Читать книгу Die Sonnenanbeterin - Nieke V. Grafenberg - Страница 8
VIER
ОглавлениеZu Hause unser Haus steht seitenverkehrt.
Im Wohnzimmer halte ich mich selten auf. Es ist nach Norden gerichtet und ab mittags schummrig.
Ullis Büro liegt der Sonne zugewandt.
Dort führe ich Telefonate, erledige eiligen Schriftkram an seinem PC, wenn er, wie so häufig, verreisen muss.
Dort halte ich seine Geschäfte am Laufen, bin ohne große Begeisterung seine Sekretärin und Mädchen für alles.
Ein Zimmer im oberen Stockwerk ist meine persönliche Zuflucht. Die Möbel darin gehören schon immer zum Raum. Großmutter hat sie mir mit dem Haus vererbt.
Hier stöhnen die alten Balken der Schräge, die krummen Dielen knarren bei jedem Tritt.
Hier verbringe ich die wenigen freien Nachmittage, schreibe, lese, nähe lose baumelnde Knöpfe an oder hänge meinen Gedanken nach.
Hier machen die Kinder ihre Stippvisiten, lassen sich mit einem Kaffee oder Tee auf dem kleinen, abgeschabten Sofa mit den hohen Lehnen nieder und schauen, ob alles seine Ordnung hat.
Erzählen neue Geschichten oder kramen alte aus.
Meiden nach wie vor geflissentlich das Thema Sommerfrische und die damit verbundene Erinnerung an schmerzliche Ereignisse, die ein Blick in die Schneekugel so lebhaft wachrufen kann.
Gedankenverloren befühle ich das kalte Glas in meinen Händen. Auch wenn ich die Augen geschlossen halte, ich sehe den Sturzflug des Adlers, blicke in helle Wolfsaugen bar jeden Hintergrunds. Ich höre Murmeltiere pfeifen, lausche den heiseren Schreien der Alpendohlen und rieche wieder den Schnee.
Zur Unzeit, denn bei uns in der Ebene ist der Frühling angebrochen. Die Bäume auf den Streuobstwiesen ringsum sind zum Leben erwacht, sind überschäumt mit weißen Blüten. Hier und da ein rosa Tupfer.
Eine frühe Hummel taumelt schläfrig an der aufgesperrten Balkontür vorbei, folgt brummend der Duftspur des Flieders.
Den Schnabel voll erdiger Würmer schaut das Amselmännchen mich zaudernd an, hüpft dann in den Efeu, das brütende Weibchen zu füttern.
Die Luft ist ganz weich, doch ich weiß, ich täusche mich nicht – ich rieche den Schnee in der Schneekugel und den eines längst vergangenen Sommers.
Die Kugel erhält ihren Platz auf dem Aufsatz des Schreibsekretärs.
Denkmal für schlummernde Erinnerungen.
Der Cocktailabend liegt lange zurück, doch ich entsinne mich gut. Oben im Zimmer unterwarf ich das, was der Garderobenspiegel in seiner Unbestechlichkeit zurückwarf, einer kritischen Musterung. Es war das müde, dunkle Gesicht einer kurzhaarigen Siamkatze mit spitzem Kinn und schräggestellten Augen auf dem nur teilweise sichtbaren Körper einer wuselig-molligen Perserkatze.
Ich war nicht stolz auf mein Aussehen, Großmutters überlieferter Ausspruch von eindeutig entarteter Familienkunst fiel mir ein.
„Wo habt ihr die denn aufgetrieben?“ hatte sie entgeistert gefragt. „Die schlägt ja total aus der Familie!“
Erst als Sanne geboren wurde, traf diese Bemerkung nicht mehr den Kern. Jetzt gab es zwei von der Sorte. Wir sind die Exoten in einer hochgewachsenen, milchhäutigen Familie mit hellen Wimpern und Sommersprossen: mittelgroß, glatte braune Haare im Überfluss, brünetter Teint, graugrüne Augen unter zu dichten Brauen. Das Wort Sonnenbrand ist ein Fremdwort für uns.
