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4. Erwachsen werden

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“16

Mein Glaubensleben änderte sich um 180 Grad, als ich mit 17 nach einer missionarischen Aktion ziemlich euphorisch in einer christlichen Jugendgruppe und damit in einem neuen Freundeskreis landete. Später habe ich erfahren, dass ich der ganze Stolz dieser liebenswerten Truppe war. Sie hatten viel Zeit und Elan in die Aktion gesteckt und ich bin ihnen ins Netz gegangen. Menschenfischer eben. Ich muss gestehen, dass anfänglich eines der männlichen Gruppenmitglieder für einen nicht unerheblichen Anteil meines Interesses verantwortlich war. Es ist nichts aus uns geworden, aber dafür aus Gott und mir. In dieser Gruppe lernte ich, dass Christsein sich nicht in langweiligen Sonntag-viel-zu-früh-am-Morgen-Gottesdiensten erschöpft. Ich machte die Erfahrung, mit Gott wie von Mensch zu Mensch plaudern zu können und auch Antworten zu bekommen, wenn ich genau hinhörte. Der alte Mann mit dem Rauschebart stieg von seiner weit entfernten Wolke und wurde ansprechbar für mich. Er ließ mit sich diskutieren, zeigte Humor und war sich auch nicht zu schade für meine vielen Fragezeichen und Zweifel. So ist das heute noch.

In der Jugendgruppe fand ich aber auch einige richtig gute Freunde aus Fleisch und Blut. Die meisten waren zwei, drei Jahre älter als ich. Viele von ihnen studierten Lehramt mit Hauptfach Religion. Ich bekam also einiges an theoretischem Hintergrundwissen mit auf den Weg. Wir trafen uns einmal wöchentlich im Gemeindehaus und darüber hinaus eigentlich jedes Wochenende in Cafés, Kino, Freibad oder wir fuhren irgendwo hin. Es hatten ja schon fast alle ihren Führerschein. Als für mich die Zeit der Fahrschule kam, schlug mir eine Freundin aus der Gruppe vor, dass ich mich gemeinsam mit ihrem Bruder anmelden könnte. Wenn sie gewusst hätte, wie das enden würde … Thilo und ich kannten uns aus der Jugendgruppe und waren uns ganz sympathisch. Ich fand ihn auch optisch nicht zu verachten und er mich wohl auch nicht. Unser Fahrlehrer hielt uns für ein Paar. Vielleicht war das aber nur eine ganz geschickte Masche von ihm. Ich radelte mit Thilo zu den Theoriestunden, wo wir nebeneinandersaßen und mal mehr, mal weniger Inhalt mitbekamen. Zum Schluss steckten wir uns Briefe zu. Das ging über Monate so. Ich habe sie alle gesammelt in einem Karton aufbewahrt. Richtige altmodische Briefe. Irgendwie bin ich froh, dass wir damals noch nicht im WhatsApp-Zeitalter gelebt haben. Aber handgeschriebene Briefe sollen ja wieder im Kommen sein. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich dazu ermutigen, gerade, wenn es um besondere Menschen geht. Es ist unglaublich schön, die Briefe nach Jahren wieder hervorzuholen und zu lesen. Ähnlich wie bei alten Tagebüchern.

Im Laufe der Jahre war ich in die Jugendarbeit eingestiegen. Ich übernahm Kindergottesdienste, die wöchentliche Kinderstunde und das Programm für den Nachwuchs bei Familienfreizeiten. Im Sommer fuhr ich mit Thilos Schwester für drei Wochen nach Venedig. Wir hatten freie Kost und Logis auf einem Campingplatz am Strand und gestalteten dafür das Kinderprogramm von „Kirche unterwegs“. Drei Wochen ohne Thilo. Aber wenigstens hatte ich einen sehr langen Brief von ihm dabei. Und wir waren ja auch noch gar nicht zusammen. Aber ganz knapp davor. Tragischerweise flog ich nur eine knappe Woche nach unserer Rückkehr von Venedig mit meinen Eltern nach Portugal. Noch einmal Zeit ohne einander, ohne zu wissen, was jetzt eigentlich Sache ist? Ich brauchte Klarheit, Thilo wollte uns das eigentlich ersparen, damit es nicht noch schwerer würde. Aber da hatte er nicht mit meiner Ungeduld gerechnet. Und so machten wir Nägel mit Köpfen.

