Читать книгу Stroh zu Gold - Nicole Schweiger - Страница 9

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2. Zwischenzeit

„Aller Dinge Anfang ist ein Tag im Frühling.“8

Am späten Abend des 3. April hatten wir Leipzig in Richtung neue Heimat verlassen. Gegen ein Uhr nachts stoppte der Zug am Grenzübergang Hirschberg und wurde von DDR-Grenzbeamten und ihren Hunden durchsucht. Ich weiß, dass ich im Vorfeld große Angst um meinen Stoffhund Schlappi gehabt hatte. Meine Eltern und dieses Plüschtier, ohne das ich nicht schlafen konnte, waren auf der großen Reise ins Unbekannte mein Halt und meine Sicherheit. Es gab Geschichten von Grenzsoldaten, die Plüschtiere aufschnitten, um nachzusehen, ob etwas eingenäht war. Und davor hatte ich mich gefürchtet. Den großen Moment des Grenzübertritts verschlief ich dann aber. Als die Beamten ins Abteil meiner Eltern kamen und meine Mutter mich wecken wollte, sagte einer von ihnen nur: „Lassen Sie das Kind schlafen.“ Manchmal schickt Gott seine Engel in völlig unerwarteter Gestalt.

Ich glaube, es wäre traumatisch für mich gewesen, Schlappi zu verlieren, denn er war in dieser Umbruchsituation so viel mehr als ein Plüschtier. In den ersten Kindergartenwochen gibt man den Kleinen oft einen vertrauten Gegenstand, wie ein Schnuffeltuch, mit. Es riecht wie zu Hause, stellt eine Verbindung zwischen Bekanntem und Unbekanntem her und vermittelt damit Sicherheit, die das Kind jetzt so nötig braucht. Schlappi und natürlich meine Eltern waren für mich so ein sinnbildlicher Anker, der dafür sorgte, dass mich Wind und Wellen in dieser stürmischen Zeit nicht fortrissen.

Nahestehende Bezugspersonen und besondere, emotionsbesetzte Gegenstände können Kindern helfen, Herausforderungen besser zu bewältigen. Aber wie ist es, wenn wir erwachsen sind? Die Gewissheit, dass meine Familie für mich da ist, gibt mir Kraft und Stärke. Aber manchmal stehen wir gemeinsam mitten im Sturm und brauchen einen Anker. Für mich ist das mein Glaube. Es gibt eine Bibelstelle, die das sehr schön ausdrückt: „Diese Zuversicht ist wie ein starker und vertrauenswürdiger Anker für unsere Seele.“9

In der Nacht des Grenzübertritts hatte es geschneit und so konnten meine Eltern zunächst nicht erkennen, ob sie noch in Ost- oder schon in Westdeutschland waren, nachdem der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Sie standen im Gang und guckten nach draußen, als meinem Vater auffiel, dass die Laternen anders aussahen. „Guck mal, alles ist so hell. Und da fährt ein VW-Bus. Wir haben es geschafft. Wir sind im Westen!“, sagte er zu meiner Mutter und beide weinten vor Glück und Erleichterung, während ich einfach weiterschlief. Gegen sechs Uhr morgens kamen wir in der mittelfränkischen Kleinstadt an, in der meine Oma, ihre Schwester und deren Mann lebten. Das Einzige, woran ich mich bewusst erinnere, sind Unmengen von Schnee. Und das war ja schon mal ein guter Anfang.

In den folgenden Wochen wohnten wir dort. Meine Eltern in der Einraumwohnung meiner Großmutter, Omi und ich im Gästezimmer von Omis Schwester, gleich im Haus nebenan. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, heißt es in meinem Lieblingsgedicht „Stufen“ von Hermann Hesse10. Es war tatsächlich eine besondere Zeit. Meine Eltern mussten sich um viele Dinge kümmern, Behörden- und Ämtergänge erledigen und dergleichen. Sie waren im Bundesnotaufnahmelager in Gießen und auch viel in Nürnberg unterwegs, wo sie ab und zu bei meinem Onkel und seiner Frau übernachteten. Dann schliefen Omi und ich in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung und machten uns die Welt, wie sie uns gefällt. Ich kann es meiner Oma gar nicht hoch genug anrechnen, wie liebevoll sie sich in dieser Zeit um mich gekümmert hat.

Wenn man Kinder hat, weiß man, dass diese in einem bestimmten Alter Rollenspiele lieben. Das ist wichtig für ihre Entwicklung. Sie versetzen sich dadurch in andere Menschen, lernen Empathie und probieren sich aus. Während sie im reellen Leben häufig fremdbestimmt werden, dürfen sie sich im Spiel ihre eigene Welt kreieren und erleben sich als selbstwirksam. Egal, ob Mutter-Vater-Kind, Schule oder Friseur, es braucht Mitspieler dafür. Und leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine. Ich war noch nicht wieder in der Schule angemeldet und kannte niemanden.