Nach einem zweiten Blick in den Spiegel musste ich mir eingestehen, ich sah reichlich zerknittert aus. Das sollte nicht sein. Im Hotel ging es leger zu, man kannte uns, ich wollte aber trotzdem keinen unvorteilhaften Eindruck machen. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Bis zum Cocktail blieb eine knappe Stunde für die oberflächliche Überholung von Kleidung, Körper und Seele. Das musste reichen.
Der hoteleigene Bademantel am Türhaken war für einen Riesen. Ich wickelte mich hinein und lief los. Schwimmen, saunieren oder faulenzen, wonach stand mir der Sinn? Auf meinem Weg in die Badelandschaft entschied ich mich für Zirbensauna und Tauchbad im See. Das würde am besten entknittern.
In der Zirbenhütte war mein Lieblingsplatz mit Ausguck besetzt. In dem winzigen Saunaraum herrschte drangvolle Enge. Bis ein Pärchen sich den Weg nach draußen bahnte.
Wenig später Unruhe im Vorraum. Ein Augenpaar linste durch das kleine Fensterchen, die Tür schwang auf. Ängstlich Berührung vermeidend, schlängelte Bärlein sich durch schwitzende Leiber auf die höchste und heißeste Saunabank. Von dort aus grüßte er mit freundlicher Zurückhaltung in die Runde.
Schließlich war man ja nackt.
Gleich darauf deutlich trommelnde Geräusche auf dem Hüttendach.
Ein gereckter Hals und der Blick durch das niedrige Sprossenfenster bestätigten mir, es regnete.
Pralle Tropfen klatschten auf die Oberfläche des Sees, schienen einen Atemzug lang zu zögern - bis sie eintauchten, ringförmig auseinanderliefen und für einen flüchtigen Moment die Weite des Sees mit verschwimmenden Mustern verknüpften.
Der Zauber verflüchtigte sich ebenso schnell, wie er gekommen war.
Irgendwann konnte ich Hitze, Feuchtigkeit und die Nähe schwitzender Leiber nicht mehr aushalten, ich lief den abschüssigen Rasen hinunter zur Treppe am Badesteg und tauchte ein in den See.
Auf dem Rückweg zum Steg setzte der Regen erneut ein, diesmal ganz sanft und warm auf Haaren und Haut. Dann war die Wolkenwand vorbeigezogen, hatte Platz gemacht für einen blassen Streifen Abendlicht.
Mein Handtuch hing über dem hölzernen Handlauf. Froh, dass ich mich überwunden hatte, stieg ich aus dem kalten Wasser. Der warme Regen wie Sekt auf der Haut, wohlige Wärme machte sich breit, ich genoss das herrliche Prickeln.
Da - ein gellender Pfiff aus dem Whirlpool! Ich sah hin, Rieke und Sanne grinsten, sie wussten, wie ungern ihre Mutter sich nackt zeigte. Wenn sie wenigstens allein gewesen wären! Aber nein! Zwischen den beiden, die Zähne leutselig gebleckt, thronte der Wolf unter einer Fontäne des Sprudelbeckens. Den Kopf im Nacken, die Augen verengt zu zwei Schlitzen, schien er trotz absoluter Reglosigkeit alles und jeden im Blick zu haben. Jetzt, wo die Haare klatschnass am Kopf lagen, sah man bläulich schimmernde Wurzeln in gelbgraue Grannen mit silbernen Spitzen übergehen.
Der Wasserstrahl stockte, ich sah, wie Rieke die Hand von seiner Schulter nahm. Für eine kurze Sekunde geriet ich ins Stolpern. Geistesgegenwärtig schlang ich das Saunatuch fester, hielt es mit einer Hand zusammen, winkte erst zurück, als ich mich wieder sicher fühlte.
Noch heute überkommt mich ein Gefühl des Unbehagens, ja des Zorns, wenn ich an die Szene im Whirlpool denke. In dem Moment aber ließ ich mir meine Verwirrung nicht anmerken. Festen Schrittes setzte ich meinen Weg zur Saunahütte fort, sah nicht einmal zurück zu meinen Töchtern.
