zugang zu dieser Altersgruppe, und so brachte ich die Zeit eher hinter mich als etwas daraus mitzunehmen.

Fünf Jahre nach unserem Umzug war es in der Weltpolitik zu Geschehnissen gekommen, die nie jemand von uns für möglich gehalten hätte. Gorbatschows Glasnost (Offenheit) und Peres­troika (Umgestaltung) ermöglichten eine friedliche Revolution in der DDR und damit einen Prozess, an dessen Ende die deutsche Wiedervereinigung stand. Die seit Anfang der 1980er-Jahre immer montags in der Leipziger Nikolaikirche stattfindenden Friedensgebete entwickelten sich zu einer systemkritischen Veranstaltung, die auch über christliche Kreise hinaus bekannt wurde. Der Druck des Staates und die Anzahl der Verhaftungen wuchsen bis hin zur Untersagung der Friedensgebete durch die Leipziger Kirchenleitung. Nach heftigem Protest und Tumulten während der Gottesdienste wurde dieses Verbot wieder aufgehoben. Vor allem Jugendliche führten die ersten Montagsdemonstrationen mit zunächst nur wenigen Beteiligten an. Im Mai 1989 war deren Anzahl auf über 600 gestiegen, sodass erstmals ein Polizeikessel um die Nikolaikirche gebildet wurde. Der Ruf der Leipziger Friedensgebete verbreitete sich im ganzen Land. Im Oktober waren bereits mehrere Zehntausend Menschen mit dem Slogan „Wir sind das Volk!“ auf den Straßen. Ein Motto, das im November 1989, nach dem Fall der Mauer, abgelöst wurde von dem Ruf „Wir sind ein Volk!“15.


Ausgehend von meiner Geburtsstadt hatte Gott ein wahres Wunder bewirkt. Ich spürte trotz der räumlichen Distanz wieder eine gewisse Verbundenheit, ja so etwas wie Stolz. Das war neu. In den letzten Jahren hatte ich mich intensiv um eine Abnabelung bemüht. Ich erlebte, wie meine Eltern aufgrund ihres Dialekts immer wieder angesprochen wurden: „Na, Sie sind aber auch nicht von hier?“ Diese Nachfragen hatten immer einen faden Beigeschmack. Ganz unbelastet war die Beziehung zwischen Ost und West nicht. Ich glaube, es gab nicht wenige Menschen, die fürchteten, etwas von ihrem Wohlstand abgeben zu müssen, wenn noch mehr „von drüben“ kämen, Sozialwohnungen mit vergünstigten Mietpreisen bezogen und Arbeitsplätze besetzten. Es war damals dasselbe Land, dieselbe Kultur, dieselbe Sprache. Aber etliches erinnert mich an die Flüchtlingsproblematik von heute. Das Elend in der Ferne bedauern, vielleicht etwas spenden, ist einfacher, als fremde Menschen im eigenen Land zu integrieren. Auch Westpakete schicken war einfacher.


Ich hatte mir sehr schnell meinen Dialekt abgewöhnt. Wenn man mich darauf ansprach, was eher selten vorkam, wurde ich nach Norddeutschland verortet, und das war mir ganz recht. Lange Zeit wünschte ich mir, mein Geburtsort wäre eine weniger bekannte Stadt als Leipzig. So bemerkte jeder, der meinen Personalausweis in die Hände bekam, dass ich in der DDR geboren war. Und der Pass wurde wirklich immer kommentiert. Ich fühlte mich so zerrissen. Ja, das war mein Geburtsort. Irgendwie meine Heimat also. Aber ich lebte inzwischen genauso lange oder länger im anderen Teil Deutschlands. Meine Heimat war doch hier. Oder? Ich hasste dieses Gespaltensein. War es nicht unnormal, seine Herkunft beinahe zu verleugnen?

Heute verstehe ich den Teenager von damals und möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen. Ich gehörte nie zu den selbstbewussten Hier-komme-ich-Typen. Nein, ich wollte akzeptiert werden und ansonsten eher unauffällig bleiben. Das gelang mir mit meiner Körpergröße von über einem Meter achtzig sowieso nicht. Ich war zu groß, je nach Diätphase zu schwer und kam noch dazu aus einem komischen „Land“. Ach, hätte ich damals nur gewusst, dass es um all das gar nicht ging. In dem sensiblen Alter zwischen Kindheit und Erwachsensein fühlt man sich sehr schnell verunsichert. Das ist normal. Egal, wie man aussieht oder woher man kommt. Heute bin ich wesentlich selbstbewusster. Aber natürlich gibt es auch jetzt hin und wieder Situationen, in denen ich am liebsten unsichtbar wäre. Ich denke, das geht uns allen so. Vielleicht, weil die Hormone in der Schwangerschaft oder während der Wechseljahre wieder toben wie mitten in der Pubertät und wir nichts mit uns selbst anfangen können. Oder weil wir das viele Gold im Teppich unserer Mitmenschen sehen, aber blind für unser eigenes sind. Ich glaube, der Tipp von damals ist auch für heute gut geeignet: Gefühle zulassen, annehmen und umarmen. Entweder sich selbst oder gegenseitig.

Stroh zu Gold

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