Ich erinnere mich noch gut an diese Phase bei meinen Töchtern, und ich war immer froh, dass es ihnen an Spielpartnern nicht mangelte. Stundenlang in eine Fantasierolle zu schlüpfen und so zu tun als ob, war als Mutter nie mein liebster Zeitvertreib. Ich weiß, dass auch andere Erwachsene normalerweise wenig begeistert von Rollenspielen sind. Omi aber hat diesen Part wie selbstverständlich übernommen. Wir spielten, was das Zeug hielt, gaben uns andere Namen, andere Identitäten. Omi wollte Simone heißen; das weiß ich, als wäre es gestern gewesen. Ich glaube, unsere Spielzeiten hatte etwas Heilsames. Nicht umsonst ist Spieltherapie ein anerkannter psychologischer Ansatz.

Meine Oma half mir mit viel Liebe und dem richtigen Gespür für meine Bedürfnisse, die Zeit des Umbruchs gut zu überstehen. Wenn das Kind Nici spielen wollte, war sie Spielkameradin für mich. Auf der anderen Seite nahm sie mich ernst und brachte mir Wertschätzung entgegen wie einer Erwachsenen. Ob herausfordernde Situationen als Krisen oder als Chance erlebt werden, hängt von vielen Faktoren ab. Einer davon ist die „individuelle Begleitung und Unterstützung“.11 Hier sprang Omi zuverlässig ein, wann immer meine Eltern mit Ämtergängen und Wohnungssuche beschäftigt waren. Ich glaube, sie war glücklich, endlich die komplette Familie in ihrer Nähe zu wissen, und das strahlte sie aus. Dennoch hat es ihr beschauliches Rentnerleben sicherlich etwas auf den Kopf gestellt, plötzlich für ein achtjähriges Kind verantwortlich zu sein. Ich hatte aber nie das Gefühl, ihr zur Last zu fallen. Wenn ich mich in die Lage meiner Eltern versetzte, war meine Oma Gold wert. Sie konnten frei agieren und wussten ihr Kind in guten Händen. Omi hatte von den Ausreiseplänen meiner Eltern gewusst, aber auch sie musste sich von einem auf den anderen Tag auf uns einstellen. Wenn ich zurückblicke, bin ich froh, dass sie so flexibel reagierte, und ich frage mich, wie es mir in einer solchen Situation gehen würde. Wo könnte ich für jemanden Gold wert sein?


Omi hütete in ihrem Schrank filigrane Sammeltassen und -teller. Das gute Porzellan wurde nur zu besonderen Anlässen herausgeholt und durfte nicht zu Bruch gehen. Sein Wert war mir immer bewusst. Dennoch zelebrierten wir so manches Kaffeekränzchen mit diesem Geschirr. Es begann, als ich als Achtjährige auf Zeit bei ihr wohnte, und setzte sich bis zu ihrem Tod fort. Die Tatsache, dass allein meine Anwesenheit für Omi Anlass genug war, die Sammeltassen aus dem Schrank zu holen, zeigte mir ihre große Wertschätzung und bedeutet mir bis heute sehr viel. Ein paar dieser besonderen Teller und Tassen habe ich später geerbt. Einige Jahre lagerten sie auf dem Dachboden meiner Eltern, bevor sie ihren Platz in unserem Haus fanden. Leider ist vor ein paar Jahren bei einem kleinen Malheur einiges davon zerbrochen. Ich habe um meine Erinnerungen geweint, obwohl ich sie im Herzen trage. Einen der beschädigten Teller bewahrte ich auf. Während der Kerzenzeit bekommt er mit einer Bienenwachskerze und Nüssen gefüllt einen Platz auf unserem Tisch. Ich finde, er hat nichts von seiner Schönheit verloren. Der materielle Wert ist dahin, aber das, wofür der Teller steht, lebt fort.

Leonhard Cohen singt in seiner Hymne („Anthem“) „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“12 („Es gibt einen Riss, einen Riss in allen Dingen. Durch diesen Riss fällt das Licht hinein“, Anm. d. Autorin)

Ich finde, dieser Text drückt sehr gut aus, dass die größten Schätze oft nicht perfekt, symmetrisch und glatt poliert daherkommen. Wo etwas in unserem Leben kaputtgegangen ist, kann Gottes Licht hindurchscheinen und uns einen anderen Blickwinkel ermöglichen. Das ist wertvoll! Lasst uns nach solchen zerbrochenen Schätzen in unserem Leben Ausschau halten.

Stroh zu Gold

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