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SECHS

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Wenn Clara was mehr liebt als schwarzweiße Kühe, dann Küchen, die mehr als nur Kochnischen sind.

Die erste Küche mit Bullerofen, mit Ausguck auf rasselnde Panzer und winkende Nachbarn im Haus vis à vis. Die zweite mit Großelternbett und Ohrensessel, in dem der Glatzenkönig Grimms Märchen vorliest. Der eckige Kochherd mit Handlauf – große und kleinere eiserne Ringe sind zu ungleichen Platten zusammengefügt, auf denen die Großmutter fettarme Kost zubereitet. Daneben der Kohlekasten, ein Riesenbrikett lugt daraus hervor.

Fünfundzwanzig mal zehn Zentimeter - woher Onkel August das heute noch weiß? Er fuhr in Salzbergen auf einem Ausbesserungszug, und immer, wenn eine Lok repariert war, fand am folgenden Tag die Probefahrt statt. Dafür wurden Briketts auf den Tender geladen, von denen am nächsten Morgen nicht selten drei Viertel verschwunden waren. Die Bauern, die die Versorgungskantine der Bahn mit Eiern und Speck belieferten, hatten - im Gegenzug - sich im Schutz der Dunkelheit reichlich bedient.

Was die können, kann ich auch, soll Onkel August gedacht haben, und was er im Sinn hatte, hat er dann kurzerhand ausgeführt. Fünfundzwanzig mal zehn Zentimeter - er lässt sich von seiner Schwester die passende kohlschwarze Stofftasche nähen und bringt seither nicht nur sein Verpflegungsdeputat aus Wurst, Margarine und Brot mit heim. Oh nein, an jedem Werktag der Woche schleppt er ein einzelnes Riesenbrikett an, gewaltig genug, einen Tag lang den Herd und die Küche zu heizen.

Links wenn man eintritt der Küchenherd. Im Eck gegenüber das Großelternbett, wo Clara nach Gutdünken schwitzen oder mit Horstl nach Ostereiern suchen muss - mit Großmutters Hilfe deckt er ein Holzauto unter dem Kopfkissen auf. Das Fußende ist scheint’s Claras Revier, was sie dort fand, das weiß sie nicht mehr. Aber an häufig eiternde Mandeln erinnert sie sich, an die Schrecksekunde von nasskalten Wickeln auf glühenden Waden. Und an die Sonnenbrille zum Schutz ihrer Augen bei Masern, obwohl das dem Großelternbett gegenüber liegende Fenster vorsorglich abgedunkelt ist. Ungefilterter Lichteinfall könnte im schlimmsten Fall Claras Sehkraft beeinträchtigen - so oder ähnlich hat sich der Doktor, der Clara das Kinderheim eingebrockt hat, ausgedrückt. Seither zupft Mutter die olle Decke, die sie vor das Fenster gehängt hat, immer aufs Neue ein letztes Mal zurecht.

Wenn Clara die Treppe hinaufstürmt und zwischen Kochherd und Bett die Küchentür aufreißt, sind es zwei, höchstens drei Kinderschritte, bis sie den Esstisch mit seinen vier ungleichen Stühlen erreicht. Wenn die Großmutter nicht an der Herdplatte steht, sitzt sie mit rundem Rücken zur Tür, murmelt ein Gegrüßetseistdumaria nach dem anderen und schmirgelt die Perlen des Rosenkranzes mit ihren Fingerkuppen ab – so lange, bis alle Perlen oval sind.

Oder sie betet das Vaterunser, wie jetzt. Clara mit Zöpfen und Tolle hockt ihr zu Füßen auf einer Ritsche, die Großmutters Fußbank ist. Sie hat die Knie mit den Armen umschlungen und horcht mit zur Seite geneigtem Kopf. Ein Träger des Faltenrocks ist über die eine Schulter geglitten. Im Rockbund steckt eine Kurzarmbluse mit Stehkrägelchen - die selbe, die Clara auf einem Foto trägt, auf dem sie auf Mutters Schoß sitzt. Mutter sieht fremd aus, fällt Clara auf - wohl weil sie dem Fotografen gehorcht hat und ungewohnt breit in die Kamera lächelt. Die weiße Baumwollbluse ganz ohne Schleifen und Rüschen, denn noch schneidert Tante Frieda nicht für Clara, noch stichelt die eigene Mutter die Kindersachen von Hand. Claras Füße stecken in derben Schuhen, ein Schnürschaft umschließt ihre Knöchel. Weiße, von Mutter gestrickte Lochmusterstrümpfe enden unter dem Knie. Nackte Knie, es muss Mai sein, Clara hat ihn als Sonnenmonat in allerbester Erinnerung. Der erste Maitag, stets frühlingshaft warm, ist Stichtag für halbnackte Beine. Immer am ersten Mai darf sie Strumpfhalterleibchen und Wollstrümpfe ablegen. Immer am ersten Mai darf die linde Luft ihre Kniekehlen streicheln, und von da an braucht Clara sich nicht mehr zu kratzen.

