Читать книгу Die Sonnenanbeterin - Nieke V. Grafenberg - Страница 6

ZWEI

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„Lena, mach zu, wolltet ihr nicht frühzeitig los?“

Grundsätzlich ist Ulli ein bedächtiger Mann, aber jetzt, auf der Schwelle zum Wachsein, bohrten seine Worte sich schmerzhaft in mein Ohr. Durch den Spalt in der Schlafzimmertür drang der metallische Geruch von eingebranntem Kaffee. In der Küche hörte ich Rieke ihre jüngere Schwester beim Tischdecken dirigieren.

An diesem Morgen fiel es mir ungewohnt schwer aufzustehen. Verschlafen rappelte ich mich auf und öffnete die Fensterläden. Nach mehr als einer Woche wunderbar kühler Nächte, nach Tagen außergewöhnlich trockener Hitze sah die Welt trüb aus am Morgen der Abreise. Sechs Uhr früh und schon lastende Schwüle.

Eine feuchte Strähne klebte an meiner Schläfe, Haarspitzen juckten im Auge. Ich strich sie weg, wankte in die Küche und unterdrückte erfolglos ein Gähnen. Dachte reuevoll zurück an die gute Flasche Wein kurz vor Mitternacht.

Ulli war nichts von unserer kleinen Abschiedsfeier anzumerken. Er war seit dem ersten Spatzentschilper auf den Beinen, holte gerade ein Stück Butter aus dem Kühlschrank und schnitt konzentriert frisches Brot in Scheiben.

„Verflixt!“

Das Brotmesser landete auf dem Fußboden, er hielt sich die Hand, jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen. Dafür tropfte es stetig vom abgespreizten Zeigefinger. Angestrengt suchten seine Augen nach einem Fixpunkt außerhalb des Geschehens.

Rieke und Sanne waren mit einem Schlag hellwach, kamen gleich mit dem Verbandszeug angelaufen. Rieke wischte hastig die Blutspuren von Knie und Fußboden, ihr besorgter Blick blieb an seinem blutleeren Gesicht hängen. Während der Finger noch verpflastert wurde, zupfte sie ihren Vater aufmunternd am graumelierten Bart:

„Halt dich senkrecht, Papa, du bleibst am Leben! Kannst ruhig wieder herschauen.“

Nach dieser Verzögerung setzten wir eilig und ohne großen Appetit unser Frühstück fort - ganz wie es sich bei einem frühmorgendlichen Aufbruch in die Ferien gehörte.

Ulli beschäftigte sich derweil in der Küchenzeile, setzte dabei die Brille ab und auf, rieb Steg und Nasenwurzel trocken. Hin und wieder beugte und streckte er selbstvergessen den stramm verpflasterten Finger, oder er griff zum Küchenhandtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Hemd hatte hässliche, feuchte Flecken. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, handelte ich mir einen verständnislosen Blick ein. Wer außer ihm war in aller Herrgottsfrühe zum Bäcker geradelt, um für uns knusprige Brötchen zu holen?

Er selbst aß nichts, richtete nur den überreichlichen Reiseproviant. Ob belegte Brote oder Obst - an jeden Geschmack war gedacht. Landjäger gab es noch extra für überraschend auftretende Engpässe in der leiblichen Versorgung. Ich sah ihm zu und überlegte: Wir hatten nicht vor, auf einem Rastplatz zu übernachten. Sollte ich zart darauf hinweisen? Manchmal allerdings war er arg empfindlich. Meinte es doch wie immer so gut!

Dabei kam er vorerst gar nicht mit, er wollte uns nur treusorgend auf den Weg helfen. Wollte seiner Familie die Bahn ebnen für einen wunderbaren Urlaub. Dass es einmal unerwartet anders sein, dass das Gegenteil eintreten könnte, das war nicht eingeplant, daran hat keiner von uns geglaubt.

Ein Blick aus dem Fenster verhieß nichts Gutes. Schmierig-schwärzliche Wolkenmauern richteten sich am westlichen Horizont auf, kamen nicht recht voran, türmten sich übereinander. Ich hörte ein saftloses Grollen weit weg und trieb die Kinder zum Aufbruch.

Wenn wir uns sputeten, hatten wir vielleicht eine Chance.

Wir würden dem Unheil vorauseilen.

Am Vorabend hatte Ulli schon einmal geschwitzt: Als er das Gepäck im Kofferraum verstaut hatte.

„Ihr habt wohl wieder mal nichts zu Hause gelassen!“

Wieder mal - die Bemerkung war längst Ritual. Hätte sie gefehlt, wir hätten mit Sicherheit etwas vermisst. Insgeheim aber gab ich ihm Recht. Wir gaben uns Mühe, konnten uns aber einfach nicht beschränken. Schließlich fuhren wir in die Berge, mussten für alle Wetter gerüstet sein.