Als Kinder der 90er-Jahre waren wir große Herbert-Grönemeyer-Fans. Unsere Briefe sind gespickt von Zitaten. Nun waren wir also offiziell ein Paar und ich hatte – um es mit Grönemeyer zu sagen – Flugzeuge im Bauch. Diese Zeit der ersten Verliebtheit war wunderschön, aber auch herausfordernd. Wir mussten unsere teilweise unterschiedlichen Nähe-Distanz-Bedürfnisse ausloten. Der Wunsch nach gemeinsam verbrachter Zeit ist – gerade zu Beginn einer Beziehung – groß. Abhängig von Charakter, freier Zeit und nicht zuletzt der Prägung durch die Herkunftsfamilien kann er sich dennoch ziemlich unterscheiden. Wird das nicht kommuniziert, besteht die Gefahr von emotionalen Verletzungen, weil sich der eine in der Beziehung eingeengt und der andere abgelehnt fühlt. Das Nähe-Distanz-Bedürfnis eines Menschen ist übrigens nicht in Stein gemeißelt. Oft ändert es sich im Laufe des Lebens und muss dann wieder neu ausgelotet werden.

Auch die Beziehungen im Freundeskreis sind betroffen, wenn aus zwei Menschen ein Paar wird. In unserer Jugendgruppe freuten sich anfangs eigentlich alle mit uns, aber dann fühlten sich manche Freunde vernachlässigt. Wir waren eins der wenigen Pärchen und noch dazu jünger als die meisten. Unser Zusammensein verunsicherte. Es gab Rückmeldungen, dass wir uns zu oft von der Gruppe zurückzogen. Andererseits entschuldigten sich manche für die Störung und ergriffen die Flucht, sobald sie uns irgendwo zu zweit antrafen. In jeder Gruppe gibt es Strukturen und Rollen; unsere Beziehung hatte das bis dahin reibungslos funktionierende System ins Wanken gebracht. Ich war nicht mehr das „geistliche Küken“ und aus den Einzelpersonen Thilo und Nici war auch ein Wir geworden. Außerdem gab es unausgesprochene Regeln über das Verhalten eines Paares in der Gruppengemeinschaft, die mir vorher nicht bewusst gewesen waren. Auch wenn sich in unseren Reihen jede Menge Pädagogen befanden, war die Sache zu persönlich, mit zu vielen Emotionen behaftet, als dass einer von uns erkannt hätte, was hier los war: Wir durchliefen einen gruppendynamischen Prozess, in dem sich die Gemeinschaft weiterentwickelte und zu einem neuen gemeinsamen „Wir“ fand.

Und heute? Wie gehen wir damit um, wenn jemand aus der Rolle fällt, sich nicht so verhält, wie wir es von ihm kennen und erwarten? Darf er das? Wir leben in einer Gesellschaft, die Individualisierung und Diversität großschreibt. Dem gegenüber (und nicht minder wichtig) stehen Werte wie Dialogfähigkeit und Globalisierung. Leben zwischen den Gegensätzen. Sehen wir diesen Spagat als Problem oder begreifen wir ihn als positive Herausforderung?

Im vierten Semester gab es eine mehrtägige Exkursion mit meiner Seminargruppe. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber am ersten Abend guckten wir unsere Ausweise an. Seit der Wiedervereinigung waren einige Jahre vergangen und ich haderte nicht mehr so sehr mit meiner Herkunft. Trotzdem war ich auf der Hut. Und dann stellte einer meiner Kommilitonen die gefürchtete Frage: „Du kommst aus Leipzig?“ Zu meinem großen Erstaunen setzte er seinen Kommentar aber ganz unerwartet fort: „Coole Stadt! Ich war da mal. Hat mir gut gefallen.“ Das war’s. Kein „Das hört man dir aber gar nicht an“ („Gott sei Dank“) oder Ähnliches. Einfach nur: „Coole Stadt!“ Er hat es nie erfahren, aber ich bin ihm sehr dankbar für diesen Satz. Es war der Beginn eines Heilungs- und Normalisierungsprozesses. In den folgenden Jahren gab es noch hier und da seltsame Kommentare zu meiner Herkunft, aber ich konnte besser damit umgehen. Inzwischen ist die um die Wiedervereinigung geborene Generation Anfang dreißig. Die DDR kennt man nur noch aus Geschichtsbüchern. Wenn ich jetzt mit jemandem über Leipzig ins Gespräch komme, ist es die Stadt von Goethes Faust und Johann Sebastian Bach, von Frühjahrs-Buchmesse und Wave-Gotik-Festivals. Meine Heimatstadt ist eine unter vielen deutschen Großstädten und ich bin eine unter vielen deutschen Frauen. Wie lange hatte ich mich nach dieser Normalität gesehnt.

