Читать книгу Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner - Страница 7

Die Zauberstabschmiede

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Tom fehlten die Worte für das, was ihm in diesem Moment widerfuhr. Er fühlte sich nicht länger wie ein einziges, selbständiges Wesen, sondern als hätte man ihn in der Mitte zerteilt. Dieses zweite Geschöpf, das vor ihm in einem hellen gelben Licht erstrahlte, war genauso wichtig wie er selbst; ihre Leben miteinander verbunden. Noch während er das Wunder dieses Augenblicks bestaunte, leuchtete das Zimmer erneut auf. Das rote Gluthien, das Tom so gefallen hatte, löste sich in Peers Handfläche auf und suchte sich einen Platz in seinem Körper. Peer lachte ungläubig und musterte seine Hände, als hätte er sie noch nie gesehen. Für ihn entschied sich kein Hirsch aus der Menge.

Griselbart brachte die Umstehenden zum Schweigen und sagte dann: „Ihr müsst wissen, es geschieht selten, dass ein herrenloses Gluthien sich eine neue Linie aussucht. Und jetzt ist es gleich zweimal passiert. Sie wissen, dass die Zaubererwelt in Gefahr ist“, sagte er spitz in Richtung des Werwolfs. Der knurrte nur: „Noch haben sie uns nicht gerettet.“

Thalíng, der Dunkelelf, ergriff das Wort. „Einen Reiter hat es seit langem nicht mehr gegeben. Nur solche mit einem reinen Herzen werden Reiter. Astos muss es bei dir gespürt haben.“

Tom war um eine Antwort verlegen. Er streichelte sanft Astos‘ Hals, der sich unter seinen Fingern weich wie Schnee anfühlte. Normalerweise verspürte er Angst, wenn er einem großen Tier zu nahe kam, nicht so in diesem Fall.

„Die Verbindung wird dir von Vorteil sein, denn Wesen, die einem Menschen nicht trauen, werden einem Reiter trauen.“

Charlie löste sich mit freudestrahlendem Gesicht von der Seite ihres Vaters. Sie packte jeweils eine Hand der beiden Jungen und drückte sie. „Jetzt können wir gemeinsam zaubern lernen! Das blaue Gluthien steht für List und das rote für Loyalität. Sie sind beide sehr stark.“

Sie zeigte ihnen das schwarze Licht über ihrem Herzen, das vom Stoff ihrer Kleidung recht gut verborgen wurde. Tom wollte sie fragen, warum ihres schwarz war und wofür es stand, aber Griselbart schnitt ihm das Wort ab.

„Für euch beginnt jetzt eine Lernphase, die euer ganzes Leben lang anhalten wird. Seid aufmerksam, seid vorsichtig und nutzt eure Magie nie, um anderen zu schaden. Das ist die erste Regel.“

Tom und Peer versprachen es. Tom fühlte eine neue Lebendigkeit in seinem Inneren wie ein zweiter Blutfluss, der nur darauf wartete entfesselt zu werden.

„Bevor wir beginnen, euch Zauberkunst beizubringen, braucht ihr zwei einen Zauberstab wie diesen.“ Griselbart klopfte mit seinem hölzernen Stock zweimal auf den Boden und die Luft begann plötzlich zu wirbeln, wie in einen Strudel gesogen. „Es kann auch ein anderer Gegenstand sein, Charlie zum Beispiel benutzt einen Ring. Auch die Meerjungfrauen im ersten Kessel tun das.“

Das Mädchen zeigte ihnen einen Ring mit schwarzem Stein am Finger ihrer linken Hand. Tom war er früher schon aufgefallen, er hatte ihn für ein Erbstück gehalten.

„Darin besteht eure erste Aufgabe. Findet etwas, wodurch ihr euch zu eurem Gluthien hingezogen fühlt und das euch das Zaubern erleichtert. Es kann auch etwas aus eurer Kindheit sein. Wenn ihr einen Gegenstand gewählt habt, kommt wieder zu mir. Und noch etwas: ihr müsst euch beeilen, denn die Zauberkraft wird einen Weg aus euch heraussuchen und das könnte schwerwiegende Folgen haben.“

Tom und Peer nickten.

Kunibert sagte: „Das heißt: Ja, Meister Griselbart.“

„Ja, Meister Griselbart“, erklang es im Chor.

