Читать книгу Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner - Страница 5

Die Chipera

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Das Erlebnis hatte gravierende Auswirkungen auf Toms Gesundheit. Sein Vater fand ihn gegen Morgengrauen in seinem Bett liegend und ein Blick in sein Gesicht genügte, um ihn in Alarmzustand zu versetzen. Das Funkeln, das er darin seit ein paar Tagen mit Wohlwollen beobachten hatte können, war verschwunden.

„Ich rufe die Schule an“, war sein erster Kommentar. „Du gehst heute nicht.“

Zuerst war Tom versucht, dem Befehl nachzugeben. Aber dann trat ihm ein Bild vor Augen, das Bild, wie Charlie sich mit Griselbart darüber lustig machte, dass er sich zuhause verkroch und Angst hatte, einem von ihm zu begegnen. Er würde es nicht auf sich sitzen lassen, ein Feigling genannt zu werden.

Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Ich hab nicht viel Schlaf bekommen“, sagte er. „Mir war zu heiß.“

„Tom, du siehst … schlimm aus“, sagte Reginald besorgt.

„Es ist nichts.“ Er stand auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann fiel ihm etwas ein. „Hey, Dad?“

„Ja?“

„Hatte meine Mutter gesundheitliche Probleme?“

„Deine Mutter?“

Tom wartete.

„Ähm ja, hatte sie. Genau das gleiche wie du. Schlafprobleme, Appetitlosigkeit, Depressionen …“

„Ich hab keine Depressionen.“

„Natürlich nicht.“

Tom merkte, welch große Sorgen sein Vater sich um ihn machte und wie sehr er seine Mutter vermisste und fühlte sich schrecklich schuldig.

Doch er sagte nur: „Komm, fahren wir zur Schule.“

Sie stiegen in den roten, halb vermoderten Chevrolet Pickup, den Reginald sein Eigen nannte. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fragte Tom ihn, ob die neueste Ausgabe von „Paranormaler Wissenschaft“ angekommen war, da er wusste, dass Reginald die Zeitschrift jeden Mittwoch beim Frühstück verschlang.

Bereitwillig erzählte Reginald, wie Chinchillas vor knapp fünf Jahrhunderten von einem anderen Planeten auf die Erde kamen - dafür gab es zahlreiche Beweise und Augenzeugenberichte - und Tom musste nichts weiter tun, als zu nicken und zuzustimmen. Er hörte nicht wirklich zu, er dachte an seine Mutter. Die Elfe hatte ihren Namen erwähnt und ihm damit einigen Stoff zum Nachdenken gegeben. Die Zauberwesen hatten Isabella gekannt. War sie eine von ihnen gewesen? Und ihr Tod vor acht Jahren - war es vielleicht kein gewöhnlicher Autounfall gewesen? Er wusste, dass sein Vater Selbstmord vermutete; dass ihre Depressionen schuld gewesen seien. Tom war sich nicht mehr so sicher. Nach allem, was er gesehen hatte, konnten Griselbart, Kuru und Thalíng etwas damit zu tun haben. Und er wusste, dass es seine Pflicht war, die Wahrheit herauszufinden.

Der rote Pickup hielt vor der Schule und sein Vater öffnete seine Tür.

„Bis nachher! Was hältst du davon, wenn wir am Nachmittag im Wald nach einem Koboldbau suchen, nur wir beide?“, fragte Reginald mit leuchtenden Augen.

Tom zuckte zusammen, aber nicht, weil gerade drei Zehntklässler an ihm vorbeigingen und die letzten Worte seines Vaters mit anhörten, sondern weil Bilder der gestrigen Nacht in ihm aufstiegen.

Er lächelte verzerrt. „Ja, vielleicht, Dad, ich treff mich heute mit Peer zum Lernen.“

Reginald nickte und sah wieder so besorgt aus wie am Morgen.

Im Klassenzimmer zeigte Tom Charlie die kalte Schulter, während er mit Peer stillschweigend zu dem Entschluss gekommen war, kein Wort über das Erlebte zu verlieren. Nur Peers Augenringe ließen vermuten, dass er die Nacht ebenso schlecht geschlafen hatte. Die ersten beiden Stunden Mathematik vergingen im Schneckentempo und ließen ihn kaum Ablenkung finden. Zwischen acht Uhr dreißig und acht Uhr fünfzig schlenderte er allein über den Schulhof und ging den Grüppchen von Schülern, die ihn kannten, gezielt aus dem Weg. Ihm war nicht der Sinn nach einem Gespräch. Nach der Pause wartete Charlie vor dem Klassenzimmer und bat Tom um ein Wort unter vier Augen. Er stimmte zu, wenn auch widerwillig.

