Читать книгу Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner - Страница 4
Griselbarts Villa
ОглавлениеCharlie versuchte während des gesamten nächsten Vormittags, Peer und Tom ihr Vorhaben auszureden. Sie tauschte vorsätzlich ihren Sitzplatz mit Paulina, sodass sie neben Tom saß und ihm ihre Warnungen ins Ohr flüstern konnte. Das sorgte für einigen Wirbel in der Klasse und die Mädchen, die eine Reihe vor ihnen saßen, drehten sich nach ihnen um und kicherten. Ihrer Ansicht nach war es höchst erstaunlich, dass ausgerechnet die unnahbare Charlie Rottint Interesse am Winterjungen zeigte, der wieder einmal aussah, als hätte er die ganze Nacht in einer Tiefkühltruhe verbracht mit dem papierweißen Gesicht und den dunklen Augenringen.
Aber Charlie warf ihre langen Haare zurück und ignorierte sie.
Zu Tom sagte sie: „Ich wäre mir gar nicht so sicher, ob das überhaupt ein Zauberwesen war, das den Ball zerstört hat. Vielleicht hat Griselbart mit einem Messer hineingestochen, weil er dich in sein Haus locken will.“
„Unsinn“, zischte Tom zurück, denn die erste Stunde (Erdkunde) hatte bereits angefangen. „Er setzt ja gerade alles daran, dass ich nicht hineinkomme, außerdem war das Loch scharfkantig und ein Messer würde glatte Schnitte ergeben.“
„Warum bist du so überhaupt scharf drauf, deinen Hals zu riskieren? Was hast du davon, wenn er seinen Monsterhund auf dich los hetzt oder was auch immer du da drin gesehen hast? Ich bezweifle, dass du dich dagegen verteidigen kannst!“
Natürlich hatte sie Recht, aber das war nicht, worum es Tom ging. Während alle ihre Atlanten aufschlugen, schüttelte er den Kopf und flüsterte: „Ich möchte es einfach wissen, vielleicht plant er ja auch einen Monsterangriff auf die ganze Menschheit und es ist meine Pflicht, alle zu warnen!“
„Monsterangriff! Mach dich nicht lächerlich, Griselbart gehört zu den Guten.“
„Was soll das denn jetzt wieder heißen?“
Charlie machte den Mund auf, um zu antworten, aber Peer, der auf Toms anderer Seite saß, kam ihr zuvor: „Du kannst ihn nicht umstimmen, Charlie, und mich auch nicht. Die ganze Sache ist einfach zu … wichtig, als dass wir rein gar nichts unternehmen könnten.“
„Zu wichtig? Was könnte wichtiger sein als die Landflucht in Südafrika?“ Herr Aßbeck, der Erdkundelehrer, war hinter ihnen aufgetaucht und klopfte ungeduldig auf den aufgeschlagenen Atlas.
„Tom, könntest du bitte mal das Schaubild erklären?“
„Ähm … “
Ein paar Schüler lachten, als er erst noch das richtige Diagramm suchen musste und dann sehr stockend mit der Interpretation begann.
„Vielleicht sollte Charlotte sich in der nächsten Stunde wieder auf ihren ursprünglichen Platz setzen, wenn sie euch zwei so ablenkt.“ Herr Aßbeck ging nach vorn zum Pult und hinter seinem Rücken drehten sich einige Schüler um und grinsten.
Tom schaute mit glühendem Nacken zur Tafel und versuchte, die Blicke zu ignorieren. Glücklicherweise ließ Charlie es für den Rest der Stunde bleiben, ihm Warnungen einzuflüstern.
Gegen Mitternacht huschte Tom die Treppen hinab, Taschenlampe und Rucksack in der einen, Klappmesser in der anderen Hand. Reginald war im Labor mit - wie es klang - Bohrarbeiten beschäftigt und hörte es nicht, als die Tür ins Schloss fiel.
Zwei Gestalten warteten an der Wegkreuzung, als Tom sich ihr näherte; die etwas kleinere und schmächtige Peers und die große elegante Charlies. Wie verabredet waren sie ganz in Schwarz gekleidet, um in der Nacht nicht aufzufallen.