Griselbart entließ sie unter dem Vorwand, dass er mit den anderen Wesen noch ein paar Angelegenheiten besprechen wollte. Tom war sich sicher, dass sie sich auch über ihn und Peer unterhalten würden. Tatsächlich schnappte er beim Hinausgehen ein paar geraunte Wortfetzen auf. „Das wird kein gutes Ende nehmen, Griselbart. Vor allem der Winter-Junge hat zu viel Energie. Und sein Blick … sehr unbeständig.“ Das war natürlich Kuru.

„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, hörte man die schöne Stimme der Elfenfrau. „Es war wirklich beeindruckend.“

Kunibert, der sein Zögern bemerkte, schob die beiden Jungen aus der Tür; Astos folgte Tom auf dem Fuß. „Macht besser, was Meister Griselbart euch gesagt hat und sucht nach einem Holz für euren Zauberstab. In diesen Zeiten ist es nicht klug, säumig zu sein.“

Draußen war die Nacht hereingebrochen. In den Nachbarhäusern hatte man gelbe Lichter entzündet und vom Wald drang der Schrei eines Waldkauzes herüber.

„Sind Sie schon immer ein Zauberer?“, platzte Tom heraus. „Und sind noch mehr Leute Zauberer, die ich kenne?“

„Die Rottints sind eine der ältesten Zaubererfamilien die es gibt“, antwortete Kunibert hochmütig. Sein Gesicht wirkte in der Dunkelheit wachsartig und ausgemergelt. „Und da ich nicht weiß, wen du kennst, kann ich dir deine zweite Frage nicht beantworten.“

Tom kniff bei dieser Antwort die Augen zusammen.

„Ich wette, Justus aus der 9b ist ein Zauberer!“, rief Peer, klang aber alles andere als erfreut. „Im Naturwissenschaftswettbewerb vor zwei Jahren war mein Projekt besser als seins. Zufällig ist ein schwerer Atlas vom Regal gefallen und hat es kaputt gemacht. Ich wusste, dass er etwas damit zu tun hatte, konnte ihm aber nie etwas nachweisen …“

„Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig mit Anschuldigungen“, sagte Kunibert scharf. „Du könntest mehr davontragen, als ein kaputtes Wissenschaftsprojekt.“ Der große Mann blickte auf die Uhr. „Es ist jetzt wirklich Zeit. Charlie, verabschiede dich.“

Charlie hob eine Hand zum Gruß. „Bis morgen dann. Wir treffen uns bei Meister Griselbart.“ Sie lächelte leicht, dann war sie mit ihrem Vater in der Dunkelheit verschwunden. Zurück blieben Tom, Peer und Astos, der weiße Hirsch.

„Kannst du das glauben, Tom?“, fragte Peer. Er grinste, wirkte aber auch etwas durch den Wind.

Tom schüttelte den Kopf. Nein, konnte er nicht.

„Ich glaub, ich weiß schon, was ich für meinen Zauberstab nehme“, sagte Peer. An der Weggabelung wandte er sich nach links. „Dazu muss ich nach Hause, wir sehen uns später, ja? Passt gut auf, ihr zwei!“

Es sah aus, als wollte er den Hirsch streicheln, aber dann überlegte er es sich anders und ging mit einem staunenden Lächeln davon. Tom blickte ihm nach, bis er ins Haus gegangen war. Er schüttelte leicht den Kopf; das alles kam ihm vor wie ein verrückter Traum.

Hinter ihm leuchteten die Fenster des Bernsteinwegs sechs einladend in der Dunkelheit. Etwas in ihm wollte nichts lieber als hinein in sein Zimmer zu gehen und die Tür zuzumachen. Aber da war auch eine neue Abenteuerlust in ihm erwacht und diese erlaubte es nicht, dass er den Hirsch jetzt verließ. Er musste sich zunächst um seinen Zauberstab kümmern, wie Griselbart vorgeschlagen hatte.

Ein kühler Windhauch fuhr ihm unter die Kleider und ließ ihn frösteln. Er konnte von Glück reden, einen Vater wie Reginald zu haben. Jeder andere wäre wohl auf die Barrikaden gegangen, wenn der dreizehnjährige Sohn um Mitternacht nicht im Bett war.

Er drehte sich zu dem Hirsch um. Sein Gesicht erschien ihm noch immer wie eine Traumgestalt und er spürte eine gewisse Scheu und Ehrfurcht vor dem Tier. Es war stark genug, einen erwachsenen Mann mit seinem Geweih zu töten und obendrein genauso klug wie ein Mensch.