„Tom, ich schwöre, es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest, aber es ist besser, wenn du dich aus allem heraushältst.“ Sie hatte die Arme verschränkt, in der Hoffnung, ruhig zu wirken, aber die Farbe auf ihren Wangen verriet sie.

Vielleicht hatte Tom auf eine Erklärung gehofft, vielleicht auf eine umfangreichere Entschuldigung, jedenfalls wurde er ob dieser Worte wütend. „Keine Sorge, ich werde keinen Fuß mehr in die Richtung dieser irren Vereinigung setzen!“, zischte er.

„Sie sind nicht so schlimm, wie du denkst.“

„Jaah, klar“, schnaubte Tom.

Charlie schwieg einen Moment und schaute auf ihre Schuhspitzen. „Wir können trotzdem noch Freunde sein, Peer, du und ich.“

Tom schnaubte wieder. „Du hast uns tagelang angelogen, bis zum Schluss hast du uns nicht gesagt, was los ist.“

„Ich konnte nicht, Tom-“

Er sprach lauter, um sie zu übertönen. „Peer und ich werden nicht so tun, als hätten wir nichts gesehen, wir werden ihre dunklen Machenschaften nicht unterstützen!“

„Wir betreiben keine schwarze Magie, Tom, wir gehören zu den Guten!“

Das gleiche hatte sie über Griselbart gesagt. „Immer lügst du!“, fauchte er und im offen stehenden Klassenzimmer wurde es schlagartig still; jeder war interessiert an plötzlich auf- und abbrandenden Liebeleien von Klassenkameraden und der damit verbundenen Möglichkeit, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Tom musste sich Mühe geben, seine Stimme zu senken, während ihn Paulinas und Chiaras Blicke durchbohrten. „Ihr habt den Kobold umgebracht, vielleicht beide, und das ohne richtigen Grund, ich kann das nicht einfach vergessen!“

„Es ist alles ganz anders, als du denkst.“

„Dann erklär's mir! Sag mir, wie es wirklich ist.“

„Das geht nicht, Tom, ich darf nicht-“

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Du glaubst also, wir reden einfach nicht mehr darüber, vergessen das alles und dann wird alles wieder so wie früher?“

Charlie machte den Mund auf und schloss ihn dann wieder. Es war klar, dass sie Ja sagen wollte.

„Tut mir leid, das mach ich nicht, ich glaub es wär am besten, wenn du mich einfach in Ruhe lässt, Charlie.“

Eine Hand zwischen seinen Schulterblättern brachte ihn zum Verstummen, Herr Tissarek, der Deutschlehrer, war von hinten auf sie zu getreten und schob sie vor sich her ins Klassenzimmer. „So jung und schon Beziehungsstress“, sagte er, dass die ganze Klasse es hören könnte. „So gern ich euren Problemchen lauschen möchte, empfehle ich euch, die Unterhaltung nach der Stunde fortzusetzen. Gib nicht gleich auf, Charlotte, er wird seinen Groll schon hinunterschlucken.“

Die ganze Klasse, Peer ausgenommen, lachte. Tom ging rauchend vor Zorn zu seinem Platz und schwor sich, von jetzt an nie wieder ein Wort mit Charlie Rottint zu wechseln.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos, Tom gab vor, nicht zu wissen, dass das Haus nebenan existierte, sein Vater machte keine weiteren Koboldfunde und Charlie hatte nach mehreren fruchtlosen Versuchen, ihn versöhnlich zu stimmen, aufgegeben. Peer hatte ihr größtenteils verziehen, sie betrachteten jetzt wieder Schmetterlinge unter dem Mikroskop, aber Tom wollte nichts davon wissen.

„Die töten sich gegenseitig, Peer, und wer weiß, ob du Charlie überhaupt trauen kannst. Vielleicht soll sie für ihre Vereinigung Menschen auskundschaften und du bist der erste, der dran glauben muss. Hat sie dir schon irgendwas Neues erzählt?“

Peer verneinte. Und solange das so blieb, hielt Tom an seinem Standpunkt fest.

Nur in seinen Träumen holte ihn das Erlebte wieder ein. Meist wusste er am nächsten Morgen nicht mehr, worum es ging, nicht so in dieser Nacht.

Tom wanderte eine einsame Straße entlang. Es war die Fußgängerzone der nächst größeren Stadt Waldkirchen am Wesen, wo er bereits das ein oder andere Mal gewesen war. Außer ihm war keine Menschenseele unterwegs und Tom betrachtete interessiert die Schaufensterauslagen. Bei einem Antiquitätengeschäft, das kleine Modelle vom Mond und von der Sonne anbot, blieb er stehen und verfolgte mit dem Blick die Kurven und filigranen Details auf den silbernen und goldenen Figuren.