Ein Käuzchen über ihren Köpfen stieß einen leisen Schrei aus und unwillkürlich bekam Tom eine Gänsehaut. Er bemühte sich, seine Nervosität mit einem Grinsen zu verstecken.
„Hey“, sagte er.
„Was ist der Plan?“, fragte Charlie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Der Rollkragen ihres Pullovers verbarg fast die gesamte untere Hälfte ihres Gesichts, nur ihre Augen waren deutlich erkennbar. Sie hatte bemerkenswert lange Wimpern, fiel Tom auf, selbst für ein Mädchen.
Er händigte jedem ein Messer und eine Taschenlampe aus, welche er zuvor aus Reginalds Küchenschublade entwendet hatte. „Wir versuchen von Thalmayers Grundstück aus durch Griselbarts Hecke zu kommen.“
„Das dürfen wir nicht“, sagte Charlie prompt.
„Du musst ja nicht mitkommen.“
Peer war nicht schwer zu überzeugen. „Lass uns endlich rausfinden, was da los ist!“
Das Mädchen seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich habe euch gewarnt, Jungs. Beschwert euch nicht bei mir, wenn ihr nachher erwischt werdet!“
„Wir sagen natürlich, es war deine Idee“, grinste Tom.
Zusammen marschierten sie los, an Griselbarts Villa vorbei, zu dem kleinen von Weißtannen gesäumten Bauernhof am Ende des Bernsteinwegs, der Hektor Thalmayer gehörte. Die Nacht war windstill und sehr warm und der wolkenlose Himmel gab den Blick auf den zunehmenden Mond frei. In einem der unzähligen Ratgeber Reginalds hatte Tom einmal gelesen, die Zeit des zunehmenden Mondes wäre ideal für Unternehmen jeglicher Art, da man über mehr Leistungskraft und Ausdauer verfügte. Und tatsächlich ging er leichtfüßigen Schrittes und mit vor Wachsamkeit leuchtenden Augen.
Hektor Thalmayer, ein siebenundsechzigjähriger Farmer, der nie verheiratet gewesen und nie einem Beruf außerhalb der Landwirtschaft nachgegangen war, galt in Glöckerlstadt als Kinderschreck. Er besaß einen scharfen Rottweiler namens Josef, den er in unregelmäßigen Abständen fütterte, und es war allgemein bekannt, dass er nicht davor zurückschreckte, ihn auf ungebetene Eindringlinge loszulassen. Das alles wussten die Freunde, deshalb flüsterte Tom: „Leise jetzt!“, ehe er durch ein Loch im Zaun schlüpfte.
Der schwierigste Teil des Unterfangens bestand darin, unbemerkt an Thalmayers Schlafzimmerfenster vorbei zu schleichen, denn trotz seines fortgeschrittenen Alters verfügte er über ein ausgezeichnetes Hörvermögen. Charlie verhakte sich kurz an einem vorstehenden Draht, aber sie riss kurzerhand ein Loch in ihren Pullover und gab den anderen einen Wink weiterzugehen. Danach lief alles glatt, bis sie etwa bei der Mitte des Bauernhauses angekommen waren, als Peer, der als letzter ging, gegen eine angelehnte Mistforke stieß. Diese fiel um, aber als hätte das nicht gereicht, traf sie beim Hinfallen eine Schubkarre, ein blechernes Scheppern ertönte, das noch einige Zeit nachhallte. Den drei Kindern blieb das Herz stehen; dann brach der Hund im Inneren des Hauses in zornentbranntes Kläffen aus und sprang kratzend und jaulend die Wände hoch.