Unvermittelt wünschte ich mir Jana herbei, meine Kusine, vertraute Freundin. Wir kannten uns am längsten. Sie und Thomas waren die letzten, die noch eintreffen mussten, dann würde unser Freundeskreis komplett sein.
Ich kannte beide von Kindheit an, aber Thomas war mir eher fremd geblieben. Wusste er, dass Jana als Kind eine lebensbedrohliche Operation durchmachen musste? Hatte sie je erwähnt, dass sie unter Gleichgewichtsstörungen litt, zuletzt nur noch torkelte und immer weniger wurde?
Sie wurde in die Universitätsklinik eingeliefert.
Mutter fuhr hin, um ihrer Schwägerin eine Stütze und Janas Bruder eine gute Tante zu sein.
Für ein paar beklemmende Tage ging die Todesangst in der Familie um. Der Chirurg schälte eine hühnereigroße Geschwulstkapsel aus Janas Gehirn. Ihre Entwicklung schien danach verzögert. Sie war langsam , wie die Erwachsenen sagten.
Ein vergessen geglaubtes Bild taucht auf:
Die Abendstunden nach einem warmen Mairegen. Überall auf dem Bahnsteig Pfützen. In der Ferne läuft der Zug ein, eine Bahnhofslampe scheppert. Mit dem Namensschild um den Hals wird ein müdes Kind aus dem Zug gehoben.
Kniestrümpfe im Mai.
Haare zum Pferdeschweif hochgebunden.
Ährenwimpern über Kornblumenaugen.
Vereinzelt ein verzögerter Lidschlag des linken Auges.
Mutter: „Den Tick hat sie seit der Operation.“
Das war Jana - mein Schutzengel.
Kusine und Freundin.
Wie eine Schwester.
Sie war vier, vielleicht fünf, ein durchscheinend zartes Stadtkind, das zur Erholung zu uns aufs Land geschickt wurde und bis zur Einschulung blieb.
Später kam Jana jeden Sommer.
Großvater und Großmutter gingen anfangs sehr behutsam mit ihr um. Dabei war sie ein Wirbelwind.
Ich war selig, ich war kein Einzelkind mehr. Endlich hatte ich eine ebenbürtige Spielkameradin gefunden!
Am liebsten stromerten wir im Freien herum, kamen nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen nach Hause.
Sommerwärme und Weizenfelder.
Schmetterlinge im Glas.
Kein Heuhaufen war vor uns sicher. Rauf und runter, wir kletterten und rutschten, rannten mit nackten Füßen über Wiesen und Stoppelfelder.
„Ihr zwei seid bekannt wie ein bunter Hund.“
Manchmal machte der Großvater sich auf die Suche nach uns. Die Leute im Dorf setzten ihn auf unsere Spur; keine Höhle im Heu, kein Versteck blieb ihm verborgen.
An dem Tag aber, an dem wir ihn dringend gebraucht hätten, ließ ihn sein Spürsinn im Stich. Davon hat er später oft gesprochen. Hat sich Vorwürfe gemacht, weil er wusste - es war Hochwasser, und von allen Elementen übte Wasser die größte Faszination auf uns aus. Wir hatten die Wahl zwischen dem Schwimmbad, dem natürlichen Flusslauf mit seinen seichten Badestellen und dem Wehr unmittelbar daneben.
Vom Wehr aus zwängte sich das schlammfarbene Gebräu schäumend und gurgelnd durch metertief gemauerte Gräben in den Fluss, der jeden Winter die angrenzenden Wiesen überschwemmte und uns Kindern kilometerlange Eisflächen bescherte.
Bei Glatteis über die Wehrgräben springen - das war nicht ungefährlich. Als ich ausglitt, hineinfiel und davongetragen wurde, war Jana keineswegs langsam .
Sie tat das einzig Richtige.
Sie rannte und holte Hilfe.
Im Vorraum der Zirbensauna herrschte Hochbetrieb. Ein Blick durch das Guckfensterchen und ich verzichtete auf einen zweiten Saunagang, zog lieber gleich den Bademantel über. Rieke und Sanne hockten nach wie vor neben Wolf im überfüllten Whirlpool. Wenn ich mich beeilte, blieb mir noch eine Weile Muße und Raum fürs Haaretrocknen und Schönmachen.