Da bemerkte er die Gegenwart eines weiteren Wesens und er schaute auf. Vom Ende der Straße kam ein silbernes Licht auf ihn zu und sein Herz machte einen Hüpfer. Er hatte ihn sofort erkannt, es war der Hirsch, der ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen besuchte. Tom lächelte zaghaft. Die braunen Augen schauten ihn mit der für sie typischen Ruhe an und schienen wie immer tiefere Geheimnisse zu bergen.

Tom erinnerte sich, wie er vor den magischen Tieren und auch vor dem Hirsch geflohen war und fühlte das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Hier in diesem Traum kam ihm sein Verhalten plötzlich feige und falsch vor. Was war geschehen, dass er das Heil in der Flucht gesucht hatte? Er konnte sich nicht erinnern.

Du verschließt dein Herz vor der Magie“, sagte der Hirsch und es klang wie ein Anklage.

Ich … “ Tom wollte erklären, aber ihm fiel kein einziger Grund ein. Mit großen dunkelblauen Augen schaute er den Hirsch an.

Bald wird es zu spät sein. Die Schatten werden länger und die Sterne stehen nicht mehr lange in einer günstigen Konstellation.“ Der Hirsch blickte über die Schulter und Tom war, als sähe er einen dunklen Schatten, der sich vom anderen Ende der Fußgängerzone her auf sie zu bewegte. Die Ohren des Hirsches flackerten nervös.

Tom machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Er hatte das Gefühl, wenn er ihn nur einmal berühren könnte, würde sich der Nebel in seinem Kopf lösen und er könnte besser verstehen.

Aber der Hirsch wich zurück und seine Hufe klackerten auf dem Asphalt. Um sie herum wurde es dunkler.

Verschließe dein Herz nicht länger, junger Freund“, raunte der Hirsch jetzt eindringlicher. „Lass dich nicht von Ängsten blenden, sondern sei mutig! Die Schatten kommen.“

Tatsächlich umfing die Dunkelheit den Hirsch mit einer solchen Gnadenlosigkeit, dass Tom aufschrie. Kurz noch kämpfte das silberne Leuchten mit den Schatten, versuchte sich herauszuwinden, aber dann ging es aus, wie eine Kerzenflamme, die der Wind ausgeblasen hatte.

Tom stieß einen weiteren Schrei aus und wachte auf.

Sondern sei mutig! Er konnte den Satz nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er drehte sich auf die Seite und knüllte das Kissen zusammen. Er wollte mutig sein.

Zwei Tage waren seit dem Traum vergangen. Am Donnerstagabend saß Tom in seinem Bett und wiederholte ein Kapitel aus seinem Matheschulbuch; es ging um Winkelsummen im Dreieck. Gegen halb zehn, als er sich überlegte, früher schlafen zu gehen, bemerkte er, wie es in seinem Zimmer schlagartig kälter wurde. Mitte Juli war er es gewöhnt, nur im T-Shirt herumzulaufen, aber jetzt überkam ihn eine Gänsehaut. Er packte seine Schulsachen weg und zog eine Jacke über. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass irgendetwas im Gange war. Er warf einen argwöhnischen Blick zum Fenster. Konnte es wieder mit Griselbarts Haus zu tun haben?

