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VIER

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Mutter ist Mutter. Kein Körpergeruch, sie bewegt sich gemessen und schwitzt nicht. Braunes Haar, braune Augen, die, selbst wenn sie lächelt, den Anflug von Schwermut bewahren. Dreiunddreißig Jahre und Elfenbeinhaut, an der Luft wird sie gleichmäßig braun - so rasch, dass Clara sie später beneidet.

Im Gegensatz zu ihren Brüdern soll Claras Mutter zeitlebens den Hang zur Melancholie aufweisen. Als die Zeit dafür reif und Clara bereit ist, in ihre Geschichte einzutauchen, blättert sie Fotoalben durch und bildet sich ein, frühe Anzeichen dafür bereits in Mutters Kinder- und Jugendbildnissen zu entdecken. Die Skepsis in Mutters Augen, ihr - wenn überhaupt - reserviertes Lächeln. Der Gedanke erschreckt sie, und plötzlich scheint Clara begreiflich, dass Mutter ihr Abschlussjahr bei den Nonnen als schönstes und glorreichstes hingestellt hat. Und dass sie, wenn der Bäckergroßvater nicht den Schlussstrich gezogen und die einzige Tochter zurück nach Hause und hinter den Ladentisch beordert hätte, einem Leben im Kloster den Vorzug vor Heirat und Clara gegeben hätte.

„Ja, ja, schon klar - Nummer drei Strich siebenundsechzig im Pensionat“, hört Clara Onkel Hans nicht zum ersten Mal lästern. Ein Poltern hat sie geweckt, betreten muss sie mit ansehen, wie er es mit Mühe zum Schlafsofa schafft. Und wie, als Mutter sein Schwanken Seemannsgang nennt, er blitzschnell die Hose herunter lässt und ihr seinen nackten Arsch präsentiert.

Mutter, geistesgegenwärtig, baut sich vor seiner Kehrseite auf und nimmt Clara damit die Sicht.

„Verdammt noch einmal - musst du immer das ganze Geld versaufen!“

Trotz Feinschliff im Pensionat, vor ihrem elf Jahre jüngeren Bruder nimmt Mutter kein Blatt vor den Mund. Sie sagt handfest verdammt statt verflüscht, wie sonst üblich, nennt ihn einen alten Laberarsch und schimpft lauthals an Großmutters Statt. Denn die ist zugegen, kann aber vor lauter Bestürzung nur ein Stakkato gestammelter Nu nus zustande bringen.

Nummer drei Strich siebenundsechzig ...

Warum, hat sich Clara manchmal gefragt, warum musste der Bruder der Schwester nur ihre Kennnummer an den Kopf werfen und sie vergaß ihre guten Manieren? Fühlte sie sich durch seine Worte gebrandmarkt? Als überkandidelte, weltfremde Zicke, die - in musikalischer Hinsicht nur wenig bis gar nicht begabt - nur stümperhaft das Klavierspiel erlernt, sich aber wer weiß was auf ihre Erziehung zur höheren Tochter einbildet? Fiel ihrer Mutter bei solcher Gelegenheit ein, dass sie trotz Pensionatsdrill den netten Lehrer, in den sie ganz furchtbar verliebt war, nicht abbekam, weil sie als Bäckertochter seiner Mutter nicht passte? Und dass sie sich dann einen Bahnangestellten zum Gatten erkor, der noch vor der Hochzeit arbeitslos wurde? Ihre Eltern hatten sich wenig begeistert von der Verbindung gezeigt, war das Mutters uneingestandener wunder Punkt? Mit Bestimmtheit wird Clara es niemals wissen. Was sie ahnt ist, der Onkel rächt sich auf seine Weise. Er hänselt die Schwester fast ebenso gern, wie er die Geschichte französischer Seidendessous verbreitet.

Trotz Arbeitslosigkeit - den Hang zu Höherem scheint Claras Vater durchaus gehabt zu haben. Ein Vater aus zweiter Hand, Clara kennt ihn nur aus Mutters knappen Schilderungen und von dem gerahmten Hochzeitsbild, dem sie nach Mutters Tod einen Ehrenplatz einräumt. Zur kirchlichen Trauung hatte es unbedingt Frack sein müssen - kostenneutrale Maßarbeit, Mutter lächelt ihr verhaltenes Lächeln. Am Tag nach der kirchlichen Trauung hätte der Vater das gute Stück aufbügeln lassen und eigenhändig zurück zum Schneider gebracht. Hat dort glattweg behauptet, der Frack habe nicht gepasst.