„Ich hätte schon eine Idee“, sagte er leise. „Ein Zauberstab, der aus deinem Geweih gemacht ist. Dann würde man sofort erkennen, dass wir zusammengehören. Aber ich denke, das geht nicht, oder?“

Astos sah ihn mit seinen intelligenten Augen aufmerksam an. Sie waren das einzige an seinem Körper, das in der Dunkelheit nicht glomm. Dann sank er, wie zuvor beim Ritual der Gluthien mit den Knien zu Boden. Gleichzeitig schaute er mit seinem Kopf nach hinten in Richtung seines breiten Rückens.

„Ich soll aufsteigen?“, fragte Tom nervös, der in seinem ganzen Leben noch nie geritten war. Der Hirsch senkte langsam den Kopf. Das sollte wohl Ja bedeuten.

Es gestaltete sich schwierig, in Jeanshosen ein Bein über den Rücken des Hirsches zu strecken, aber schließlich gelang es ihm. Stolz blickte er sich um. Die Welt sah anders aus, jetzt, wo er sie von weiter oben betrachtete. Er stellte sich vor, was ein weiterer Nachbar, zum Beispiel Herr Behrer oder Herr Reß, sehen würde, wenn er jetzt aus dem Fenster schaute. Den jungen Tom Winter auf dem Rücken eines weißen Hirsches, die zusammen in die Nacht ritten. Er lachte ein glockenhelles Lachen.

Astos machte ein paar Schritte von der Straße weg auf bewachsenen Boden und Tom klammerte sich an seinem Hals fest. Über die Wiese hinter seinem Haus ging es in Richtung Wald. Unter seinen Beinen spürte er die starken Muskeln des Hirsches, der sein Gewicht ohne sichtliche Anstrengung trug. Seine Ohren flackerten mal in die eine, mal in die andere Richtung und verrieten, dass er stets wachsam war. Als sie vom Wald nur noch wenige Meter trennten, beschleunigte Astos seine Schritte und begann schließlich zu traben. Ein paar Sekunden schaffte Tom es sich festzuklammern, ehe er abrutschte. Er landete unsanft auf dem Boden und fluchte. Astos drehte sich nach ihm um und blickte ihn aufmerksam an, aber Tom meinte, in seinen Augen ein Lachen zu sehen.

„Probieren wir es noch einmal“, sagte er grimmig.

Nach ein paar Anläufen klappte es besser, auch wenn ihm nach kurzer Zeit gewisse Körperstellen ziemlich wehtaten. Astos überschritt die Waldgrenze und das Licht des Mondes nahm noch weiter ab. Außer den Hufschlägen des Hirsches und einsamen Vogelstimmen störte kein Laut die Stille. Als Tom wusste, er würde nicht gleich wieder runterfallen, konnte er den Ritt genießen. Er vergaß die Zeit, vergaß die Erlebnisse der letzten Wochen und konzentrierte sich ganz auf den Moment. Es fühlte sich merkwürdig vertraut an, auf dem Rücken des Hirsches zu sitzen, als würde er das schon seit langem tun.

Astos schien genau zu wissen, wo er hin wollte. Während Tom nach ein paar Biegungen und Abzweigungen völlig die Orientierung verloren hatte, sprang der Hirsch leichtfüßig über am Boden liegende Stämme und Erdhügel tiefer ins Herz des Waldes. Hin und wieder knackte etwas im Unterholz und manchmal meinte Tom, etwas aus den Augenwinkeln davonhuschen zu sehen.

Sie gelangten an eine Wegkreuzung, wo in gerader Richtung vier unterschiedliche Pfade verliefen. Tom schaute in die pechschwarzen Schatten zwischen den Bäumen und schauderte. Einerseits war er neugierig, wohin die verschiedenen Pfade führten, andererseits fühlte er, dass Gefahr von ihnen ausging. Vor allem der Weg ganz rechts bannte ihn.

„Da geht es nach Bruckwalde, oder?“, fragte er den Hirsch leise. „Wo wir hin müssen, weil König Lokaro krank ist.“ Woher er das wusste, konnte er nicht sagen.

Astos schnaubte. Wieder ein Ja. Dann setzte er sich in Bewegung und nahm den zweiten Weg von links. Tom schaute noch eine Weile über die Schulter, dann verdrängte er das unheimliche Gefühl. Minutenlang ritten sie weiter.