Schließlich, als er die Spannung nicht mehr aushielt, stand er auf und schaute, was sich an seiner Pforte abspielte. Vor dem Fenster ging er in die Knie und lugte nur eine Handbreit über den Sims. Wie zu erwarten hatte der Nachbar erneut Besuch und wie gewöhnlich war der Gast eindeutig nicht menschlicher Natur. Das schwarze, in einen Umhang gehüllte Wesen, schwebte ein paar Handbreit über dem Boden. Anders als die sonstigen Besucher schien es seine Unnatürlichkeit nicht verbergen zu wollen und Tom wollte wetten, dass es auch unter seiner Kapuze kein vorgetäuschtes menschliches Aussehen angenommen hatte. Auf dem Rücken hatte es einen Buckel, der sich hin und wieder verschob und dabei den Mantel verrutschte als wäre er ein eigenständiges Körperteil, das sich frei bewegen ließ. Als es seinen Kopf drehte, um nach links und rechts zu sehen, ging Tom unwillkürlich weiter in die Knie; er wollte in seiner Spähposition nicht entdeckt werden. Beim Anblick dieser Kreatur fühlte er zum ersten Mal einen Anflug von Angst, anders als beim Elf oder beim Kobold, an denen er durchaus Gefallen gefunden hatte, bis sie angefangen hatten, einander umzubringen. Das gespenstähnliche Wesen auf dem Weg klopfte nicht und klingelte auch nicht, soweit es für Tom ersichtlich war. Dennoch öffnete sich die Tür zu Griselbarts Villa einen Spaltbreit, denn Licht fiel aus dem Inneren des Hauses auf die Veranda. Dann geschah alles ganz schnell: das fliegende Wesen fegte mit unnatürlicher Geschwindigkeit und einem schrillen Kreischen, das Tom die Haare zu Berge stehen ließ, durch die offene Tür; Krachen und Schreie ertönten, dann kamen weder Griselbart noch der Geist erneut zum Vorschein. Tom schluckte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er die Vermutung, Griselbart würde angegriffen. Aber wenn er sich daran erinnerte, wie er mit dem Kobold umgesprungen war, hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen. Weitere Kampfgeräusche drangen aus dem benachbarten Haus, das Rücken von schweren Möbeln, unterdrückte Schreie und Grunzer, dazu immer wieder die schrillen hohen Laute, die die Kreatur von sich gab. Hörte es denn niemand? Warum halfen Griselbart nicht die vielen Wesen, die er seine Freunde nannte, zum Beispiel der Werwolf? Aber Tom wusste instinktiv, dass Griselbart dem Ding ganz allein gegenüberstand. Er biss sich auf die Lippen. Sollte er helfen? Ein Laut erregte seine Aufmerksamkeit. Neben den Kampfgeräuschen gab es da noch ein anderes, das nicht recht passen wollte; es war das Winseln und Schaben eines Hundes, der mit den Krallen am Boden wetzte. Es schien aus dem oberen Stockwerk zu kommen. Tom wusste, dass Griselbart dem Angriff nicht lange standhalten konnte. Er vergaß seine Vorsicht und rannte aus dem Zimmer. Draußen schlug ihm kalte Nachtluft entgegen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Die Tür zu Griselbarts Haus war immer noch angelehnt und Tom konnte die Stimme des alten Mannes hören: „VERSCHWINDE! Antipipto! Zu Hilfe! Hört mich denn niemand?“

Alle Warnsignale in den Wind schlagend, dass dies eine Falle sein könnte, rannte Tom zur Tür. Kurz vor der Treppe nahm das Schaben und Kratzen des Hundes einen Stockwerk weiter oben weiter zu und Tom fasste kurzerhand einen Entschluss. So leise wie möglich und mit wild klopfendem Herzen verschaffte er sich Zutritt ins Haus, dann wandte er sich nicht in Richtung Küche, wo der Kampflärm ertönte, sondern nach rechts, wo eine zweite Treppe lag. Um Griselbart stand es offensichtlich schlecht, seine Schreie hatten sich in schwache Ächzer verwandelt, während das ihn angreifende Wesen immer noch unerträglich hoch und schrill kreischte. Tom spurtete nach oben und gelangte in ein Zimmer, das merklich kühler war als der Flur. In einem Käfig lauerte ein Wesen, das Tom nur schemenhaft sehen konnte, aber er spürte anhand der Kälte und dem Flimmern, das in der Luft lag, dass auch dieses magisch war. Ohne zu überlegen, ging er vor dem Käfig in die Knie und schob den Riegel zur Seite. Zweimal verhakte er sich, ehe das Schloss mit einem Quietschen aufsprang. Das Geschöpf im Käfiginneren hielt sich nicht mit ihm auf, sondern raste die Treppe hinunter, so schnell, dass es zu verschwimmen schien, um seinem Herrn zu Hilfe zu eilen. Tom beeilte sich hinterherzukommen, doch mit dem Vierbeiner konnte er nicht mithalten. Er hörte das Wesen, mit dem Griselbart kämpfte, schreien, diesmal aus Angst und dann, gerade als Tom am oberen Treppenabsatz ankam, floh es Hals über Kopf aus der Haustür. Sein Anblick aus der Nähe war fürchterlich. Jetzt konnte Tom sehen, dass der Buckel auf dem Rücken in Wahrheit große, ledrige Schwingen waren und dass der Kopf dem eines Nagers ähnelte, wobei der Mund mit riesigen scharfkantigen Zähnen besetzt war; anstatt Augen prangten nur leere Höhlen im Schädel. Die Fledermaus - denn das schien sie zu sein - sah ihn, wie er da auf der Treppe stand - oder spürte sie nur seine Präsenz? - änderte die Richtung und flog auf ihn zu. Tom starrte in die leeren Höhlen, die, obwohl die Augäpfel fehlten, eine hypnotische Wirkung hatten. Als das Wesen ihn fast erreicht hatte, wandte er schließlich den Blick ab - er musste es tun, das fühlte er.