Der Fahrstuhl hielt in unserem Stockwerk.
„Haben Sie Wilma gesehen?“
Da war er wieder, der alte Herr mit dem wirren Haarkranz - diesmal fürsorglich geführt am Arm eines jüngeren Mannes. Ihr Reisegepäck stand gestapelt auf einem Karren.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, tut mir leid.“
Was sonst hätte ich sagen sollen.
Als wir feingemacht die Treppe hinunter in die Halle hasteten, trafen wir auf Sophie. Achtlos zusammengeknüllt klemmte ein Kleidungsstück unter ihrem Arm. Sie blieb stehen, küsste uns rechts und links zur Begrüßung.
„Geht nur schon runter. Ich bin gleich bei euch!“
Max hätte lange genug die Knitter in ihrer Leinenjacke kommentiert. Sie sei es leid, sie gehe sich umziehen.
Sophies ungewohnt verkrampfter Gesichtsausdruck gefiel mir gar nicht. Ich erinnerte mich, dass Max in modischer Hinsicht seine ganz eigene konservative Vorstellung hatte. Kritik tat er mit Vorliebe raumfüllend kund, auch mich hatte sie gelegentlich getroffen.
„Gottogott, Lena, habt ihr etwa Ratten im Haus?“
Der Anlass war ein modischer Zipfelrock. Ich hatte ihn mir eigens für sein Geburtstagsfest zugelegt und musste meine Verwegenheit prompt büßen.
Sophie tat es viel zu selten, aber wenn sie lächelte, ging auch abends die Sonne auf. Ihr straffes, von deutlich sichtbaren Muskeln geprägtes Langstreckenläufergesicht füllte sich auf, rundete sich. Der schmale, ein wenig klein geratene Mund wurde weich.
Sie war keine Schönheit. Sophies Anziehungskraft lag in der sanften Stimme, den ruhig fließenden, harmonischen Bewegungen und in der Ernsthaftigkeit, mit der sie zuhörte.
In ihrer Nähe fühlte ich mich wohl.
In der Hotelhalle saßen Max, Johanna und Bärlein bereits vor halbgeleerten Gläsern. Johanna trug ein orangerotes Leinenkleid mit kleinen Ärmeln. Dazu den farblich passenden Lippenstift.
Keinen Schmuck.
Die im Lampenlicht metallisch schimmernden Haare bildeten einen harten Kontrast, zogen magisch den Blick an. Sie hatte sich eine Nische mit bester Sicht auf Ankommende und Abreisende angeeignet. Für den Rest der Ferien würde hier unser gemeinsamer Stammplatz sein, toleriert und respektiert von den anderen Gästen. Ab jetzt hatten wir eine Anlaufstelle für alle Tageszeiten - mit Blick auf den riesigen Kamin, ohne zu nahe daran zu sitzen.
Der Cocktailabend war immer ein Dienstag.
Pünktlich auf die Minute standen Wirtsleute und Personal in Landestracht bereit, überreichten uns die gefüllten Gläser, um später mit Krügen von Tisch zu Tisch zu gehen und nachzugießen. Knusprige, noch ofenwarme Häppchen wurden gereicht.
Wir tranken grundsätzlich zuviel von der geheimnisvollen, äußerst wohlschmeckenden Mixtur, die uns rasch in Stimmung brachte.
Kennenlernabend ist die treffende Bezeichnung für den Cocktailabend.
Selten kam man sich so schnell so nah wie bei dieser Gelegenheit, nach diesem speziellen Getränk, dessen Rezeptur zur unserem Leidwesen nicht verraten wird, das die Zunge lockert und Schranken fallen lässt.
Hier brachte ich Johanna und Bärlein zusammen, er war gerade frisch geschieden.