„Ja und einmal, im Kino, hatte er eine Kokosnuss dabei. Hat sie eigenhändig in unserer Loge geöffnet.“

Mit Braut und Kokosnuss in die Kinologe? Ein reichlich befremdlicher Vorgang, wenn es nach Clara geht. Denn hat nicht der Vater ein Werkzeug mit sich führen und auch benutzen müssen? Andererseits: Clara hat Mutter noch nie beim Schwindeln erwischt. Sie wird sich nicht schlüssig, wohl weil ihre Mutter bis auf ein Heben der Brauen nicht eine Miene verzieht: Wer mithörte, amüsierte sich, das war leicht zu erkennen. Aber konnte ein solches Verhalten bewundernswert sein? War es nicht eher als verwerflich zu betrachten? Und überhaupt, was hatte die Mutter mit dem Mann zu tun, der im Kessel von Tarnopol vermisst war!

Vermisst - ein Wort, mit dem Clara keine Vorstellung verbindet. Das Wort Vater ist ihr genauso fremd. Sie spricht es nie aus, sie hat eben keinen. Sie vermisst ihn auch nicht. Auf die Väter anderer Kinder kann sie gleichfalls verzichten. Viel zu streng erscheinen sie ihr, meist unzugänglich und in der Hauptsache mürrisch. Irgendwie unberechenbar, und das kann sie keinesfalls brauchen. Das Kind, das sie war, fühlt aufs Neue: Vater-Geschichten, von Mutter erzählt, bereiten mehr Pein als Vergnügen.

In ihrer Schlichtheit ist Großmutter die Schönste - Clara hat keinen gekannt, der diese Ansicht nicht teilte. Rosige Bäckchen, ganz gleich ob sie aufgelöst ist oder freudig erregt. Das glatte Gesicht einer Puppe, ein Leben lang kommt ihre Haut nur mit Wasser und Kernseife in Berührung. Das zum Dutt gezwirbelte Haar - wenn die Haarnadeln fallen, reicht das Zopfende bis an die Hüfte und weiter. Anna Zahel, geborene Petrach - es verzaubert Clara, als sie erfährt, dass die Großmutter vor ihrer Heirat Köchin im Schloss war. Denn klingt es nicht wie im Märchen, dass noble Gäste nach Festlichkeiten in Großmutters Dachkammer schlichen, um sich klammheimlich an ihrer natürlichen Schönheit zu weiden? Ob sie ahnten, was Großmutter Clara erzählt? Dass sie immer nur vorgab zu schlafen und sich am liebsten ins nächstbeste Mauseloch verkrochen hätte?

Selbst als Clara nach Mutters Tod die bräunlich verfärbte Postkarte findet und sich Großmutters Märchenschloss jäh in ein glanzloses Herrenhaus auf dem Land verwandelt - nichts soll sich ändern, es bleibt dabei: Im kindlichem Traum ist die Großmutter Köchin im Schloss gewesen! Und als Clara bei nächster Gelegenheit nachfragt: Die Mutter der Großmutter auch.

Obwohl jeder in Claras Geschichte weiß, dass ihre Großmutter nicht nur ausnehmend hübsch war sondern auch fabelhaft kochte - kein Bild erschließt Clara, was nach dem Krieg in den Topf gewandert ist. Oder was nicht, weil es fehlte.

Nicht das geringste Gespür für den Bauch - ist sie satt oder ständig hungrig gewesen? Außer der Bäckerei Schevel taucht in Claras Rückschau ein einzelner winziger Laden auf, mit Obst und Gemüse in Steigen. Er liegt jenseits des Kuhm, der ein großer Sandplatz beim Vechtewehr ist, Claras Badeanstalt liegt am Rande. Vor dem Krieg, erfährt Clara, fand auf dem Kuhm der Handelsmarkt statt, für das trauliche schwarzweiße Rindvieh, das erst zwanzig Jahre danach zusammen mit braunweißen Kühen im Schwarzwald und anderswo grast.

Aber auch wenn der Verstand Clara anderes eingibt, in ihrem Herzen sollen schwarzweiße Kühe immer für Grafschaft stehen - so uneingeschränkt wie glänzender Gouda und Windmühlenflügel für das Holland gleich hinter der Grenze oder scheppernde Kuhglocken für die Schweiz.

Bevor Mutter mit Clara den Kuhm überquert und in dem kleinen Obstladen einkauft - hat sie für vierzig Mark Übergangsgeld am Schalter Schlange gestanden? Währungsreform ist das neue Wort und - Clara spürt es - die Tüte voll Pflaumen hat Mutter sich und den anderen vom Mund abgespart. Ein Geburtstagsgeschenk für Gesa, nur wenig älter als sie, Clara und Gesa leben Tür an Tür. Doch sie spielen nicht miteinander, dem Vater des Mädchens gehört die Druckerei, Gesa ist tausendmal reicher als sie.

Mutter zeigt sich verwundert:

„Clara ist doch sonst nicht eingeladen.“

Ein paar Kinder hocken recht still an einem gedeckten Geburtstagstisch. Clara knickst, überreicht voller Stolz ihre Tüte. Und stellt fest, dass niemand hier blaulila Pflaumen mag - keiner würdigt sie eines Blickes.