Vater unser, der du bist im Himmel ... Clara holt Luft und legt los. Sie plappert die Worte der heiligen Anna nach, wie sie sie wohl tausend Mal gehört hat. Und die Großmutter tauscht einen Blick mit der Tochter, weil das Kind auf der Ritsche anscheinend leicht lernt und jetzt für die Schule gerüstet sein wird, auch wenn das noch fast ein Jahr hin ist.

Ja, es ist Claras Großmutter, die Clara beizeiten eine Reihe von tauglichen Dingen lehrt: Das Häkeln und Stricken zum Beispiel, obwohl Claras Mutter in der Disziplin der Meister ist. Clara kann rechte und linke Maschen stricken und neuerdings Stäbchen häkeln - nur beim Maschen aufnehmen und Wenden am Ende der Reihe greift Großmutter ein, sie kann holprige Ränder nicht leiden.

Desgleichen bringt Großmutter ihr alles bei, was mit Kirche und Beten zu tun hat - bestimmt hat sie nicht allein Claras Schulzeit im Sinn. Frühmesse, Hochamt und Abendandachten ... Denn außer Flüchtling ist Clara katholisch, und abgesehen vom Hochamt am Sonntag besuchen Mutter und Großmutter häufig die Maiandachten - ausschließlich Frauen kauern im Weihraucharoma des halbdunklen Kirchenraums und flehen die Muttergottes um Fürbitte an. Was Clara am meisten zu Herzen geht, sind die Marienlieder, die sie, wie Großmutter sagt, zu Hause gesungen haben. Oberschlesische Maiandachten - Mutters Stimme schwingt sich in unerwartete Höhen: Über die Berge schallt, lieblich durch Flur und Wald, Glöcklein dein Gruß ... Strophe neun und mehr kann sie auswendig singen, Großmutter auch. Und obwohl Großmutter - nunu - mißbilligend ihre Lippen vorstülpt und Mutter sie pufft und gefährlich die Stirn kraust, weil Clara einfach nicht still sitzen kann - sie darf jedes Mal wieder mit.

Je öfter und nachhaltiger ich mich mit Claras Kindheitsgeschichte beschäftige, desto deutlicher wird, dass die Erinnerung nicht nur ein Ort verinnerlichter Bilder, sondern zugleich auch ein Ort voller emotionaler Bruchstücke ist. Ausgerechnet beim Thema Kirchgang drängt eine bestimmte Mütze sich auf. Obwohl, Mützen gehören zu Claras Alltag, fast täglich hat ihre Mutter ein Strickstück in Arbeit. Kurzarmpullover mit Kreuzstickerei auf der Schulterpasse, Trägerröcke, denen erst schmal und dann breiter zulaufende Zöpfe zur A-Form verhelfen, gemusterte Jacken in Norwegertechnik, dazu die passende Mütze. Ja, und die mit vier Klappernadeln gestrickten Strümpfe, je nach Witterung lang oder kurz - Horstl kriegt immer die gleichen. Wie die Großmutter bei der Zubereitung zwangsläufig magerer Speisen, erlangt Claras Mutter im Stricken eine nicht zu leugnende Virtuosität, später soll sie sich noch als hilfreich erweisen. Wie aus dem Nichts entstehen Kunstwerke, die, selbst wenn aus alten Stücken geboren, jedes Mal wieder wie neu erscheinen. Was nicht mehr passt, wird aufgetrennt. Wird mit Hilfe von angewinkeltem Ellbogen und abgespreiztem Daumen zu Strängen gewickelt, anschließend gewaschen und noch feucht über Stuhlrückenlehnen gespannt. Bis die Wolle getrocknet, gestrafft und beinahe wieder jungfräulich ist.

Auf Mutters Geheiß setzt Clara beim Kirchgang am Sonntag die brandneue Mütze auf - ein ausgefallenes, äußerst apartes Stück, zwei prächtige Bommel zieren die linke Schläfe. Eine Mütze in Braun hat Clara zuvor nie besessen. Auch keine mit Bommeln so nahe dem linken Auge. Sie hat mit ansehen können, wie ihre Mutter aprikosenfarbene Wollfäden für den einen und naturweiße für den anderen Bommel über zwei eigens zurecht geschnittene Pappringe gewickelt hat. Und wie nach dem Schlingen aufschneiden und Pappe entfernen flauschige Kugeln entstanden. Wenn Clara die Nase hineindrückt, kitzelt es sie wie der Flaum eines eben getrockneten Kükens.

Mutter gefällt Claras Mütze.

„Setz sie auf, es ist kälter geworden“, sagt sie und nimmt Clara fest bei der Hand.

Auf dem Vorplatz zur Kirche spricht Mutter mit einer Bekannten, während Clara ein wenig abseits steht. Und als stünde es ihr auf die Stirn geschrieben, dass sie sich ihrer Kopfbedeckung nicht sicher ist, löst sich ein Mädchen vom Arm ihrer Mutter und hängt sich, mit einem Juchzen, das über den Kirchplatz hallt, an Claras zwei herrliche Bommel.

Hat Clara die Mütze je wieder getragen? Sie steht wie vom Donner gerührt, weil Mann und Maus auf dem Kirchplatz voll Neugier zu ihr herüber starren.

Claras Geschichte

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