„LAUFT!“, rief Tom. Ohne nach links und rechts zu sehen, stürmten sie die Hecke entlang, darauf bedacht, so viel Abstand wie möglich, zwischen sich und den ohne jeden Zweifel aufgewachten Bauern zu bringen. Schon hörte man ihn schreien: „JOSEF, SCHNAPP SIE! BEISS IHNEN DIE KÖPFE AB! WIDERLICHE EINDRINGLINGE!“
Tom wusste, sie hatten keine Chance, einem ausgewachsenen Rottweiler davonzulaufen. Wie um das Ganze noch schlimmer zu machen, hörten sie plötzlich, wie ein Gewehr nachgeladen wurde. Thalmayer schoss, es krachte laut, so laut, dass es in Bruckwalde noch zu hören sein musste, und Tom wusste nicht, ob der Bauer in die Luft oder in ihre Richtung gezielt hatte.
„Er ist wahnsinnig!“, schrie Charlie. Tom hörte sie fast nicht, weil ihm das Blut in den rauschte. Dann ertönte das Hecheln des Hundes, der schnell Fahrt auf nahm. Tom blieb keine andere Möglichkeit.
„HIER REIN!“ Gerade hatte er eine lichter werdende Stelle in Griselbarts Hecke entdeckt; es musste der Teil sein, der von Ungeziefer befallen war, schoss es ihm wirr durch den Kopf. Mit beiden Händen schlug er eine Bresche hinein, Zweige peitschten ihm ins Gesicht und hinterließen brennende Striemen.
„Tom, das geht nicht!“, rief Charlie.
„Wenn du dich lieber zerfleischen lassen willst!“, fuhr Peer sie an und drängte sich an ihr vorbei. Nach kurzem Zögern folgte das Mädchen.
Das Durchkämmen der Hecke war keine leichte Angelegenheit. Sie war viel breiter, als es von außen den Anschein hatte und irgendwie schienen die Zweigenden und Sträucher ihnen den Weg zu versperren und dichter zu werden, je weiter sie vorankamen.
„Was zum … ?“ Ein herüberhängender Heckenzweig wickelte sich um Toms rechtes Handgelenk wie ein Schraubstock und hinderte ihn am Weitergehen. Er hieb mit seinem Messer ein paar Mal darauf ein und die Pflanze zog sich mit einem Zischen zurück. Niemand konnte es abstreiten: hier war eindeutig Magie oder irgendeine andere Macht im Spiel. Sobald er den Gedanken zuließ, geschahen mehr seltsame Dinge. Auf einmal wuchsen in der Hecke Blüten, die darin eigentlich nichts verloren hatten, groß, taufeucht, in einem schillernden Blau. Tom meinte auch, das Summen von Bienen oder großen Käfern hören zu können, aber wenn er sich danach umdrehte, war nichts zu sehen. Peer ging direkt hinter ihm und schien ebenso entzückt wie er selber.
„In keinem Naturbuch habe ich solche Pflanzen je gesehen!“
Nur Charlie machte ein abwehrendes Gesicht und ließ sich Zeit auf ihrem Weg. Hin und wieder schlug sie nach den Käfern. Den Rottweiler hatte man ganz vergessen, sein Bellen erklang wie aus meilenweiter Entfernung.
Irgendwann – waren Minuten oder Stunden vergangen? – erreichten sie das andere Ende der Hecke und stolperten ins Freie. Tom blickte sich erstaunt um. Zwar wusste er, dass Griselbarts Anwesen groß war, aber das, was sich jetzt vor ihnen ausbreitete, hatte die Ausmesser eines Parks und nicht die eines gewöhnlichen Gartens. Es musste irgendeinen Zauber geben, der Flächen von außen kleiner aussehen lassen konnte. In Griselbarts Park gab es ein eigenes kleines Wäldchen, einen Teich, auf dem, wenn Tom sich nicht täuschte, schlafende Gänse die Köpfe unter die Flügel steckten, einen chinesischen Pavillon mit Liegesofas zum Entspannen, auf beiden Seiten gesäumt von kleinen Fliederbüschen und Magnoliensträuchern. Auch das Haus selber sah größer und nicht ganz so zerfallen aus wie von Toms Fenster aus. Als Tom Peer gerade darauf hinweisen wollte, fiel sein Blick auf eine Gestalt, die auf der untersten Treppenstufe der Veranda stand und sie beobachtete. Es war Oswald Griselbart, in einen dunklen Mantel gehüllt und auf einen Stab gestützt, und genau wie bei ihrer letzten Begegnung, sah er alles andere als erfreut aus, aus seinen Zügen sprach die kalte Wut.
