Читать книгу Claras Geschichte - Nieke V. Grafenberg - Страница 10

FÜNF

Оглавление

Kann es sein, fragt sich Clara, dass im Traum, den sie träumt, die Vergangenheit längst als Bildwert festgelegt ist? Kann es sein, dass ihre Vorstellungskraft sich von Anfang an die Bilder ausmalt, die sie am liebsten wiedersehen möchte?

Und wenn es so ist, warum sieht sie, wie sie nach einem Autounfall mit einem Riegel Schokolade auf ihrem Bauch aufwacht? Kann es denn wirklich sein, dass das bisschen Naschwerk, das der englische Tommie als Trostpflaster hinterließ, den Reiz der Erinnerung ausgemacht hat? Oder war es die Mutter, die so offensichtlich erleichtert bei ihrem Kind auf der Bettkante saß? Wie ein Pfeil kam Clara zwischen dem Gasthaus Feldmann und dem Friseursalon aus der engen Passage geflogen. Als das rollende Tarnfarbenmonster sich vor ihr aufbaut, ist alles zu spät - der Aufprall hat Clara bewusstlos gemacht.

Wenn es denn stimmt, dass die Einbildungskraft sich vorwiegend vorgefertigte Bilder aussucht, warum sieht Clara sich dann an einem Geländer aus Eisenstäben turnen - in einer Lagerhalle der Druckerei hat sie mit Horstl in Bergen von Abfallpapier gewühlt.

Auf dem Klo zieht sie Fetzen starken Papiers aus der Schürze über dem Kleid. Faltet sie, bis sie kantig sind und steckt sie sich in die Scheide, weil das Gefühl beim Baumeln und Kippeln ein unbekanntes, ja aufregendes ist.

Wo hat Horstl, fragt sich Clara, falls er dabei mitgemacht hat, sich seine Papierecken hingesteckt? Und was an dem Bild ist dermaßen wertvoll, dass sie, im ganz persönlichen Labyrith, ihm eine Nische eingeräumt hat? Und warum vergisst sie, zu Hause davon zu erzählen? Sagt ihr die innere Eingebung, dass Mutter den Kochlöffel nimmt, wie sie es gern tut, wenn sie sich keinen Rat mehr weiß? Wie damals spürt Clara, dass sie nicht schuldig ist. Sie hört sich jammern und weiß: Kein einziges Mal von den vielen hat sie die Kochlöffelschläge auf Rücken und Hintern verdient.

„Keiner rührt mir das Kind an. Das ist allein Mariechens Sache.“

Großvater braucht nur die Stimme zu heben und niemand wagt sich zu widersetzen. Den Anlass weiß Clara nicht mehr, auch nicht, welcher der Onkel sie züchtigen wollte. Aber Großvaters warnender Blick in die Runde, sein erhobenes Kinn mit den silbernen Stoppeln - das hat sie im Innersten aufbewahrt, es muss sie beeindruckt haben.

Mit fünfzehn soll Claras Mutter die Tochter ein letztes Mal schlagen. Das heißt, sie hat ihren Arm schon zu dem Zweck erhoben, als Clara sie rasch bei den Handgelenken packt und nicht ein Jota nachgibt.

„Hure!“ presst Mutter zwischen den Zähnen hervor, wie eine Furie ist sie im Nachthemd im Wohnzimmer aufgetaucht, nur weil Clara in Neuenhaus mit Klassenkameraden gefeiert hat. Weil es bei Tarner so lustig war und sie im Nebenzimmer zu Schallplatten tanzen durften, hat sie die Zeit vergessen und den einzigen Abendzug verpasst. Hat die drei Kilometer nach Hause verkrampft und im Nieselregen auf einem Moped-Gepäckträger aushalten müssen, was der Dorfpolizist der Mutter gepetzt hat. Doch da ist er ihr wohl zu nahe getreten. Dass er Clara nebst Schulkameraden verwarnt hat, schafft Mutter keine Probleme. Doch als er ihr zu verstehen gibt, dass sie als Witwe besonders achtgeben müsse, damit ihre Tochter nicht auf die schiefe Bahn gerät, hat er sich eindeutig zu weit vorgewagt.