Als er wieder hinsah, war der Geist verschwunden. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte.

Mit zitternden Knien ging er weiter. Im Flur, der zum letzten Zimmer vor der Veranda führte, lag der heftig schnaufende Griselbart rücklings am Boden. Er blutete aus einer Wunde am Hals und tätschelte schwach das Wesen, das Tom aus seinem Käfig befreit hatte. Es war ein Hund, zumindest hatte es die Gestalt und die Schnauze eines Hundes, doch es wirkte wilder und ungezähmter mit zotteligen Haaren und einem größeren Kopf; auch über seinem Herzen glomm ein helles gelbes Licht. Vielleicht ein Wolfshybrid. Ein unbestimmbares Summen lag in der Luft, bis Tom an seinen Lippenbewegungen erkannte, dass der Hund mit Griselbart kommunizierte und ihm auf seine eigene Weise erzählte, was passiert war. Griselbart wandte den Kopf und sah Tom, wie er unschlüssig am Ende des Ganges stand.

„Tom Winter!“ Seine raue Stimme klang ungläubig. „Xerxes hat mir gesagt, dass du gekommen bist. Ich konnte es nicht glauben.“

Tom ging langsam auf ihn zu. Die Wunde am Hals sah schlimm aus, tief, noch ein wenig später und die riesige Fledermaus hätte ihn geköpft.

„Was war das für ein Ding?“, fragte er leise.

„Das war eine Chipera.“ Ächzend kam Griselbart auf die Füße, Xerxes, der Wolf, half ihm dabei, indem er ihn mit seiner Schnauze stützte.

„Was ist eine Chipera?“, fragte Tom.

„Ein Fledermausgeist. Einer von insgesamt sechs, glücklicherweise einer der schwächeren, und sie dienen allesamt Graf Skelardo.“

Tom konnte mit dieser Information wenig anfangen. „Was können wir gegen Ihre Wunde tun?“

„Ich habe vorerst ein Heilmittel. Es wird nicht genügen, weil die Wunde schwarzmagisch verseucht ist, aber für den Anfang reicht es.“ Griselbart humpelte ins Wohnzimmer, wo er den Geräuschen zufolge eine Schublade öffnete und darin herumkramte. Mit einer Tube in der Hand kehrte er zurück, deren Inhalt, eine grünliche verklumpte Paste, er sich großzügig auf die Wunde strich. Der Blutstrom versiegte augenblicklich und die Haut wuchs glatt zusammen, bis sie aussah wie zuvor.

„Gegen innerliche Verletzungen hilft das natürlich nicht. Thalíng wird das heilen können, Hauptsache, es blutet nicht mehr.“

Tom, der den Heilungsprozess staunend verfolgt hatte, fiel nichts ein außer: „Gut.“

Griselbart seufzte und bedachte ihn mit einem langen Blick. „Die Chipera. Hatte sie Interesse an dir?“

„Sie ist auf mich zugeflogen. Ich habe … “ Er wollte weggeschaut sagen, aber irgendwie klang das in dem Zusammenhang unsinnig und er verstummte.

Griselbart schien ihn auch so zu verstehen. Er seufzte wieder. „Ich hab dir Unrecht getan, nicht wahr? In dir steckt viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.“

Tom wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

„Nimm Platz, ich hole die anderen und dann sehen wir, wie es weitergeht.“ Griselbart hob einen verschnörkelten Stock, den Tom bisher übersehen hatte, von einem Beistelltisch im Flur auf, wobei er murmelte: „Wäre ich an den rangekommen, hätte die Chipera nichts zu lachen gehabt.“ Er zeigte mit dem Stab an die Decke und murmelte die Worte: „Kataneuo.“

Ein rotes Licht brach aus der Spitze des Stabes und schwebte durch die Decke, bevor Tom es erkennen konnte.

„Was ist das?“, fragte er.

„Ein Zeichen, es zeigt die Fahne der ersten Pforte und die Freunde, die es sehen, kommen zu meinem Haus.“

„Leben die alle im Wald?“ Tom spähte aus dem Fenster im Wohnzimmer, ob er Bewegungen ausmachen konnte, aber der Garten lag verlassen und ruhig da.