In diesem Moment sprach er sie an. „Tom Winter und Peer Feuerecker. Haben euch eure Väter nicht gelehrt, dass es sich nicht gehört, auf anderer Leute Grundstücke herumzuspionieren?“
Peer glotzte ihn an und schien vergessen zu haben, wie man mit der Zunge Worte formte.
„Ich - wir mussten vor Thalmayers Hund flüchten-“, stotterte Tom.
„Ich weiß. Er hat guten Grund, euch in der Luft zu zerreißen.“ Griselbarts Augen glommen in der Dunkelheit und sie waren das einzige, was man von seinem Gesicht erkennen konnte. In seinem Inneren schien es zu brodeln. Tom war mulmig zumute.
Dann wandte sich der alte Mann an Charlie, die etwas abseits stand, als würde sie nicht zu ihnen gehören. „Charlotte Rottint, warst du tatsächlich nicht in der Lage, die beiden von meinem Haus fernzuhalten oder warst du zum Schluss genauso entdeckerfreudig wie sie? Wo du mir doch versprochen hast, du würdest es ihnen ausreden.“
Peer und Tom wirbelten herum. Charlies Wangen verfärbten sich dunkelrosa und sie wich ihren Blicken aus. „Da war der Hund, was hätte ich denn machen sollen …“
„Dir ist natürlich nichts anderes eingefallen“, sagte Griselbart spöttisch.
Da dämmerte es Tom. Charlie steckte mit Griselbart unter einer Decke, deswegen hatte sie sich so vehement dagegen gewehrt, dass sie heute Nacht diese Tour machten. Deswegen schien sie irgendwie Bescheid zu wissen. Aber er konnte sich jetzt nicht darum kümmern, er würde später darüber nachdenken …
„Was halten Sie darin versteckt?“, rief er und zeigte aufs Haus. „Denn ich weiß, dass Sie was drin verstecken … ähm … Zauberwesen!“ Irgendwie hatte er es sich anders vorgestellt, wenn er Griselbart endlich zur Rede stellen würde, weniger stopselnd und mehr einschüchternd.
„So … du weißt also, dass ich hier etwas verstecke“, sagte Griselbart leise. „Nun, ich würde sagen, dann hast du jedes Recht zu erfahren, was das ist. Vielleicht lernst du so, deine Nase aus anderer Leute Angelegenheiten rauszuhalten.“ Er drehte halb den Kopf, dass er über seine Schulter blickte und machte eine Handbewegung, die für jemand anderen bestimmt war als die drei. Nach und nach traten sie aus der Sicherheit der Schatten ins Licht. Toms Atem beschleunigte sich, er wusste, was jetzt kam.
Das erste Wesen war faszinierend, aber nicht abstoßend, hochgewachsen wie ein Mensch, aber dünner und zierlicher; es hatte lange seidene Haare, die hinter sehr spitzen Ohren hervorragten. Die Gesichtszüge sahen aus wie gemeißelt, da war keine Falte und keine Narbe in der Haut, die sie entstellen könnte. Gekleidet war es in aus Blättern und Farnen gewebte Gewänder, sogar die Schuhe bestanden aus vernähten Schichten Baumrinde. Es war eine Elfe und Tom meinte, dass es ein Mann war, obwohl er sich da nicht sicher sein konnte, weil weder Körperbau noch Gangart irgendeinen Hinweis auf das Geschlecht lieferten. Der Ausdruck im Gesicht der Elfe war gelinde gesagt finster und er hatte die Arme verschränkt. Hinter ihm folgten zwei Kobolde, deren Aussehen Tom inzwischen gut kannte, sie unterschieden sich tatsächlich kaum von dem toten Exemplar, das Reginald in seinem Keller aufbewahrt hatte, klein und haarig, mit einer fledermausähnlichen Schnauze und grün-gelblichen Augen. Doch anders als ihr toter Artgenosse flogen diese Kobolde, die ledrigen Schwingen auf ihrem Rücken nutzend. An ihnen fiel Tom noch etwas auf und die Worte seines Vaters hallten in seiner Erinnerung wider.