„Kümmern Sie sich um die eigene Tochter!“ will Mutter ihm kurz und bündig beschieden haben - zu Claras verwundertem Stolz und nicht einmal grundlos, denn ist seine Tochter, was Männer angeht, nicht schon seit Monaten Dorfgespräch?

Dass eine Hure sich mit Männern abgibt, ist kein allzu großes Geheimnis, das hat Clara aus Andeutungen Erwachsener aufgeschnappt. Doch was stellt die Hure mit diesen Männern an? Clara hat ihren Onkel Hans zwar das eine Mal mit heruntergelassener Hose, aber nur von hinten gesehen. Sie hegt den vagen Verdacht, dass sich vorn eine Sache befindet, so anders geartet als ihre, dass sie unter allen Umständen unter Bettdecken oder Kleidungsstücken verborgen bleiben muss. Hätte sonst, als sie eingeschult war, die Mutter einer Mitschülerin ganz grundlos verlangt, dass beide Mädchen just dann ihre Augen abwenden, als sie dem Baby-Bruder die Windel aufmacht? Na, und die lieben Freundinnen später? Die sind auch nicht viel besser, feixen nur hinter vorgehaltener Hand. Wie also soll Clara sich ausmalen können, was die von Mutter heraufbeschworene Hure außer tanzen noch treibt? Eine Hure ist eine verdammt schlechte Frau, soviel reimt sich Clara zusammen. Aber was sie darüber hinaus mit Sicherheit weiß: Sie hat allen Grund, beleidigt zu sein, denn was immer die Mutter sich ausmalt, sie hat nur getanzt. Der Abend mit Freunden im Gasthaus ist absolut harmlos gewesen.

Über die geschlechtliche Liebe kann Clara in ihrer Familie so gut wie nichts lernen - das Plätzchen für Sexualität in ihren verschachtelten Kammern ist immerhin eingerichtet, bleibt aber lange verwaist. Nicht einmal versehentlich sieht sie die Großeltern sich berühren, und dass Mutter sie jemals innig umarmt hat, daran glaubt Clara nicht. Und ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemüht, ihre Augen offen zu halten, die Onkel herzen die Liebsten vor anderen nicht.

Und Mutter? Auch später, als Clara erwachsen und, wie sie meint, in der Liebe erfahren ist, gelingt es ihr nicht, sich die eigene Mutter beim Akt vorzustellen. Hin und wieder wird sie sich fragen, wie ihre Mutter überhaupt zu einem Kind gekommen ist, zweifellos hat sie zu dem Zweck die körperliche Liebe nur erduldet. Nummer drei Strich siebenundsechzig im Pensionat, Zucht und Ordnung bei keuschen Nonnen - mit Sicherheit kennt Onkel Hans die Geschichte, die Claras Mutter erzählt, als Mutter und Kind sich einmal sehr nah sind. Bestimmt zieht der Bruder die Schwester auch deswegen auf:

Während draufgängerische Freundinnen nachts tuschelnd und kichernd vom Fensterbrett des gemeinsamen Schlafsaals in die Grünanlagen hopsten, zum Rendezvous mit dem Bösen, hat ihnen Nummer drei Strich siebenundsechzig mit aufgerissenen Haselnussaugen hinterher geschaut. Aus Angst vor der zu erwartenden schrecklichen Strafe, und weil das junge Mariechen nach eigener Aussage weder jemals beherzt noch neugierig war.

Ob Mutters Selbsteinschätzung zutreffend war? Clara zögert, sie muss überlegen. War Mutter ihr wenig beherzt oder gar ängstlich vorgekommen? Nun ja, sie weiß nicht so recht: Immer bei Donner und Blitz stand die Mutter zur Flucht bereit. Während Clara und Großmutter seelenruhig vom Fenster aus dem Gewitter zusahen, raffte Mutter in kürzester Zeit alle wichtigen Unterlagen zusammen. Eine brüchige Reißverschlussmappe mit Heiratsurkunden, Rentenbescheiden und Flüchtlingsausweisen unter den Arm geklemmt, stand sie im Flur auf dem Sprung, bis das Unwetter aus und vorbei war.

