Читать книгу Die Sonnenanbeterin - Nieke V. Grafenberg - Страница 5
EINS
ОглавлениеIch hatte nicht darum gebeten.
Meine Erinnerung an einen fernen Sommer in den Bergen wird heute morgen unvermutet aufgefrischt.
Sanne hat Ferien und die Post hereingeholt.
Ich spüre, wie sie zögert, und wende mich um. Zwischen uns, doppelt verschnürt, liegt der Karton mit den fremden Marken. Mein Name steht drauf.
Ich habe die Hände im Spülwasser. Trotzdem weigert sie sich, das Päckchen für mich zu öffnen. Nach einem zweiten Blick auf den Absender schüttelt sie abwehrend den Kopf, zurrt ihr Haargummi fest, läuft die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Schließt deutlich hörbar die Türe.
Unwillig trockne ich die Hände, zerschneide die Schnüre.
Seidenpapier knistert unter meinen Fingern, leuchtet rein wie frisch gefallener Schnee. Ein Umschlag liegt mit in der Schachtel - Kartengruß des Hauses und Dank für den Feriengast, den wir einmal empfohlen haben.
Ein feuchter Film legt sich auf meine bloßen Arme, ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Ich will es schnell hinter mich bringen, reiße die schützende Umhüllung auf, hebe den Inhalt sorgsam heraus.
Nun liegt es auf meiner flachen Hand - das Geschenk des Hotels.
Die Kuppel ist eine drückende Last. Dickes Glas wölbt sich über dem Raum, in dem sich ein einzelnes Haus befindet. Zögernd bringe ich die gläserne Zelle in Augenhöhe. Mein Herz macht einen Sprung.
Geborgen in der Form ruht der Scheunenhof .
Wetterabweisend und Zuflucht bietend breitet das schiefergedeckte Dach seine Fittiche über Balkone und Außenmauern - allzeit gerüstet, wie es mir scheint, für die Schneemassen künftiger Winter.
Der Scheunenhof war mein Lieblingshotel.
Abbild und Wirklichkeit gleichen sich.
Rund ums Haus Blumen. Hängende Blütenwunder in den Kästen der Balkonbrüstung.
Ich trage die Schneekugel hinauf in mein Reich, spüre das glatte Glas in der Hand, fahre die Wölbung mit dem Finger nach, schließe die Augen und tauche ein in eine andere Zeit.
Mein Herz fängt unkontrolliert an zu pochen.
Tränen des Schmerzes drängen heraus.
Bis dahin kamen wir jedes Jahr - waren dort glücklich.
Bis das Unfassbare geschah.
Mit der einen, die dachte, sie könne die Puppen tanzen lassen. Die die Gunst der Stunde zu nutzen verstand.
Und mit der anderen, die die Gefahr nicht witterte. Die sich ahnungslos selbst eine Falle stellte.
Die hineintappte.
Wir waren allesamt gute Freunde, die herauswollten.
Heraus aus dem unerträglich heißen Sommer der Ebenen.
Hinein in die luftigen Höhen der Berge.
Wo man wieder schlafen konnte. Ruhe und Erholung fand.
Damals.
Nach den Ereignissen gab es ein Gesetz. Eins, das nie jemand niederschrieb: Wir sprachen einfach nicht mehr darüber. Versuchten, was passiert war, aus dem Gedächtnis zu streichen. Und doch - es ist geschehen. An demselben Ort, den ich jetzt in den Händen halte.
Ich kann nicht widerstehen, meine Finger fassen und kippen die gläserne Halbkugel.
Die Welt steht Kopf.
Dichtes Schneegestöber aus wirbelnden Flocken. Sacht breitet sich ein flimmerndes Leintuch aus. Deckt lautlos alles zu.
Mitten im Sommer.
Es ist wie damals. Allein ... die Kuppel war ein gläserner Sarg. Ich versinke in Erinnerungen, spüre das Grauen so frisch, als sei alles erst gestern passiert.
Mit einem Sarg fing der Urlaub an.
Vor dem Hotel - genau an der Stelle, wo heute noch die weiß lackierten, in Betonringe eingelassenen Stangen stehen, mit den weißen Kettengliedern dazwischen und dem breiten Durchgang für Fußgänger - genau dort wurde eine längliche Kiste transportiert.
Zu dem dezent lackierten Kastenwagen, der mit geöffneten Hecktüren bereitstand und den Haupteingang zum Hotel blockierte.
Grüppchen von Hausgästen standen in der Nähe, lauerten, wisperten, rührten sich nicht vom Fleck.
Anzüge korrekt wie Uniformen, die Männer darin kannten sich aus. Flüssig, ruhig, tatkräftig luden sie das auffällige Behältnis in das wartende Auto, schlossen die Flügeltüren und fuhren in engem Bogen über den nahegelegenen Hotelparkplatz auf die Durchgangsstraße.
Später hätte ich nicht sagen können, wie lange alles dauerte. Es ging rasch, und doch prägte die Szene sich wie in Zeitlupe ein: der Sarg, die bedächtigen Bewegungen, die düstere Innenverkleidung des Kastenwagens, die sich dumpf tönend schließenden Türen. Bilder und Gesten blieben auf der Netzhaut, sollten tief ins Bewusstsein dringen, auch wenn ich mir sagte, das alles ging mich nichts an.
Das war der Tag der Anreise in unsere langjährige Sommerfrische im Hochgebirge, zu der wir wohl niemals zurückkehren werden. So wie Mutter kaum jemals zu ihrer zurückkehren wird, wenn auch aus anderen Gründen.