Auf einer großen Lichtung, die von den Sternen in funkelndes Licht getaucht wurde, machte Astos Halt. Er senkte die Schnauze und schnoberte im Gras, als wollte er zu fressen beginnen, aber dann sah Tom, wofür er sich interessierte. Im Gras lag ein abgeworfenes Geweih, das viel größer war als das, welches zwischen Astos‘ Ohren wuchs. In der Dunkelheit konnte man meinen, es wäre aus Elfenbein. Tom sprang von seinem Rücken und fragte: „Das ist von dir? Ich kann es haben?“

Astos sah ihn mit einem Blick an, der wohl Ja bedeutete.

„Ich werde es als Ganzes mitnehmen müssen. Ich hab nichts zum Sägen dabei.“

Das Geweih war schwerer, als Tom vermutet hatte. Allein es in die Höhe zu hieven, erforderte einiges an Kraft. Es dauerte eine Weile, bis er eine Sitzposition auf Astos' Rücken fand, in der er nicht gleich wieder den Halt verlor.

Auf dem Rückweg wollte der Hirsch etwas Neues ausprobieren. Ohne Vorwarnung fiel er von Trab in leichten Galopp. Tom stieß einen erschrockenen Laut aus und klammerte sich wie ein Äffchen um seinen Hals. Doch zu seiner Verwunderung war der Galopp eine Gangart, in der er sich besser halten konnte als im Trab und eine, die mehr Spaß machte. Er lachte, während die Welt in einem Kaleidoskop bunter Farben an ihm vorbeirauschte. Das bedeutete es also, ein Reiter zu sein.

An Schlaf war nicht zu denken, deshalb schüttelte der Junge den Kopf, als Astos vor seinem Haus stehenblieb, in dem alle Lichter aus waren, und deutete stattdessen auf die Villa nebenan. Astos schnaubte und klang belustigt.

Griselbart war noch wach, als Tom klopfte. Er war zwar früher gekommen, als ausgemacht, aber das schien ihn nicht zu stören.

„Kriegst wohl nicht mehr genug von der Magie, hm?“, brummte er und lächelte, wobei ein Dutzend neuer Fältchen um seine Augen entstand. Er trat einen Schritt zurück, um Tom und Astos über die Schwelle zu lassen. Der Junge blickte sich aufmerksam um. Bei den bisherigen Besuchen war so viel los gewesen, dass er sich nie richtig umgesehen hatte. Griselbart besaß eine Unmenge an Büchern, von denen die meisten verstaubt in den Regalen standen. Der Großteil der Möbel war aus dunklem Eichenholz, es gab ein Aquarium mit dunkelblauem Wasser darin und eine Vielzahl von Uhren, Waagen und Pendeln. Vielleicht sammelte Griselbart diese.

Die anderen Wesen waren nach Hause gegangen, nur ein paar zurückgelassene Federn und Haarbüschel bewiesen, dass Tom nicht alles geträumt hatte.

Griselbart führte ihn ins Wohnzimmer, wo zum Tee gedeckt war, und erzählte, dass Wachtposten in der Nähe stationiert waren, für alle Fälle. „Xerxes hatte vor allem das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Beim nächsten Mal würde er, denke ich, gegen eine Chipera den kürzeren ziehen. Außerdem könnte es sein, dass dann mehr als eine auftaucht. Früher gelang es ihnen nicht so einfach, in von Menschen besiedelte Gebiete zu kommen ...“ Er driftete ab, während er für sich und Tom eine Tasse Grünen Tees eingoss.

Der Junge lud Astos' Geweih auf einem Schemel ab. „Ich wollte aus diesem alten Geweih einen Zauberstab machen. Denken Sie, das ist eine gute Idee?“

Griselbart schien es erst jetzt zu bemerken.

„Es ist sogar eine sehr gute Idee! Die Reiter im Norden machen das auch so. Sie zupfen eine Schuppe vom Hals ihres Drachen und benutzen ihn als Kern für ihren Zauberstab. Das erzeugt außergewöhnliche Magie. Ich selbst habe noch nie einen solchen Zauberstab gemacht, es ist also auch für mich das erste Mal.“

Der Meister bestand darauf, dass Tom seinen Tee austrank, obwohl der kaum stillhalten konnte. Astos und Griselbart unterhielten sich in Gedanken, zumindest hatte es den Eindruck, da sie einander ansahen, nickten und den Kopf schüttelten.