„Oh nein, nur die Kobolde wohnen im Wald und die Hirsche und manche der Elfen. Die Trolle wohnen im Erdreich hinten bei der Haidmühle, Kuru kommt aus Gründobl ein paar Kilometer weiter, ist für ihn natürlich kein Problem, hierherzukommen, die Waldläufer leben im Felsengebirge bei Zwieselklamm wie auch die Meerjungfrauen, aber die können natürlich nicht kommen … Wegen der Schwänze, du verstehst.“

„Äh …“ Tom schwirrte der Kopf von all den bekannten und unbekannten Namen und Wesensbezeichnungen. Es wunderte ihn, dass Griselbart ihm das alles erzählte. „Was ist die erste Pforte?“

Griselbart lächelte. „Alles zu seiner Zeit, Tom. Ah, da kommen Charlie und Peer.“

In der Tat öffnete sich in diesem Moment die Haustür, Charlie ging voran, Peer folgte mit misstrauischem Blick. „Tom, du bist auch hier?“, sagte er erstaunt.

Zu Toms Überraschung ging hinter den beiden noch ein dritter, ein großer Mann mit Hakennase und braunem Schnurrbart, es war Kunibert Rottint, Charlies Vater. Offenbar wusste er von dem Geheimnis, das Griselbart hütete, vermutlich war er ebenfalls ein Zauberer, dämmerte es Tom. Aber da er als Kultusminister in einem riesigen Institut in München arbeitete, war er ihm immer wie der weltlichste, am wenigsten in Magie verwickelte Mensch in ganz Glöckerlstadt vorgekommen. Kunibert lächelte nicht, als er ihn sah.

„Die Schutzzauber sind schwach geworden, sonst wäre die Chipera nie in der Lage gewesen, durch die Tür zu kommen“, sagte Griselbart seufzend. Mit einem Schwenk seines Stabes räumte er alle zu Boden geworfenen Möbel und Habseligkeiten an ihren ursprünglichen Platz, Putz flog zurück in die Wände und eine zu Bruch gegangene Lampe wurde wieder ganz.

„Eine Chipera war hier?“, sagten Charlie und Kunibert gleichzeitig.

„Ja, sie muss gewusst haben, dass ich gerade alleine im Quartier war, wenn auch nur für ein paar Minuten, bis die Ablösung käme. Ich hatte Glück, dass sie keine Komplizen dabei hatte. Tom hat mich gerettet. Er hat Xerxes rausgelassen.“

Bevor Charlie oder irgendjemand antworten konnte, kamen mehr Gäste an, manche durch die Haustür, manche über die Veranda vorm Wohnzimmer. Zwei Elfen machten den Anfang, Freyda und Thalíng, dann folgte der weiße achtendige Hirsch, der Tom freundlich zublinzelte, als er hereintrottete, wieder der Hippogreif und ebenfalls der Werwolf Kuru. Ein paar der Wesen traten nicht aus den Schatten und nahmen draußen vor der Balkontür Platz. Viele von ihnen, vor allem die nicht aus Wäldern stammenden, reisten mit magischen Verkleidungen und nahmen erst ihre ursprüngliche Gestalt an, wenn sie im Haus waren.

Tom hätte viel zu betrachten gehabt, doch seine Aufmerksamkeit galt dem schneeweißen Hirsch. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er ihn absichtlich in seinen Träumen besuchte, um ihm etwas mitzuteilen, aber immer wenn sie sich in der Realität begegneten, sagte er kein Wort. Der Junge starrte ihn an, wie um ihn durch seine Blicke zum Reden zu bewegen. Dann sprach Kuru und er wandte den Blick ab.

„Warum sind wir hier? Es stinkt verdächtig nach Chipera“, knurrte der Werwolf. Er ging auf allen Vieren, aber überragte auch so alle übrigen Wesen. Dicke Muskelstränge überzogen seine Arme und Beine und seine Pranken sahen aus, als könnten sie LKWs entzweihauen. Dann fiel sein Blick auf Tom und seine Lefzen zogen sich hoch. „Was macht der Mensch hier?“

Tom fragte sich, wie Griselbart dem Blick aus rot glühenden Augen standhalten konnte. „Das stimmt, eine Chipera war hier und sie hätte mich fast erledigt, wäre Tom nicht gekommen, um mir zu helfen.“

Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihe. Thalíng verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. „Er?“

Griselbart hob eine Hand und die anderen verstummten. „Ich habe Tom unterschätzt. Als wir ihn letztes Mal davonjagten, hätte er nie wieder kommen müssen. Aber als er erkannte, dass ich in Gefahr war, vergaß er seinen Stolz und eilte mir zu Hilfe. Ihm verdanken wir es, dass die erste Pforte noch steht.“

Darauf wusste keiner eine Antwort. Alle Blicke waren auf Tom gerichtet und eine unangenehme Hitze kroch ihm übers Gesicht.