Ja, und vor Ämtern hatte sie Angst, erinnert sich Clara. Jeder Gang zum Kreisamt nach Nordhorn, jeder zu stellende Antrag war für Mutter ein Kampf mit sich selbst gewesen. Fuhr sie nun hin oder ließ sie es bleiben? Nicht nachvollziehbare Rentenbescheide, Beihilfen, die sie so dringend benötigten ... Mutter fürchtete noch den kleinsten Beamten. Denn der - das hatte sie die Erfahrung gelehrt - würde erst einmal unfreundlich feststellen, dass ihr Anspruch, auch wenn er rechtmäßig war, zumindest vorerst nicht gelten konnte. Dass erst ein Papier aus dem Polnischen übersetzt, anschließend beglaubigt und später der Antrag noch einmal gestellt werden musste. Und dass Mutter - was sie schon im Vorfeld nicht schlafen ließ - wenn alles komplett und erledigt war, aufs Neue antanzen durfte.

Aber dreizehn Gepäckstücke und ein Kind! Wenn Claras Mutter von jeher ein Hasenfuß war, wie hat sie die Flucht in den Westen geschafft? Wie hat sie es fertig gebracht, aus der Westzone noch einmal schwarz über die Grenze zu machen, wie Großmutter immer betonte? Zurück nach Dresden, wo die Russen längst saßen, um das beim Aufbruch vergessene Stammbuch und andere für den Rentenanspruch unverzichtbare Papiere zu retten?

Mit dreizehn Gepäckstücken auf der Flucht - für Clara unvorstellbar. Hat Mutter den Sportwagen mitgezählt, in dem Clara auf einem Federbett saß? War sie wirklich die vierzehnte Bürde?

„Macht, dass ihr fortkommt“, soll Claras Großvater angeordnet haben. Januar fünfundvierzig, der Monat neigt sich, als Mutter in klirrender Kälte mit Heerscharen anderer zum Flüchtling wird. An den Fluchtweg hat Clara keine Erinnerung, von überquellenden Zügen, von endlosen Fußmärschen ist die Rede. Aber sie sieht sich im Gitterbett stehen - Tante Toni, die Großvaters Schwester und Mutters Patentante ist, nimmt sie in Radebeul auf, sie bleiben bis Mai. Mutters Kusine Anni ist mit ihrem Winfried schon vor ihnen da. Sie hat, hört Clara die Großmutter sprechen, ein paar Tage früher von zu Hause fortgemacht. Wenig später stößt Gitta, die blutjunge Frau von Mutters gefallenem Bruder Josel mit ihren zwei Jungen dazu. Josel von Josef, Horstl von Horst, sein jüngerer Bruder hat Augen wie Sterne und wird, obwohl Lothar getauft, aus unerfindlichen Gründen Seppel genannt. Der Seppel ist dermaßen niedlich, dass Tante Gitta sich manchmal vergisst, sie muss ihn beim Wickeln vor lauter Liebe in beide Pobacken beißen. Doch sie schnappt so fest zu wie ihre Begeisterung groß ist – bis der Kleine ganz bitterlich weint. Die Augen von Claras Mutter glänzen verdächtigt, sie hat es mit ansehen müssen und mit dem Kleinen Mitleid gehabt. Weswegen, glaubt Clara, die Mutter so oft davon spricht wie von ihrem und Großvaters Holzklau im Bentheimer Wald.

Als Gitta in Radebeul eintrifft, ist sie immer noch außer sich, um ein Haar hätte sie ihren Jüngsten verloren. Auf dem Bahnsteig wird Milch für die Kleinsten verteilt, und um etwas davon zu ergattern, ist sie mit Horstl an der Hand aus dem brechend vollen Waggon geklettert. Den Seppel lässt sie derweil in der Obhut der anderen im Abteil zurück. Als der Zug ohne Vorwarnung anfährt und sie sich schreiend an seine Verfolgung macht, lässt einer der Mitflüchtlinge das Fenster herunter und wirft ihr das Bündel von Kind direkt in die Arme.

Ja, Glück gehabt Seppel, die Sippe rückt noch einmal enger zusammen - und wie es aussieht, vertragen sie sich.