„Es hat etwas mit diesem glühenden Licht direkt über dem Herzen zu tun.“ Reginald hatte damals von der Zauberkraft der Kobolde gesprochen und jetzt sah Tom, was er meinte. In ihrem Körper, da, wo das Herz anatomisch angeordnet war, glomm ein kleines Licht nach außen wie von einer abgedunkelten Kerzenflamme, bei jedem der beiden Tiere in einer anderen Farbe, grün und rot, und es schien für sie so selbstverständlich wie ihre haarigen Ohren. Als Tom sich den vor ihnen gehenden Elf noch einmal genauer ansah, bemerkte er auch an ihm dieses Glimmen, ein kühles Blau, das von seinem Herzen auszugehen schien. Es war der Sitz ihrer Zauberkraft, dachte Tom.
Beim Anblick der Hirsche stockte ihm kurz der Atem. Vor allem das weiße Exemplar zog seinen Blick auf sich. Er war groß, hob beim Gehen stolz die Hufe und schaute ausschließlich Tom an. Der Ausdruck seiner dunkelbraunen Augen war so intelligent, so menschlich, dass der Junge wegsehen musste. Er zitterte.
Neben dem Hirsch stand eine Kreatur, die er nicht gleich einordnen konnte. Zuerst dachte er, es handelte sich um einen großen Vogel, einen Adler vielleicht, aber dann sah er die löwenähnlichen Pranken und den Körper, der von einem Pferd zu stammen schien. Ein Hippogreif. Das Fabelwesen scharrte zornig mit seinen scharfen Krallen in der Erde, wirbelte Staub auf. Plötzlich, ohne Vorwarnung, stieß es sich vom Boden ab, breitete die Schwingen aus - und hielt direkt auf die Kinder zu. Tom konnte nicht mal erschrocken die Arme vors Gesicht reißen, er stand nur da und glotzte. Da bewegte sich das Elfenwesen (oder war es eine zweite Elfe, die weiter hinten gestanden hatte?) und baute sich schützend vor den Jungen auf. Ihr zierlicher Körper strahlte erstaunlich viel Kraft und Autorität aus.
„Wir tun den nichtmagischen Geschöpfen nichts!“, sagte sie mit einer klaren, eindeutig weiblichen Stimme. „Wenn sie uns entdecken, ist es unsere Pflicht, sie aus unserer Welt zu verbannen. So lautet der Kodex. Jedes Leben ist wertvoll … Und - es ist Isabellas Sohn, Kobrat!“
Der Hippogreif, der vor ihr gelandet war, riss den Schnabel auf und kreischte, eine gespaltene Zunge und ein roter, tief liegender Rachen kamen zum Vorschein. Er bewegte sich nicht weiter auf sie zu, als hielte ihn eine unsichtbare Barriere davon ab. Er schüttelte unwillig den Kopf und trat dann ein paar Schritte zurück.
Tom schluckte. Sein Herz hämmerte mittlerweile wie wild.
Dann schob sich ein Wesen aus der hintersten Reihe nach vorne, es überragte die anderen um ein Vielfaches, und bewegte sich schleichend, fast lautlos. In die rot glühenden Augen hatte Tom erst am vergangenen Abend geblickt, jetzt sah er die Gestalt ohne Mantel und erschrak. Es war eindeutig ein Wolf, aber riesig, mit dem Körperbau eines ausgewachsenen muskulösen Mannes und einem Gesicht, das vollkommen haarig war und in einer langen zähnebewehrten Schnauze endete. Am schlimmsten waren die roten Augen, die sich in Toms bohrten und es ihm unmöglich machten, den Blick abzuwenden. Unbändige Kraft sprach aus seinen fließenden Bewegungen.