„Das mit den Kobolden …“, sagte er langsam. „Das war ein Trick. Um uns loszuwerden.“

Bei seinen Worten schoben sich die beiden recht lebendigen Kobolde aus der hintersten Reihe nach vorn und grinsten ihn an. Über ihren Herzen glühten gesund und munter ein rotes und ein grünes Licht.

„Tut mir leid, wir wollten dich nur verschrecken“, sagte der grün leuchtende mit einem Lächeln, das seine spitzen Zähne entblößte.

„Schon gut“, sagte Tom schwach.

„ICH WEISS, WAS DU VORHAST!“, donnerte der Werwolf plötzlich. Er deutete mit einem krallenbesetzten Finger auf den alten Zauberer. Vor Wut schien er noch größer zu werden. „Das kann nicht dein Ernst sein, Griselbart!“

„Es ist kein Zufall, dass er von unserer Welt erfahren hat, wie vielen Sterblichen gelingt das schon? Kuru, du weißt, wir brauchen Unterstützung, ein jeder von uns hat mit seinen Schutzarbeiten mehr als genug zu tun!“

„Du willst also die ganze Verantwortung in seine Hände legen? Er soll uns vor Graf Skelardo beschützen und König Lokaro heilen?“

„Tom, Peer und Charlie. Überleg doch“, sagte Griselbart, als Kuru und ein paar andere ihn unterbrechen wollten. „Wenn sie sich darum kümmern, kann jeder von uns die Pforte weiter beschützen, und dass die drei fähig sind, haben sie bewiesen, sie sind durch die Hecke gekommen, sie haben uns kennengelernt und Tom hat eine Chipera vertrieben. Er ist Isabellas Sohn!“

„Sie sind schreiend davongelaufen, als sie uns kennengelernt haben! Sie sind ängstliche Schwächlinge! Ich werde das nicht zulassen!“ Der Wolf bebte vor Zorn und er wandte sein zähnegefletschtes Gesicht Tom zu.

„Was hat meine Mutter damit zu tun?“, schaffte der zu fragen, obwohl ihm die Knie zitterten.

Über Griselbarts Gesicht huschte ein nervöses Flackern. „Isabella Winter“, sagte er langsam, „war eine von uns. Alle aus der Zinnober-Familie waren es.“

Tom wollte nach Luft schnappen, widerstand jedoch dem Drang. Seine Mutter war eine Zauberin gewesen. Reginald wusste das nicht. Erklärte das, warum er selbst sich immer unvollständig gefühlt hatte? Fehl am Platz?

„Wie ist sie gestorben?“, fragte er.

Kuru stieß ein lautes Knurren aus. „Wenn du ihm die ganze Geschichte erzählen willst, schlage ich dir vor, ihr trefft euch zu Kaffee und Kuchen, Griselbart! Wir haben dafür keine Zeit.“

Griselbart sagte leise: „Ein ander Mal, Tom.“

„Warum habe ich keine Zauberkraft?“, platzte es aus ihm heraus. „Warum habe ich das nicht geerbt?“

„Zu dieser Frage kommen wir gleich“, sprach jetzt Kunibert Rottint. Charlies Vater, der einige Ähnlichkeit mit dem Magnum-Schauspieler hatte, wirkte ebenso ungeduldig wie Kuru. Tom hatte den Eindruck, dass er ihn nie richtig hatte leiden können.

Griselbart nickte und wandte sich erneut an den Jungen: „Du kennst das nahegelegene Örtchen Bruckwalde, nehme ich an?“

Tom nickte.

„Hör mir gut zu. Im Schloss wohnt ein König, sein Name ist Lokaro, der unser Reich seit geraumer Zeit gerecht regiert. Dieser König liegt im Sterben, seit ihn ein Fluch verwundet hat. Der Anführer der Chiperas, ist der Vampir Graf Skelardo, und er will diese Stunde der Schwäche nutzen, um in Bruckwalde die Herrschaft zu übernehmen. Glöckerlstadt, und zwar, um genau zu sein, dieses Anwesen, ist eine von insgesamt drei Pforten, die nach Bruckwalde führen. Diese will Skelardo nutzen, um zum Schloss zu gelangen und dort die Herrschaft zu übernehmen. Wir setzen natürlich alles daran, ihn an diesem Vorhaben zu hindern.“

Tom starrte ihn an. „Wie kann er aufgehalten werden?“

„Das werde ich dir gerne erklären, aber dazu musst du erst nach Bruckwalde reisen und mit dem Prinzen sprechen. Vorausgesetzt natürlich, du willst uns bei alldem helfen.“ Griselbart sah ihn fragend an.

