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Astos, der Weiße

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Tom hob fragend die Brauen und Griselbart erklärte. „Die Lichter, die du über unseren Herzen siehst, nennen wir Gluthien, das bedeutet in deiner Sprache Lichtbehälter. Sie enthalten unsere Zauberkraft und dürfen demnach unter keinen Umständen kaputtgehen.“ Der alte Zauberer hielt kurz inne, um zu sehen, ob Tom ihm folgen konnte. Anscheinend konnte er in dessen Gesicht irgendetwas lesen, das ihn davon überzeugte, denn er sprach weiter. „Du fragst, warum du deine Zauberkraft nicht geerbt hast. Das liegt daran, dass Isabella es nicht wollte. Als Mutter eines nur zur Hälfte magischen Sohnes durfte sie entscheiden, ob dir, sollte ihr etwas zustoßen, ihr Gluthien zukommen sollte. Sie entschied sich dagegen, weil sie dir ein normales Leben ermöglichen wollte.“

Tom merkte, wie er wütend wurde auf seine Mutter, die er kaum gekannt hatte. „Hat aber nicht viel genützt, oder?“, fragte er mit harter Stimme. „Mein ganzes Leben lang hab ich gewusst, dass irgendwas nicht mit mir stimmt. Und mein Vater ist seinen verrückten Fantasien hinterhergerannt und hat dabei verlernt, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.“

Griselbart sah ihm aufmerksam in die Augen. „Das hast du sehr gut beobachtet, Tom.“

Wieder schaltete Kunibert sich ein. „Es gilt als umstritten, ob man Kindern von Normalsterblichen und Zauberern ihr Erbe verwehren sollte oder nicht. Manchen Kindern tut es gut, manchen, wie dir, legt man damit eher Steine in den Weg. Die Forschung ist sich uneinig.“

Tom schnaubte. Er fand es untertrieben zu behaupten, ihm waren Steine in den Weg gelegt worden.

„Es ist nicht unsere Pflicht darüber zu urteilen“, sagte Griselbart sanft. „Ich bin sicher, deine Mutter hatte das Beste für dich im Sinn. Willst du hören, was es mit den Gluthien auf sich hat?“

Tom nickte starr, die Gedanken in Aufruhr.

„Das Besondere ist, dass wenn man ein freies Gluthien nimmt und einem im Moment nichtmagischen Wesen, zum Beispiel dir, schenkt, dann wandert die Zauberkraft zwangsläufig mit in dich hinein. Jedes Zauberwesen trägt bis zu drei Gluthien mit sich, in ihnen die Seelen der Verstorbenen. Nach etwa zehn Jahren lösen sie sich auf, wenn sie keinen neuen Besitzer bekommen und kehren in die ewige Ruhe ein. Geht es davor verloren oder fällt es Feinden in die Hände, bleibt der Geist ruhelos. Dies gilt es, unter allen Umständen zu vermeiden.“

„Wo tragt ihr alle eure Gluthien?“, fragte Peer. „Die meisten tragen sie nicht am Körper, oder?“

Tom kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich bemühte, möglichst viel der Theorie zu lernen. Auch verlangte es ihm viel Mut ab, in dieser Situation zu sprechen, die einschüchternd für ihn war.

„Gut beobachtet“, sagte Griselbart lächelnd. „Man kann die Gluthien in dafür vorgesehenen Behältern zuhause aufbewahren, natürlich, nachdem man mit ausreichend Schutzzaubern für ihre Sicherheit gesorgt hat. Oder an irgendeinem anderen Ort, im Wald unter Baumwurzeln oder versenkt in einem See, Hauptsache, man kennt die genaue Stelle und schaut in regelmäßigen Abständen, ob alles in Ordnung ist.“

Tom und Peer nickten, gespannt, noch mehr zu erfahren.