„Der Mensch weiß zu viel“, sagte das Wesen zischend, wobei seine Zunge gegen die Zähne schlug. Es war offensichtlich, dass er sich für gewöhnlich einer anderen Sprache bediente. „Ich kann mich darum kümmern.“
Toms Gedanken rasten. Ein Werwolf!
„Schon gut, Kuru“, sagte Griselbart und streckte einen Arm aus, wie um ihn zurückzuhalten. „Und du auch, Feydra. Wir werden das Problem aus der Welt schaffen.“
Die Elfe gab ihre Kriegerstellung auf und trat wieder ein paar Schritte zurück zu den anderen Wesen, dabei sah sie aus, als würde sie über das Gras tanzen.
Griselbart blickte die Jungen mit unnachgiebigen Augen an. „Tom und Peer wollen etwas von unserer Magie haben, sie leben in der verblendeten Vorstellung, dass sie Anspruch darauf haben. Also lasst uns ihnen etwas davon geben.“
Nicht nur ein Wesen zischte angriffslustig bei diesen Worten. Der weiße Hirsch machte eine Bewegung, als wollte er dazwischengehen, doch er besann sich.
„Wir werden die Kobolde opfern, sie sind am wenigsten wert, Thalíng und Kuru, ihr übernehmt die Schlachtung.“
Tom meinte, er müsste sich verhört haben. Die Kobolde brachen in aufgebrachtes Quietschen aus, doch ehe sie etwas tun konnten, wurden sie von dem dunklen Elf und dem Werwolf gepackt. Mit ausgebreiteten Pfoten platzierte man sie vor dem Halbkreis der Zuschauer und ignorierte ihr verzweifeltes Strampeln. Der Wolf bohrte seine Krallen in den Oberarm des Kobolds, der ein Wimmern von sich gab. Der Elf zückte einen Zauberstab und hielt ihn dem Kobold vor die Brust. Es war der mit dem grünen Licht über dem Herzen.
„Wartet“, sagte Tom langsam. Wenn sie wirklich das vorhatten, was er glaubte …
Griselbart ließ ihn nicht ausreden. „Natürlich werden wir unsere Magie einem Menschen geben, wenn er danach verlangt. Die Kobolde sind nicht würdig, sie zu besitzen.“
„Ich-“, sagte Tom.
„Das ist, was du dir wünschst.“ Griselbart nickte.
Der Elf schrie einen Zauberspruch, lila Licht blitzte auf; der Kobold quietschte, dann sank er in sich zusammen, die Glieder erschlafft.
„NEIN!“, schrien Tom und Peer gleichzeitig. Sie warteten darauf, dass der Kobold aufsprang und kicherte, einen Scherz mit ihnen trieb, aber die vollkommene Bewegungslosigkeit, in der er verharrte, weder ein Lid, noch ein Muskel zuckten, konnte nicht gespielt sein. Das grüne Licht über seinem Herzen war verloschen.
„Und jetzt der andere!“, befahl Griselbart.
Der Elf wandte sich dem wimmernden, übrig gebliebenen Kobold zu und packte ihn an der Schulter, um ihn in eine stehende Position zu hieven. Er richtete seinen Zauberstab auf das rote Licht.
Tom hatte genug gesehen. Die Starre, die seine Glieder überfallen hatte, löste sich. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte über die Veranda in Griselbarts Haus, so schnell er konnte. Verschwommen nahm er zu seiner rechten war, wie der weiße Hirsch einen zögerlichen Schritt auf ihn zu machte, aber der Junge rannte nur noch schneller. Er drehte sich noch einmal um, um zu sehen, ob Peer ihm folgte. Hinter ihm im Gras lag der tote Kobold, der zweite, den er in zwei Tagen zu Gesicht bekam.
„Dies ist die Straße der Magie, Tom!“, wehte Griselbarts Stimme hinter ihnen her. „Überlege, ob sie das ist, was du dir wünschst!“
Die beiden Jungen verließen das Haus, warfen sich einen wilden Blick zu, dann rannten sie ohne ein Wort des Abschieds in verschiedene Richtungen davon. Nach Charlie sah niemand, auf eine Verräterin konnte man getrost verzichten.