War Clara ein einsames Kind? Wenn nicht mit Gesa, mit welchen Kindern hat sie am Fluss und beim Wehr gespielt? Außer an Horstl, der ihr Kusin aus Lübeck ist, kann Clara sich nur an Doris erinnern. Aber da ist sie bald sechs und sie haben den Schulweg gemeinsam. Clara mit Affenschaukeln und skeptischer Miene - auf dem Erstklassfoto sitzt eine lächelnde Doris an ihrer Seite und hält wie sie die Hände artig im Schoß verschränkt. Von den achtunddreißig Jungen und Mädchen mag Clara die Doris am liebsten. Sie mag auch die Mutter von Doris. Und Claras Mutter bedauert nach einem Besuch, dass sie so weit auseinander wohnen.

Aber haben Doris und Clara je nach Schulschluss zusammen gespielt? Haben sie Schmetterlinge gejagt und Steine in den Fluss geworfen, wie Clara es immer mit Horstl tut? Sind sie gemeinsam auf Heuhaufen geklettert und bei Glatteis über tosende Wehrgräben gesprungen, was äußerst gefährlich war? Clara weiß nur, dass der Horstl am Kopf operiert ist und lange in Hamburg im Krankenhaus lag. Und dass er aus dem Grund nicht ganz so schnell rennt. Doch er spielt ihre wilden Spiele, sie sind fast gleich alt. Von dem Tag, an dem er das erste von mehreren Malen nach Schüttorf kommt, hat Clara ihn in ihrem Schlepptau als sei er ihr Schatten oder ihr zweites Ich.

Wenn Horstl zu der Zeit nicht anwesend war und Clara noch nicht in der Schule, wer war es, der sie am Schürzenbändel aus der Vechte zieht und vor dem Ertrinken rettet? Ein Mädchen wie sie, das steht fest. Es steht auf den Sandsteinstufen, die unter der uralten Weide zum Flussbett hinunter führen. Die letzte Stufe aalglatt, hier ist Clara ins Rutschen gekommen. Sie sieht einen Schuh auf dem Wasser schwimmen und greift nach der helfenden Kinderhand. Wie ein mit Nadeln fixiertes Insekt hat sie flach auf dem Wasser gelegen, ist tropfnass über den Mühlplatz zum Haus und den zugigen Hausflur entlang die Treppe hinauf in Großmutters Küche gerannt und ... nu nu, Kind, komm her!

Als sei alles erst gestern gewesen: Die Großmutter packt sie ins Badetuch ein und steckt sie ins Großelternbett. Stopft die Zudecke fest und bewacht Claras Schlaf, bis endlich die Mutter von da, wo sie hin ist, zurückgekehrt ist.

Jetzt könnte man meinen, dass das, wovon ich als nächstes berichte, die logische Folge des Flussunfalls ist. Doch Clara weiß wenig von Logik - es wundert sie nicht, dass sie sich jetzt täglich im Nichtschwimmerbecken der Badeanstalt wiederfindet. Der Bademeister schließt ihr den Korkgürtel zu wie Mutter das Strumpfhalterleibchen, an dem in der kälteren Jahreszeit die beißenden Wollstrümpfe angeknöpft sind. Claras Mutter sitzt auf einer Bank in der Nähe des Beckenrands und passt auf. Sie ist mit dem Strickzeug beschäftigt und hebt ab und zu ihren Kopf, um zu sehen, ob Clara Fortschritte macht. Mutter hat Onkel Hans um Unterstützung gebeten, er und die Brüder schwimmen wie Fische, während sie selbst gern am Beckenrand bleibt. Onkel Hans holt Clara ins Schwimmerbecken - damit sie nicht absäuft, stützt er ihren Bauch mit der Hand. Er hat jedoch wenig Geduld mit dem Kind, würde wohl viel lieber hauchzarte Wäsche auswaschen. Aber die Zeit der Seidendessous ist unwiderruflich vorbei, er hat Straßburg verlassen und wohnt jetzt mit ihnen über der Druckerei.

Im Winter folgt Paul ihm aus Straubing nach, auch er durfte gehen und stellt ab sofort keine Tabakwaren mehr her. Jetzt blicken drei Brüder im selben Schlafraum durchs Dach auf die selben Sterne. Onkel Paul ist geduldig mit Clara. Manchmal formt er ihr Störche und Hasen aus Stanniolpapier, manchmal ritzt er auch Tulpen und Sonnenblumen in die Innenwand leerer Zigarettenschachteln. Und ist das Kunstwerk vollbracht, hebt er mit dem Federmesser, das sonst keiner hat, Blüten und Blätter so kunstgerecht an, dass sie plastisch erscheinen.

Doch das Wichtigste ist: Clara kann schwimmen, bevor sie mit knapp sechs Jahren in die Katholische Volksschule hinter dem Kuhm kommt. Zu Fräulein Rösner, die, wie Großmutter auch, ihre Haartracht zum Nackendutt zwirbelt - aber eindeutig weniger Haare hat.

Claras Geschichte

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