Hier dröhnte Max mit erhobenem Glas und frohem Blick in die Runde:
„Hauptsache, man amüsiert sich! Kosten tut’s auch nix. Prostprostprost.“
Johanna war ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. Wider Erwarten war es ihr gelungen, doch noch mit Herrn Leo ins Gespräch zu kommen. Sie rückte beiseite, zog mich neben sich auf die Polsterbank und erzählte von Wilma - denn das war sie, die Tote vom Nachmittag. Sie hatte zwar noch die Nummer der Rezeption wählen, aber nicht mehr sprechen können. Als die Leitung stumm blieb, hatte die Verwaltung den Sohn benachrichtigen lassen.
Johanna seufzte mitfühlend.
„Sie hatten Glück, er war nicht weit, im Raum der Ruhe haben sie ihn gefunden. Trotzdem war alles zu spät. - Herzschlag!“
Sie schnippte mit Daumen und Zeigefinger.
„Einfach so. - Die arme Frau war nicht mehr zu retten.“
Sie nahm einen tiefen Zug aus dem Cocktailglas und sah zu, wie es auf der Stelle nachgefüllt wurde.
„Der arme Kerl tut mir wirklich leid“, fuhr sie fort. „Erst die Mutter und dann ... Der Vater irrt schon den halben Tag auf den Fluren umher. Immer auf der Suche nach seiner Wilma .“
Noch während sie sprach, entdeckte ich Sophie im bunten Sommerkleid, sie begrüßte Bekannte aus dem Vorjahr. Ich kannte niemanden, der soviel natürliche Grazie besaß. Keine Bewegung war übereilt, nicht eine Geste wirkte einstudiert. Marie war bei ihr, sie hatte sich in den Kreis der Erwachsenen gedrängt, zupfte und zerrte ungeduldig am Kleid ihrer Mutter.
„Mensch, Mama, - musst du immer so lange quasseln! Ich will jetzt essen gehen!“
Maulend ließ sie sich neben Max auf der Polsterbank nieder, blickte Mutter und Vater abwechselnd vorwurfsvoll an.
Ich erzählte von meiner Begegnung am Fahrstuhl. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Jeder von uns schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Ich dachte an den Tod.
Ich dachte an kein böses Omen.
Das alles betraf mich ja nicht.
Noch bevor wir uns in den Speisesaal begaben, hörten wir vereinzeltes Donnergrollen. Doch das Gewitter konnte sich nicht recht entschließen. Es schien aufzugeben, ehe es richtig entfesselt war.
Herr Leo kam von draußen und begleitete uns in den Speisesaal. Er strich mit Daumen und Zeigefinger über sein Oberlippenbärtchen, zeigte sich unerwartet gesprächig.
„Es regnet nicht mehr. Nur noch hier und da ein paar Tropfen. Allerdings, das Barometer fällt. Es schaut nicht gut aus für morgen.“
Nach dem Abendessen hockte ich noch eine Weile ziemlich trübe im Kreis der anderen. Die Cocktails hatten mich eher gedämpft als in Stimmung gebracht, aber das war wohl kein Wunder nach der anstrengenden Fahrt. Ich wollte ganz einfach ins Bett!
Meine Töchter hatten sich bald nach dem Essen selbständig gemacht. Rieke war nach einem halben Cocktail in Stimmung gekommen, hatte sich mit jungen Gästen vom Nebentisch angefreundet. Wolf mit den Eisaugen war immer dabei. Wenn er lachte, ließ er seine gelblichen Eckzähne und den fleischfarbenen Schlund sehen.
„Gott - ist das ein scharfer Hund!“
Max nahm kein Blatt vor den Mund.
Mich fröstelte.
Sanne mit ihrem eckigen Kinderkörper und den staksigen Beinen lief wie ein junges Füllen einfach mit. Bewundernd blickte sie zu den jungen Männern auf, zog unausgesetzt ihr Haargummi stramm, lachte glücklich und frei, weil sie einbezogen wurde - saß nicht eine Minute still.
Und plapperte.
Der Wolf scherzte mit ihr. Lachend hielt er sie an den Handgelenken, schüttelte sie durch, bis der Nackenzopf sich löste und eine Flutwelle glänzender Haare sich über ihre schmalen Schultern ergoss.