„Bei den herrenlosen Gluthien, die ich hier habe, sind die rechtmäßigen Besitzer verstorben und die Letzten der Familie sind tot; der Kreislauf wurde unterbrochen. Er kann weitergehen, aber dazu muss sich das Gluthien seinen neuen Besitzer selbst aussuchen.“ Griselbart holte unter einem losen Brett im Fußboden eine Kiste heraus, die sehr alt und ehrwürdig aussah. Als er sie öffnete, drang helles Licht von acht unterschiedlichen Farben aus dem Inneren hervor. Sie stammten von acht verschieden großen und einzigartig geformten Gluthien. Manche waren schmal und länglich, andere dick und bauchig, manche weniger und manche aufwändiger verziert. Tom tippte darauf, dass das dunkelblau leuchtende, das die Form einer Eichel hatte, am ältesten sein musste; die fein gearbeiteten Rosenblüten am Flaschenhals und ein grundlegendes Muster, das den anderen fehlte, deuteten darauf hin. Persönlich gefiel Tom das rote Gluthien sehr gut, denn er hatte den Eindruck, dass es viel Kraft im Kampf mit sich bringen musste. Unaufgefordert, von einem inneren Drang geleitet, nahm er nach und nach alle Lichtbehälter in die Hand, sie fühlten sich kalt an und glatt wie Glas. Wann immer er eins berührte, ging ein Zittern durch seine Hand und er spürte in den Gefäßen etwas pochen, als hätte das Innenleben einen eigenen Puls.

„Wie merke ich, dass es das richtige ist?“, fragte Tom beim dritten.

„Du wirst es merken“, sagte der alte Zauberer nur.

Als vorvorletztes nahm er das bauchige, blaue Licht und plötzlich erzitterte seine Hand. Sie wurde warm und begann zu leuchten, wobei sie das Wohnzimmer und die Umstehenden in warmes Blau tauchte. „Cerebrurs Erbe“, raunten die Elfen.

Das Gluthien begann sich auf Toms Handfläche aufzulösen und durch seine Finger in seinen Körper zu wandern. Man konnte mit den Augen verfolgten, wie ein schwacher Schimmer langsam vom Arm über die Schulter zum Herzen wanderte, wo er schließlich verweilte. Tom spürte einen schmerzhaften Stich, der ihn zusammenfahren ließ, dann war alles vorbei. Das Licht ebbte ab. Plötzlich fühlte er sich stärker und seine Umgebung erschien ihm viel klarer. Es war, als hätte er einen zweiten Puls bekommen, der ein wenig versetzt über dem Herzen saß. Er lächelte Griselbart zaghaft zu, der das Lächeln nicht erwiderte. Unter den Umstehenden war Unruhe ausgebrochen. Aus der hinteren Reihe der Zusehenden löste sich der schneeweiße Hirsch mit dem mächtigen achtendigen Geweih. Er ging ein paar Schritte auf den Jungen zu, bis sie nur noch ein halber Meter voneinander trennte. Tom starrte ihn an und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er wusste, dass etwas Wichtiges geschehen würde, dies war der Grund, warum der Hirsch ihn in seinen Träumen besuchte. Das Tier sah ihn an, dann sank er mit einem Vorderbein in die Knie und verneigte sich vor ihm. Ein noch aufgeregteres Raunen ging durch die Menge.

„Ein Reiter“, flüsterten die Zauberwesen. „Der erste seit Jahrzehnten!“

„Oh, Astos, bist du sicher?“, rief Griselbart und wirkte zum ersten Mal an diesem Abend bestürzt.

Tom folgte einem inneren Instinkt, streckte die Hand aus und berührte den Hirsch an der Stirn. Lange hatte er es tun wollen. Es gab einen hellen Blitz, ein rasender Schmerz zuckte durch seine rechte Hand und erschrocken riss er sie zurück. Als er wieder sehen konnte, sah er, dass auf seinem Handrücken ein kleines geweihförmiges Mal entstanden war.

Tom Winter und der weiße Hirsch

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