Читать книгу Die Sonnenanbeterin - Nieke V. Grafenberg - Страница 7
DREI
ОглавлениеUrsprünglich hatte ich vor, binnen kurzem die Gepäckladezone für Nachkommende freizumachen. Aber ich wusste - beide Töchter würden mich am Empfang erwarten. Sie hatten das Gepäck in unser Stockwerk transportiert und standen garantiert bereit. Wie jedes Jahr freuten sie sich auf das, was jetzt kam - auf den warmen Empfang und die Zeremonie.
Der Wandtresor an der Rezeption wurde aufgesperrt. Wir hatten die Qual der Wahl zwischen einem Begrüßungsschnaps oder Säften aus den Flaschen, die darin verwahrt wurden. Beides gut gekühlt.
Ich konnte etwas Hochprozentiges gebrauchen nach der Mühsal der Anreise und der befremdlichen Begegnung mit dem Tod. Ein Schnaps war immer etwas Besonderes, genau wie ein Urlaub im Scheunenhof . Ohne großes Aufheben wurde die Prozedur zelebriert.
Aufhebens machte nur unser hünenhafter Freund Max.
„Wo habt ihr Ulli gelassen?“ schallte es quer durch die Empfangshalle. „Muss der Arme noch schnell das Geld für den Urlaub ranschaffen?“
In den eigenen Bademantel gehüllt, weil kein Hotelexemplar passen wollte, steuerte er blitzblank und saunagerötet mit ausgebreiteten Armen auf uns zu wie ein Bassbariton, der zu einer Liebesarie ansetzt. Während er die Halle durchquerte, hielt ich unauffällig nach Sophie Ausschau. Bestimmt hielt sie sich vornehm zurück, ganz wie es ihre Art war. Als hervorragende Zuhörerin schuf sie stets beste Voraussetzungen für den ruhigen Hintergrund, vor dem ihr Mann konkurrenzlos und störungsfrei agieren konnte. Im Moment jedoch war sie auf dem Zimmer und fönte die Haare. Max führte es uns, ohne Scheu vor amüsiertem Publikum, als eine Art Ententanz vor. Gleich darauf zog er eine Grimasse und fasste sich ins Kreuz.
„Ach du liebe Güte, das hat mir gerade noch gefehlt!“
Er drehte sich um, humpelte steif Richtung Fahrstuhl.
„Wir sehen uns später!“ rief er mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Schulter. „Falls ich dann noch lebe!“
Seine Stimme war noch zu hören, als sich die Türen des Fahrstuhls längst geschlossen hatten.
„Man schaut auf uns“, zitierte Rieke peinlich berührt. Eines jedenfalls schien sicher: Von der außerordentlichen Begebenheit mit dem Leichenwagen hatte Max nichts mitbekommen.
Das hätte er keinesfalls für sich behalten können!
Sanne hatte eine gleichaltrige Freundin entdeckt und sich fürs Schwimmbad verabredet. Um sie brauchte ich mir keine Gedanken mehr zu machen, ab jetzt war sie versorgt. So war mein mütterlicher Gedankengang und die Erfahrung aus den Vorjahren.
Wie hätte ich in dem Moment ahnen können, dass sie sich an andere Kreise anschließen und damit überfordert sein würde. Als Mutter hatte ich ihre Ausstrahlung unterschätzt, hatte sie ausschließlich als Kind gesehen. Als kleines, vorlautes Mädchen, das in seiner Arglosigkeit Anerkennung suchte.
Vielleicht noch gefallen wollte.
Mehr nicht.
Ein Grüppchen junger Leute mit Billardstöcken schlenderte vorbei. Einer nahm meine ungleichen Töchter ins Visier, ließ dann einen abschätzenden Blick über mich gleiten.
Glattes Gesicht mit regelmäßigen Zügen.
Hungrige Wolfsaugen, hell, ohne Hintergrund.
Haare wie Grannen, graugelblich und stark.
Als er meinen Blick spürte, schweifte sein Blick ins Leere, täuschte Desinteresse vor, obwohl er uns weiter aus den Augenwinkeln beobachtete.
Ein Prickeln im Nacken machte sich bemerkbar - ein unangenehmes Gefühl. War es der Schnaps oder die Vorahnung?
Rieke machte den Hals lang, hob das rundliche Kinn, blickte ermunternd in seine Richtung, schob die Hände unter die weißblonden Haare, bauschte sie mit gespreizten Fingern auf, als wolle sie der Frisur mehr Masse geben. Für einen Moment fürchtete ich, sie würde den Kopf nach vorne werfen, um die ganze Pracht aufzuschütteln, wie sie es daheim häufig tat.
Ich sehe sie noch lächeln.
Ihre feste Zahnspange, für die sie sich reichlich spät entschieden hatte, schien einen Moment lang vergessen.
„Im Dezember werde ich achtzehn.“
Ich weiß bis heute nicht, was sie daran für Erwartungen knüpfte, aber damals betonte sie das gern und häufig.
Wenig später war der Wagen umgestellt. Ich nahm den Rückweg durch den neuen Alpenpark , der zu meiner Enttäuschung in keiner Weise dem im Prospekt versprochenen Naturerlebnis glich. Die zwischen Steine gesetzten Pflanzen trugen Schildchen mit ihren botanischen Namen wie bei einer Landesgartenschau. Immerhin, die gesamte Bepflanzung bestand aus heimischen Gewächsen, würde daher in absehbarer Zeit nahtlos mit der Umgebung verschmelzen. Ich hielt Ausschau nach dem Almrausch , der mitunter von Juli bis August ganze Berghänge blutrot überzieht. Doch die Pracht war verblüht, wie jedes Jahr Ende August, wenn wir kamen.