Für Clara bleibt vieles lange verschwommen, vor allem die Begriffe Vergewaltigung und Christbaum, der, als sie in Radebeul Zuflucht suchen, keineswegs der Weihnachtsbaum für das friedliche Fest ist. Als Lichterformation fällt so ein Christbaum vom Himmel, erhellt für die Bomber die Ziele. Tante Tonis Mann gibt nicht nach, er treibt Claras Mutter aufs Dach, damit sie sich das Feuerwerk aller Feuerwerke ansieht und die Nacht, in der Dresden in Schutt und Asche gelegt wird und Abertausende den Feuersturm nicht überleben, ihr Leben lang nicht vergisst.

Und immer, wenn nach dem Einmarsch Russen sich blicken lassen, treibt er Frauen und Kinder ins Kellerversteck. Er schärft ihnen ein, in Bedrängnis nur polnisch oder die paar Brocken russisch zu reden, damit die Soldaten denken, dass sie Polen oder Ukrainer und keinesfalls deutsches Freiwild sind.

Trümmer sind immer noch reichlich vorhanden, als Clara - sie muss um die zwölf sein - mit Mutter und Großeltern in die Ostzone darf. Tante Tonis Mann ist gestorben, sie wohnt jedoch noch am selben Fleck. Mit anderen in der ehemals hübschen Villa, wohin Mutter mit Großmutters Unterstützung seit Jahren halbpfundweise Kaffeebohnen und Kilos von Grundnahrungsmitteln schickt. Dazu Medikamente, die dort nicht aufzutreiben sind. Und in der Vorweihnachtszeit die unerlässliche Butter, das Mehl und das Backpulver, das Zitronat, die Mandeln und andere dringend erforderliche Gewürze. Riesenpakete jedes Mal - teure Pakete, beim Einpacken seufzt Claras Mutter. Doch trotz Mutters Seufzern, die heilige Anna legt für die Schwestern Immel, die treue Freundinnen Tante Tonis sind, ein Extrapaket Kaffee und ein Stück Butter mit in den Pappkarton.

Tante Toni und ihre berühmten Dresdner Stollen - auch wenn Clara das Orangeat und das Zitronat in der Kindheit verabscheut, Mutter behauptet, kein anderer bäckt Stollen so köstlich wie sie. Mindestens einer und ein Exemplar mit Rosinen und Mohn stehen pünktlich zum Fest auf dem Kaffeetisch. Dazu eine Holzpyramide mit Schafen und Hirten und mit einem Jesuskind - das strahlt und streckt Clara die Arme entgegen. Drei Stockwerke hoch ist das Kunstwerk aus Tante Tonis Erzgebirge. Drei Könige tragen Geschenke. Sie führen Kamele am Strick und drehen Runde um Runde inmitten von Kerzen, die heißer brennen als der heißeste Wüstenwind - kommen aber nie an.

„In der Ostzone nicht allzu teuer – und leichter zu kriegen als Butter und Obst.“ Dies Mutters Erklärung, als Clara sich wundert, dass Tante Toni so teuere Geschenke macht. „Geld ist genug da, denn irgendwann fing sie an zu verkaufen. Zuerst den Biedermeiersalon. Später das Silber, Besteck für Besteck.“

Im Garten der Villa zieht Tante Toni Gemüse und Obst. Hält ein paar Hühner, die haben gerade den Zieps. Mit einem scharfen Küchenmesser schält Tante Toni die pelzige Haut von der Hühnerzunge.

Sie essen die Eier und Hörnchen mit Quittengelee am eichenen Tisch vor dem Schrank mit dem Wurzelfurnier - später einmal soll er Mutter gehören. Wie der Nähtisch und allerlei Nippes aus Meißen – die besten Stücke schon lange versetzt.

Was Clara sonst noch verinnerlicht hat: Das Karl-May-Museum ist ständig geschlossen, sie pilgert ein paar Mal vergeblich hin.

Das Elbsandsteingebirge, nun ja, eine Pracht! In Slippern mit dünnen Sohlen, wie Clara sie trägt, nur recht und schlecht zu erwandern. Verdrießlich dabei, dass Konrad, der irgendwas mit Maschinen studiert und bei Tante Toni zur Untermiete wohnt, ausschließlich Interesse am Wandern zeigt. Wie hat er nur übersehen können, dass Clara ihm schöne Augen macht!

Claras Geschichte

Подняться наверх