Der Anblick berührte mich seltsam. Wie dieses Kind es schaffte, sich an der großen Schwester vorbei in den Vordergrund zu drängen! Ob es Rieke gelang, sie abzuwimmeln?
Müde schob ich den Gedanken beiseite, dachte besorgt an den nächsten Tag. Fünf Uhr dreißig hieß es raus aus den Federn - in meinem Urlaubsrausch hatte ich mich allzu leichtsinnig für die allwöchentlich stattfindende Frühwanderung eingetragen.
Gerade wollte ich mich verabschieden, da drückte Bärlein mir ein Glas Grappa in die Hand. Die Geschäfte liefen gut. Ein paar seiner mit Holzstämmen aus Schweden beladenen Laster rollten gerade über die Autobahn nach Italien.
Johanna zwickte mich aufmunternd.
„Komm, den schüttest du noch runter – und dann ab in die Kiste! Morgen liefere ich dir den restlichen Klatsch nach. Das wäre ja nicht das erste Mal - oder?“
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber mir ist, als merke ich mir manche Gespräche nur ganz kurz. Ich schimpfe mich dann vergesslich - finde es besorgniserregend. Andere Unterhaltungen bleiben wortwörtlich hängen, weil ich sie in Bildern gespeichert habe.
Wie die Bilder der grauenvollen Ereignisse im Scheunenhof in jenem Sommer.
Ich weiß, wenn die Bilder sich aufdrängen, bekomme ich diesen abwesenden Blick. Ich tauche irgendwie weg, lächele still in mich hinein. Manchmal spreche ich sogar mit mir selbst. Dann wollen die Kinder oder mein Mann wissen, worum es geht. Die Situation verliert jedoch an Kontur, sobald ich versuche, sie in Worte zu kleiden.
Alles in allem bin ich eher eine Briefschreiberin. In knappen Worten treffe ich das Wesentliche, kann Erlebtes in Kürze darlegen, lasse, wie Johanna behauptet, dem Leser Freiraum für phantasievolle Ausgestaltung.
Sollte ich vor dem Zubettgehen noch schnell ein paar Zeilen an Ulli schreiben? Ich stellte ihn mir im immer gleichen Hotel in Florenz vor. Er würde sich über Post freuen.
Andererseits: Er kam ja bald.
Was hatte ich schon groß zu berichten?
Schließlich war bisher nichts Weltbewegendes passiert.
Zu dem Zeitpunkt war ich noch unwissend, war ahnungslos.
Hatte nichts Übles zu erinnern.
Doch da steht sie, die Schneekugel in ihrer außergewöhnlichen Form, auf die ich noch näher eingehen werde. Dickes Glas umschließt den Scheunenhof mit dem in den Himmel ragenden Adlerhorst .
Sie lässt mich nicht ruhen.
Von jetzt an will ich alles aufschreiben, will mit der Niederschrift an der Stelle beginnen, wo ich gedanklich hängen geblieben war. Eine innere Stimme mahnt:
„Tu’s nicht, wofür soll es gut sein.“
Ich höre Janas beschwörende Frage:
„Willst du dich wieder aufs Glatteis begeben?“
Doch ich mag nicht hören, ich will es tun, will alles noch einmal aufwühlen. Will es endlich aufarbeiten, indem ich es schriftlich festhalte.
Für mich selbst.
Auch wenn ich es nie wieder nachlese.
Für die Kinder.
Und für sie, die umkam.
Ich will es aufschreiben auf umweltfreundliches, handgeschöpftes Büttenpapier - alte Handwerkskunst aus Nepal.
Jana hat es mir einmal geschenkt.
So, wie sie immer gab - ohne viel Aufhebens und ohne etwas dafür zu erwarten.
Gelegentlich denke ich an ihre Großzügigkeit und an meine beschämte Klage, ich hätte mal wieder nichts für sie. Die Anlässe kann ich heute nicht mehr wiedergeben, doch ich erinnere mich ihrer Worte:
„Denk nicht so materiell. Warst du nicht immer da, wenn ich dich brauchte?“