Tom hatte sich bereits entschieden, dennoch fragte er: „Ansonsten kann ich einfach nach Hause gehen und ihr lasst mich in Ruhe?“

„Seht ihr, er ist zu feige, um uns zu helfen!“, knurrte Kuru.

Der Hippogreif stimmte in sein Schnauben mit ein. Der Hirsch dagegen schüttelte unwillig den Kopf und zeigte so seine Verachtung für die Worte des Werwolfs. Da fiel Tom etwas auf.

„Können nicht alle Tiere sprechen?“, fragte er.

„Was?“ Alle starrten ihn an.

Tom fühlte, wie er rot anlief und beeilte sich zu erklären. „Kuru spricht und die Kobolde tun es auch. Aber der Hippogreif spricht nicht und der Hirsch nur, wenn er mir in meinen Träumen begegnet.“

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Der erste, der sich regte, war Kuru. Er machte einen Satz vorwärts und Tom zuckte zurück, aus Angst, der Angriff wäre für ihn bestimmt. Doch der Wolf stürzte sich auf den weißen Hirsch, der ihn mit einem Schlenker seines Geweihs parierte. Der Wolf taumelte ein paar Schritte zurück und brüllte. Auch der Hippogreif riss den Schnabel auf, kreischte und schlug mit dem Schweif. Der Wolf wollte erneut losstürzen, doch silbernes Licht aus den Geweihenden des Hirschs hielt ihn am Boden fest; es sah aus, als müsste der Wolf gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen. Erst ein roter Strahl, der aus Griselbarts Stab hervorschoss, trennte die Kämpfenden.

„Schämt euch!“, donnerte er. „Ein solcher Aufruhr in der ersten Pforte! Auseinander!“

Die Wesen beäugten einander schwer atmend und bleckten die Zähne.

Griselbart betrachtete den Hirsch und auch er sah missbilligend drein. „Um deine Frage zu beantworten, Tom, sie alle können sprechen. Aber Astos und Kobrat sprechen über Gedanken und auch nur zu denen, die sie verstehen. Und falls du dich wunderst, warum Kuru und Kobrat gerade so wütend wurden-“

„Astos, der Weiße muss sich schon immer über alle Richtlinien hinwegsetzen“, zischte Kuru. „Wenn er Gefallen an dem Menschlein findet, darf er den obersten Kodex einfach außer Acht lassen, der sagt: Halte die Anderswelt geheim!“

Griselbart nickte. „Das ist richtig. Astos hat falsch daran getan, dich in deinen Träumen zu ermuntern, zu uns zu kommen. Es ist ein schweres Vergehen.“

Vielleicht antwortete der Hirsch darauf und Tom konnte es nur nicht hören, denn alle schwiegen für einen Moment.

„Ich verstehe“, sagte Griselbart dann. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.

„Ich will euch helfen“, sagte Tom und drehte sich zu Peer um. „Und du?“

Der nickte. Wenn man bedachte, was er in den letzten Momenten alles gesehen und gehört hatte, sah er relativ gefasst aus. „Ich auch.“

„Was ist mit-?“

„Charlie ist sowieso mit von der Partie. Sie wurde vom obersten Gremium dazu bestimmt, aber für sie allein scheint mir das eine unlösbare Aufgabe zu sein.“

Kunibert machte ein missbilligendes Geräusch. „Nicht, dass sie ihr nicht gewachsen wäre. Aber es wäre mir lieb, meine Tochter in einem Stück wiederzubekommen.“

„Natürlich, Kunibert, das wissen wir, deshalb will ich ihr Tom und Peer zur Seite stellen.“

„Dann müssen wir weg, oder? Raus aus der Schule.“

„Ja, ich denke, diese Angelegenheit ist wichtiger als Schulzensuren“, sagte Kunibert, sah jedoch aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

„Das ist okay“, sagte Tom. „Mein Dad, also Reginald wird das verstehen …“

Peer sagte nichts. Seinen Eltern konnte er nichts über Magie weismachen, sie waren beide Bankangestellte und hatten so viel Fantasie, wie in einen Fingerhut passte.

„Dann bleibt jetzt nur noch eines zu tun“, sagte Griselbart mit bedeutungsschwerer Stimme. Er blickte in die Runde, ein paar Zauberwesen wichen seinem Blick aus, andere nickten, der schneeweiße Hirsch beispielsweise stieß ein ermunterndes Schnauben aus.

„Nicht von mir“, grollte Kuru augenblicklich. „Wenn sie ein Gluthien von mir anfassen, bringe ich sie um!“

Tom Winter und der weiße Hirsch

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