Im Mai 1999 heirateten Thilo und ich. Inzwischen war ich mit meinem Studium fertig, Thilo noch dabei. An einem Freitag fand unsere standesamtliche Trauung statt, den Tag darauf die kirchliche. Wir informierten das Amt im Vorfeld darüber, dass wir die Ringe erst in der Kirche tauschen wollten. Aus irgendeinem Grund kam diese Auskunft jedoch nicht bei dem Beamten an, der die Trauung vornahm. So stand er nach einer kurzen Ansprache und unseren Unterschriften etwas ratlos da. „Was, Sie wollen keine Ringe wechseln?“ Der offizielle Trauakt war also schnell vollzogen. Im Foyer warteten Thilos Kommilitonen mit einem Sektempfang. Das heute wunderschön restaurierte Rathaus hatte damals noch einen leicht morbiden, baufälligen Charme. Genau das Richtige für die angehenden Bauingenieure, die im Anschluss an die Glückwünsche die Risse im Mauerwerk diskutierten. Nach dem Sektempfang sprinteten wir einmal quer über den Marktplatz zum Restaurant, denn es schüttete wie aus Eimern. Am nächsten Tag sollte unsere kirchliche Trauung stattfinden und meine Eltern hatten dafür gesorgt, dass sich mein Kindheitstraum erfüllte. Eine Kutsche würde uns zur Kirche und danach zu dem etwa drei Kilometer entfernten Festsaal fahren. Und jetzt dieser Wolkenbruch! Gott sei Dank erwies sich das Wetter als unbeständig. Am nächsten Tag guckte sogar die Sonne für die Außenfotos vorbei und in der Kutsche gab es ein wärmendes Schaffell für mich. Die Kirche war, entgegen der Planungen, komplett eingerüstet. Eigentlich witzig – passend zum baufälligen Rathaus –, aber ich habe mich im Vorfeld ziemlich darüber aufgeregt. Der bis dahin wichtigste Tag in unserem Leben und dann heirateten wir auf einer Baustelle!

Wie oft lassen wir uns von solchen Äußerlichkeiten beeinflussen. Ist es nicht völlig egal, wo eine Ehe geschlossen wird? Ob in einer Kathedrale, einem Krankenhaus oder auf einem Trümmerfeld? Die ganze Aufregung kostet eine Menge Nerven und bringt uns keinen Schritt weiter. Mir kommt eine Bibelstelle in den Sinn. Bei Lukas 12,27 heißt es: „Und seht euch die Lilien an! Sie wachsen, ohne sich abzumühen und ohne zu spinnen und zu weben. Und doch sage ich euch: Sogar Salomo in all seiner Pracht war nicht so schön gekleidet wie eine von ihnen.“ Was bedeutet das für uns? In meinem Fall war es Gottes Zuspruch: „Mach dir keine Gedanken um Äußerlichkeiten! Sorge dich nicht. Verdirb dir nicht die Laune. Lass mich doch machen. Du wirst sehen, ich schenke euch einen wunderschönen Hochzeitstag.“ In der Bibel heißt es weiter: „Wenn Gott die Blumen auf dem Feld, die heute blühen und morgen ins Feuer geworfen werden, so herrlich kleidet, wie viel mehr wird er sich dann um euch kümmern.“ Und tatsächlich, in wahrscheinlich stundenlanger Kleinarbeit hatten meine Schwiegermutter und ihre Freundinnen das Eisengerüst im Eingangsbereich der Kirche mit Kreppband umwickelt und mit frischen Blumen geschmückt. Es sah einfach wundervoll aus.


Ich stehe mir bei großen Feiern manchmal selbst im Weg, hoffe aufgeregt, dass alles schön wird, ärgere mich, dass ich nicht richtig tanzen bzw. mich nicht führen lassen kann. Auf diese Weise habe ich mir schon manches Fest verdorben. Deshalb bin ich Gott wirklich dankbar, dass ich unsere Hochzeit von Anfang bis Ende in vollen Zügen genießen konnte. Wir hatten dem Stress so gut wir konnten vorgebeugt und uns am Vortag nach dem Mittagessen in ein Wellnessbad zurückgezogen. So kreisten die Gedanken nicht ständig um das bevorstehende Fest und wir starteten ausgeruht und gut gelaunt in unseren Hochzeitstag. Familie und Freunde bereiteten uns ein wunderschönes Fest mit vielen Beiträgen. Wir feierten ausgelassen bis in die Nacht.

Dann quetschte ich die cremefarbenen Stoffballen meines Hochzeitskleides in unseren kleinen Ford Fiesta und wir fuhren nach Hause. Nach Hause in eine neue Stadt, ganz in der Nähe des Wohnorts von Omi, die inzwischen leider nicht mehr lebte. Hier hatten wir eine Wohnung gemietet und starteten unser gemeinsames Leben als Ehepaar.

Stroh zu Gold

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