Der Kofferraum klaffte randvoll mit Gepäckstücken, ineinandergreifend verstaut wie ein Puzzle. Obenauf standen Klappkörbe mit wettererprobten Anoraks, abgetragenen Wanderschuhen, Badezeug - alles gnädig zugedeckt von einem dicken dunkelgrünen Veloursbademantel in behaglicher Übergröße, marineblau gestreift und fadenscheinig an den Kanten - Lieblingskleidungsstück der ganzen Familie.

„Das ist mein Bademantel !“

Ullis milder Protest war fruchtlos geblieben, sein Langmut wurde schamlos ausgenutzt. Ob Nässe oder Kälte, körperlicher oder seelischer Schmerz - man konnte sich so herrlich darin einmummeln!

Ulli würde also später nachkommen. Er hatte noch in der Toskana zu tun. Eine Contessa in Florenz zog in Erwägung, die Fächersammlung ihrer Ahnen zur Versteigerung freizugeben. Bestimmt konnte er viel Geld verdienen!

„Ein paar Tage ... na gut.“

Sanne nahm kein Blatt vor den Mund:

„Hauptsache, sie kratzt nicht vorzeitig ab, dann ist das Geschäft im Eimer!“

So kam es, dass wir allein unterwegs waren.

Unterwegs zu dem Ort, der so gar nichts vom Charme eines heimeligen Chaletdorfes hat, wie ich es liebe.

Das weißgekalkte Berghotel am nördlichen Seezipfel steht viel zu nah an der Durchgangsstraße. Gegenüber drängen sich ein paar bescheidenere Gasthöfe und zwei Andenkenläden. Mittendrin eine Bank mit dem Hinweisschild Geldautomat .

Ein Edelsteingeschäft.

Von der holzverschlagähnlichen Talstation schlängelt sich ein Sessellift zur Panoramahütte . Seine starr aufstrebenden Masten verschandeln die sanfte Almenlandschaft und beleidigen sommers das Auge.

Oberhalb des Ortes ein meist verlassener Tennisplatz.

„Mama, pass auf - wenn du so weiter machst, kommen wir nie an!“

Riekes Aufschrei kurz vor dem Ziel riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Wir waren am happigsten Steilstück der Zufahrtsstraße zum Ort angelangt. Noch heute klingt mir das nervtötende Geräusch in den Ohren, als ich den ersten Gang nicht schalten konnte, ängstlich auf die Bremse stieg und damit den Motor abwürgte. Und dann, in der Hektik, fiel mir nichts mehr ein! Unaufhaltsam rollten wir rückwärts den Hang hinunter. Panik brach aus, bis die lädierte Handbremse fasste.

Hinter uns das höhnische Gehupe der Überholenden, bis endlich ein neuer Start gelang.

In der Linkskurve beim Dorfeingangsschild fiel mir wie jedes Jahr ein:

„Der erste Eindruck ist wie immer nicht überwältigend. Nur gut, dass uns der Ort empfohlen wurde! Auf mehr als einen Kaffee wäre ich sonst bestimmt nicht geblieben!“

Unser Anreisetag war noch trügerisch warm. Der bedrohliche Himmel war uns gefolgt, kam mit düsterer Wolkenwand näher.

Ich nahm die Sonnenbrille von der Nase, setzte sie aber gleich wieder auf. Vor uns lag es, am Ende des Sees, in ener lockend hellen Lichtsäule, die mir die Tränen in die Augen trieb - unser Hotel.

Der Scheunenhof.

Unsere langjährige Sommerfrische.

Aus der Entfernung hatten wir unverstellte Sicht auf die Nordseite der Anlage. Dort liegen Wasserbecken, Bootsanleger und Zirbensauna geborgen zwischen schützenden Gebäudearmen. Noch herrschte reger Badebetrieb auf den Rasenterrassen. Ein grünweißes Tretboot leuchtete auf, löste sich vom Ufer, strebte lautlos zur Mitte des Sees.

Erst als wir die Einfahrt zum Hotelparkplatz passierten, schloss ein Wolkenfetzen die heitere Himmelslücke.

Wir waren da.

Ich muss dem Haus zugute halten: Es hat sich gewehrt und den Kampf für sich entschieden. Auch dem tatendurstigsten aller Architekten war es nicht gelungen, seinen ursprünglichen Charme zu zerstören.