Schließlich erhob sich der Zauberer und ließ das Teeservice verschwinden. „Und nun komm mit mir. Auf in die Zauberstabschmiede!“

Griselbart ging aus der Tür und schickte sich an, eine Treppe hinunterzugehen, die in die Kellerräume führte. Als Astos keine Anstalten machte zu folgen, blieb auch Tom stehen.

„Astos wird jetzt für kurze Zeit in den Wald zurückkehren“, erklärte Griselbart. „Er wird nicht die ganze Zeit bei dir sein. Aber wenn du nach ihm pfeifst, wird er dich hören und zu dir kommen.“

„Okay.“ Tom streichelte Astos‘ Hals zum Abschied, dann marschierte auch er die Treppe hinab. Sie führte in ein steinernes Gewölbe, das aus sehr engen Gängen und vielen Verwinkelungen bestand. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, als wäre ein Dutzend Paar Füße anstatt zwei auf der Treppe unterwegs. Tom meinte, ein Knarzen hinter einer verschlossenen Tür zu hören und einmal war er sich sicher, zu hören, wie jemand seinen Namen sagte. Als er Griselbart danach fragte, sagte der: „Ich muss den Radio angelassen haben.“ Aber er lächelte und bewies damit, dass er ihm nicht ganz die Wahrheit sagte. Dann wechselte er das Thema.

„Weißt du, Tom, es hat mich überrascht, dass Astos sich dafür entschied, dein Reittier zu sein. Er ist schon über dreihundert Jahre alt und hat nie derlei Anstalten gemacht.“

„Wie alt?“, sagte Tom entgeistert.

„Astos, der Weiße, ist wahrlich kein Unbekannter in der Anderswelt. Vielleicht sind dir die schwarzen Linien auf seinen Fesseln und an seinem Geweih aufgefallen. Sie alle stehen für Verdienste und Schlachten, die er gewonnen hat. Die Drachengeister der zweiten Pforte ließen sie ihm in einer heiligen Zeremonie angedeihen.“

„An dem alten Geweih sind sie mir aufgefallen“, sagte Tom. Doch hatte er die Linien für Maserungen der Knochensubstanz gehalten, nicht für Schriftzeichen.

„Ich war sehr überrascht“, wiederholte Griselbart. „Man kann Großes von euch erwarten, er wird dir viel beibringen. Bald wirst du auch seine Stimme hören können.“

Schließlich, nach vielen Kurven und Abzweigungen, drückte der Zauberer bei einer Tür die Klinke und bedeutete Tom hineinzugehen. Hitze schlug ihm entgegen. In einem Schmiedeofen, der fast die Hälfte des Raums einnahm, prasselte ein Feuer von so gewaltigem Ausmaß, dass es mit seiner Energie mühelos das ganze Haus versorgen konnte. Im Raum verteilt waren ein Amboss, metallene Werkzeuge und ein großes Steinbassin voll Wasser. Tom war überrascht. Er hatte mit einer magischen Zauberstabschmiede gerechnet, nicht mit einem so traditionellen Verfahren.

Griselbart ging mit Astos' Geweih zum Amboss. Dort griff er nach einem Messer, das fast schon die Größe einer Säge hatte. Er drehte sich zu Tom um und sagte: „Wir trennen jetzt den Teil, der dein Zauberstab werden soll, vom Ganzen. Für ein paar Minuten verhärten wir diesen Teil im Ofen. Keine Sorge, dabei geht nichts kaputt, es ist ja ein Stück eines Zauberwesens. Dann müssen wir es im Wasser abkühlen. Nur so erlangt er den richtigen Härtegrad. Zieh dir diese Schutzhandschuhe an, Tom!“

Griselbart wiederholte den Ablauf ein paar Mal und Tom konnte ihm nur wenig zur Hand gehen. Außerdem bog der Zauberer das Geweihstück nach jedem Herausholen ein klein wenig gerade, damit er die leichte Krümmung aus dem Material bekam. Irgendwann, als er der Meinung war, dass Tom es verstanden hatte, durfte auch er an den Amboss.

Nach eineinhalb Stunden und vielen vergossenen Schweißperlen war der Meister mit Biegung und Festigkeit zufrieden. Das stabförmige Geweih schimmerte im Schein des Feuers wie blank poliert. Toms Arme schmerzten vom vielen Hämmern und langsam machte sich der Schlafentzug bemerkbar. Er unterdrückte ein Gähnen.