Wie immer schweifte mein erster Blick über Wohlvertrautes, fiel danach auf den neuesten Anbau - einen vierstöckigen, der Westseite horstähnlich angeklebten Gebäudeteil. Sein mehrfach versetztes Satteldach scheint über dem gläsernen Halbrund des vorgebauten Ruhepavillons zu schweben. Balkone und Dachgauben versprechen himmlischen Ausblick auf das Bergpanorama.

Ein Fahrstuhl fährt bis zum obersten Nest - zum wahrhaftigen Adlerhorst .

Dorthin, wo Vera ihr Zimmer hatte.

Mühelos passt dieser Wohnturm sich den behäbigen Fensterläden und traditionell verarbeiteten Holzverkleidungen der Galerien im alten Mittelteil an. Dort stützten sich Hausgäste auf die Brüstung, genossen den Ausblick auf das tragische Geschehen vor dem Haus.

Und auf das Panorama.

Darunter, zu ebener Erde, lugt vorwitzig das durch hohe Fenster transparent gehaltene Sonnencafé hervor - rechts und links gerahmt von den weißen Sitzgruppen und gelben Schirmen der Schönwetter-Außenterrasse.

Nur, dass kein schönes Wetter war.

Aber das konnte sich ganz schnell ändern. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen ab und zu nährten die Hoffnung, wie gewohnt nach dem Frühstück draußen sitzen zu können. Es war der günstigste Platz - war Ausguck auf Anreisende, Abreisende, agile und erschöpfte Wanderer, Liebespaare, schräge Vögel.

Und auf den Abtransport eines Sarges.

Langeweile kam hier nicht auf.

Das nach Süden blickende Haupthaus ist Kernstück des Scheunenhof . Es birgt den geschäftigen Eingangsbereich mit Kaminhalle und Empfang, der bei kühlerem Wetter eine ähnlich kurzweilige Funktion innehat wie die Schönwetterterrasse. Unverschnörkelt hochgezogen, unterbricht dieser gelblich verputzte Vorbau die lange Front der Balkongalerie. Die setzt sich nach Osten hin fort, um nach wenigen Metern mit dem gesamten Gebäudeteil dahin abzuknicken, wo das Seeufer unzugänglich ist und wir der Ruhe wegen so gerne wohnen. Wie schon in den Vorjahren war eines der vorderen Galeriezimmer für Jana und Thomas und die Hunde reserviert.

Blickfang vor dem Eingang sind jedes Jahr wieder geschickt platzierte, paarweise nickende Fuchsienbäumchen, blau-weiß unterpflanzt oder gelb, in stattlichen Kübeln. Zwei weiß gestrichene Holzbänke sind heißbegehrter Platz an der Sonne vor der wärmespendenden, windgeschützten Hausmauer.

Allerorts besonnene Staudenvielfalt in gemulchten Beeten. Dazwischen besänftigendes Grün.

Das war der Ort des Geschehens.

Der Ort, an dem gerade ein Sarg weggeschafft wurde.

„Wer mag das sein? Ob wir die wohl kennen?“

Ungestüm kurbelte Sanne das Seitenfenster herunter, während ich noch zögerlich die Gepäckentladezone vor dem Haupteingang ansteuerte.

Herr Leo, Restaurantleiter, Oberkellner und Sommelier in einer Person, war schon zur Stelle. Bestimmt, aber taktvoll, wiegelte er unangebrachte Fragen von Zaungästen ab, wies herumlungerndes Personal auf ihre Plätze und stand, wie üblich, für alle Eventualitäten auf dem Sprung.

Eigenartig fing dieser Urlaub an. So etwas war nie zuvor dagewesen. Im Geiste sah ich Ulli schicksalsergeben die Schultern heben, sah ihn den Sitz seiner Brille korrigieren, blickte in vergrößerte Augen hinter starken Gläsern und hörte ihn sagen:

„Einmal ist immer das erste Mal.“

Rieke war längst aus dem Auto geklettert und zu Johanna gelaufen, die in Wanderkleidung bei einer aufgescheucht wirkenden Gästegruppe stand.

Sie war Patentante und schon am Vortag angereist.

Dem Anlass entsprechend strahlte sie nur gedämpfte Wiedersehensfreude aus, doch pure Neugier blitzte aus ihren Augen, als sie den Kopf ins Auto steckte. Mit ausdrucksloser Miene raunte sie uns zu:

„Noch weiß keiner so richtig, was los ist. Aber verlasst euch darauf - bis ihr ausgepackt habt, bin ich auf alle Fälle informiert!“

Der Riemen meiner Handtasche lugte unter einem Berg von Windjacken hervor. Ich zog sie heraus und stieg aus.

Wie alle Sommer nahm ich mir vor, jeden einzelnen Urlaubstag so gründlich wie möglich auszukosten.

Auch wenn dieser erste nichts Gutes verhieß.

Die Sonnenanbeterin

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