Griselbart wirkte frisch wie eh und je. „Jetzt geht es ans Glätten und Ausformen. Das ist fast noch wichtiger als der Härtungsprozess, denn der Zauberstab muss gut auf deine individuellen Anforderungen ausgerichtet sein, sonst hast du später Probleme beim Zaubern. Unten brauchen wir einen Griff, damit dir der Zauberstab auch in brenzligen Situationen nicht aus der Hand rutscht. Am oberen Ende kannst du ihn nach Belieben verzieren und ich zeige dir ein paar gängige Muster. Das kannst du dann selber machen.“

Den Griff passten sie an Länge und Breite von Toms Handfläche an, daran, wie stark er zupackte und wie sich seine Hand einmal entwickeln würde. Griselbart zeigte ihm anhand seines eigenen Zauberstabs, der aus einem Dachbalken ebendieses Hauses bestand, das schon seit fünf Generationen im Besitz der Griselbarts war, welchen Effekt die verschiedenen Muster auf die Wirkung des Stabs hatten. Tom versuchte sich alles zu merken. Für die Schnitzarbeit benutzten sie handelsübliche Taschenmesser und Feilen und auch wenn Tom bisher nicht viel geschnitzt hatte, kam er schnell dahinter. Immer wenn Griselbart sagte, jetzt sei der Zauberstab gut genug, wollte Tom weitermachen. Er wusste nicht, wie viele Stunden sie bereits im Keller saßen, als er endlich zufrieden war. Er hielt das fertige Stück ins Licht und verschlang jede seiner Kurven und Maserungen mit den Augen. Ein Seufzer entfuhr ihm.

„Für deinen allerersten Zauberstab ist das eine beeindruckende Leistung“, sagte Griselbart ernst. Auf der Stirn des Meisters glänzten Schweißperlen und er hatte seine Samtjacke ablegen müssen. Tom lächelte. Als er seinen Zauberstab umschloss, fühlte er eine Wärme von den Fingerspitzen seinen ganzen Arm hinauf fließen. Als er ihn schwang, wurde das Feuer im Kamin plötzlich zu blauen Flammen und schoss auf ihn zu. Doch auch, als es ihn berührte, verbrannte es ihn nicht, es war angenehm warm und leckte nur zärtlich über seine Haut.

Griselbart lachte schallend.

*

Schon beim Aufstehen hatte Skelardo gespürt, dass sich dieser Tag von den vorherigen unterschied. Mehrere hundert Jahre Lebenserfahrung ließen keinen Zweifel zu; irgendwo, vielleicht hunderte Meilen entfernt, außerhalb seines Herrschaftsgebiets, war etwas vorgefallen. Einem Vampir war es unmöglich zu träumen und doch hatte er das Gefühl, dass ihn helle Gestalten des Lichts im Schlaf verfolgt hatten.

Unruhig ging er in seinem Verlies auf und ab, wobei der Klang seiner Schritte von den Wänden widerhallte. Wann immer sich eine Maus aus ihrem Loch hervorwagte, belegte er sie mit dem Todesfluch, der eine Ader in ihrem Hirn zum Platzen brachte. Ein letztes Fiepen und das Leuchten ihrer Seele war erloschen. Schon so lange arbeitete er auf sein Ziel, Bruckwaldes Thron, hin. Wenn sich ihm irgendetwas in den Weg stellte, musste es ausgeschaltet werden. Skelardo entspannte sich erst, als er die sich nähernden Schritte des Jungen Raephas vernahm. Raephas. Er würde ihm sagen, warum sich das Gleichgewicht zu seinen Ungunsten verschoben hatte. Der Junge öffnete die Tür aus schwarzem Eichenholz und teilte den schweren Vorhang, der dahinter angebracht war, damit er die Geräusche aus den Gängen dämpfte. Das war das schlimmste am Umgang mit menschlichen Wachen, sie machten so viel Krach.

Raephas küsste dem Grafen die Hand und Skelardo hatte Zeit, sein hübsches Gesicht näher in Augenschein zu nehmen. Beim Anblick der blutroten Augen spürte Skelardo einen jähen Anflug von Stolz. Er selbst hatte den Jungen zu einem Vampir gemacht und er war sein mit Abstand bestes Werk bisher.

„Ein Rabe hat Neuigkeiten gemeldet, Herr.“

Das hatte er erwartet. „Was ist es?“, fragte er mit einer hohen, kalten Stimme.

„Von der ersten Pforte. Griselbart hat sich entschlossen, Normalsterblichen Zauberkraft angedeihen zu lassen.“

Skelardo runzelte die Stirn. Dies beunruhigte ihn für gewöhnlich nicht. Sollte der alte Knallkopf doch machen, wie ihm beliebte. Aber Raephas wäre nicht zu ihm gekommen, wenn es nicht etwas zu bedeuten hatte.

„Ein Junge, Tom Winter, keine nennenswerte Abstammung, er ist ein Reiter.“

„Tom Winter“, echote Skelardo. Nachdenklich wanderte sein Blick zum Fenster. Welch klangvoller Name. „Und die anderen?“

„Ein anderer Junge, Peer Feuerecker. Er hat das Gluthien der Loyalität. Winter hat das der List.“

Der List. Der Vampir konnte in seinem Geist den saphirblauen, bauchigen Behälter aufblitzen sehen. Jeder, der etwas von der Anderswelt verstand, wusste, dass es mit das gefährlichste war, das gerissenste, das am wenigsten zu vorhersagende.

„Schön.“ Skelardo hatte nie etwas weniger schön gefunden. Er spürte, wie alles verzehrender Zorn in ihm hochkochte. „Da hat Griselbart ganze Arbeit geleistet. Danke, Raephas, du kannst gehen.“

Der Junge verbeugte sich und zog sich durch den Vorhang zurück. Bald waren seine leisen Schritte verklungen.

Als er allein war, schickte Skelardo einen Wutschrei zur Decke und zertrümmerte eine gläserne Kristallkugel. Wie konnte Griselbart es wagen, einen unterbrochenen Kreislauf zum Leben zu erwecken und dabei einen Reiter zu kreieren? Besaß er kein Schamgefühl? Jedes anständige Magiewesen würde sich lieber aufhängen, als so etwas zu tun.

Schwer atmend stützte er sich auf das Fenstersims. Er hatte gute Lust, zum Spaß ein paar der Bürger hinzurichten oder einer Wache öffentlich den Kopf abzuschlagen. Dann fiel ihm etwas ein. Der Junge war noch nicht lange Teil der Anderswelt, erst eine Nacht, seine Schutzzauber konnten sich noch nicht voll entfaltet haben. Und Skelardo wäre kein Vampir, wenn er die Gelegenheit nicht nutzen würde. Er wandte sich einer spiegelnden Glasfläche an der mit schwarzen Kacheln ausgelegten Wand zu. Natürlich konnte der Vampir sein eigenes Spiegelbild nicht sehen, als er sich ihr näherte. Er hatte keine Seele. Er berührte das Glas mit seinen Fingerspitzen, die kälter waren als der Untergrund.

„Tom Winter, Reiter“, murmelte er. Fast augenblicklich erschienen Bilder auf der Oberfläche, leuchteten für den Bruchteil von Sekunden auf, bevor sie verschwanden; ein schwarzhaariger Junge mit gefälligem Gesicht stand in der Mitte eines Raums und war umringt von mehreren Gestalten, deren Anblick gezwungenermaßen verschwommen war. Der Junge durfte ein Gluthien wählen, eine Musterungsmethode, die Skelardo seit jeher verachtete, aber im Hinblick auf die Ergebnisse zugegebenermaßen sehr effektiv war. Das Gluthien der List wählte Tom Winter, es erhellte seine erstaunte Miene für einen kurzen Augenblick, dann entschied sich der prächtige weiße Hirsch aus den hinteren Reihen für ihn. Der Hirsch war in der Anderswelt kein Unbekannter, Astos der Weiße, hatte schon oft gegen die dritte Pforte gekämpft und dabei mehr Siege als Niederlagen davongetragen. Das war ein herber Rückschlag. Astos würde den Jungen alles lehren, was er wissen musste. Graf Skelardo sah sich das Geschehen bis zum Schluss an und sein Unmut über Griselbarts Dreistigkeit wuchs. Was ihm besonders auffiel, war die Tatsache, dass Tom Winter kein einziges Mal lächelte – er nahm sein Schicksal todernst. So als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet oder als wäre er im Vorfeld dazu bestimmt worden. Dann verlor die Oberfläche des Spiegels an Tiefe, wurde wieder glatt und leer. Tom Winter, so schloss der Vampir, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zum Fenster wanderte, könnte zu einer Gefahr werden.

*

Tom Winter und der weiße Hirsch

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