Wir kamen meist in der letzten Augustwoche in der Hoffnung auf beständiges Spätsommerwetter mit Sonne ohne Ende, wie es uns einmal vergönnt gewesen und unvergesslich geblieben war.
Unvergesslich wie das Jahr, das beim Blick in die Glaskuppel lebendig wird.
Nur - in dem Jahr war alles ganz anders.
Ich sehe mich im selben Alpenpark , den Blick erhoben zu den nahen Bergen. Wie mit Löffeln abgestochene Nocken säumen sie den südwestlichen Horizont und bilden eine düster-bucklige Silhouette.
Feuchtigkeit lag in der Luft, ließ sich wie kühler Nebel auf Haar und Haut nieder. In der geschützten Nische beim Murmeltierbrunnen lockte eine Bank. Für ein paar einschläfernde Minuten lauschte ich dem stetig plätschernden Quell. Ich ließ mich treiben.
Bis der erste Tropfen auf meine Hand fiel.
Gleich würde es regnen, ich stand auf. Es galt, sich im Zimmer einzurichten.
Vorerst schlief Rieke an meiner Seite. Sanne hatte die an unser Zimmer anschließende Mansarde für sich, bis Ulli aus Italien eintraf. Sein Ankunftstermin war vage angekündigt, er brachte es einfach nicht fertig, sich festzulegen. Die Hotelleitung kannte das schon, obwohl - glücklich war man nicht darüber.
Herr Leo, dessen Allmacht bis in die Anmeldung reichte, sang schon mal ein diskretes Lied von Gästen dieser Art. Wenn er sich einmal herabließ und erzählte, machte er den Hals lang, hob das glattrasierte Kinn an und blickte leicht erhöht und arrogant aus halbgeschlossenen Lidern über uns hinweg ins Leere. Bewegte beim Sprechen kaum die Lippen, strich dabei mit Daumen und Zeigefinger sein gepflegtes rötliches Oberlippenbärtchen glatt. Weiß der Teufel, wie er zu dem Rotstich kam - sein Haupthaar lockte sich dunkelbraun.
Das war auch gut so, denn seine hochgewachsene Erscheinung und eine auffällige Vorliebe für schreiende Jacketts machten ihn ohnehin unübersehbar. Er trug sie großkariert, kleinkariert und gestreift, liebte Hahnentritt und Pepita. Alles in extravaganten Farbtönen.
„Heute wieder ein neues Jackett, Herr Leo?“
„Nu na net“, winkte er stets bescheiden ab und versuchte, seine Genugtuung hinter der Bemerkung zu verbergen: „Das hier gehört längst auf den Flohmarkt!“
Herr Leo sagte die Wahrheit. Er trug sie nur morgens. Ich weiß nicht warum, erst ab mittags ging er behutsam mit Farben um.
Als ich in unserem Stockwerk die Zimmertür aufsperrte, hörte ich das schrille Läuten des Telefons. Johanna war dran. Sie war erfolglos geblieben, hatte nichts Näheres über die Hintergründe des Todesfalles erfahren können.
„Leo hat sich zugemacht wie eine Auster.“ Ihre Stimme klang pikiert vor Enttäuschung. „Vielleicht spuckt er ja später die Perle aus? Im Moment weiß ich nur, dass ein Haufen Polizisten ein und aus ging. Bärlein ist ihnen beim Personaleingang begegnet.“
Der Personaleingang war ein von Gästen kaum genutzter Seiteneingang. Dort stand ein Lieferauto quer, doch den Fahrer hatte man bis zur Stunde nicht auftreiben können. Kein Durchkommen für Sargträger, daher der unübersehbare Leichentransport durch das Hauptportal.
Johanna formulierte unerschrocken:
„Sie konnten das Ding ja schlecht hochkant stellen - oder?“
Noch während sie weiterredete, begann ich mit meiner Bestandsaufnahme. Unsere Zimmer waren einladend hergerichtet, die Sitzmöbel mit neuen Bezügen. Leinenvorhänge in frischen Farbtönen erinnerten an Laura Ashleys Blumenmuster, säumten die seeabgewandte Fensterfront in ihrer ganzen Länge. Sämtliche Bezugstoffe harmonierten farblich untereinander und mit dem Veloursteppichboden. Ein modernes Landschaftsaquarell passte sich an.
„Findest du das nicht auch alles reichlich sonderbar?“
Ich schrak zusammen. Dann fiel es mir ein. Johanna war noch immer beim Aufsehen erregenden Leichentransport, konnte sich nicht so leicht von dem Thema lösen. Ich wiegelte ab, zum Nachdenken war ich noch gar nicht gekommen. Sicher, auf den ersten Blick war einiges sonderbar, anderes dagegen erschien mir völlig normal. Bärlein zum Beispiel, der als letzter zu unserem Freundeskreis gestoßen war, verweigerte als einziger in unserer Runde den gebührenfreien Parkplatz wenige Meter hinter dem Alpenpark. Er pflegte seinen auf Hochglanz polierten BMW auf einem reservierten Stellplatz direkt am Hotel abzustellen.
„Er glaubt, so nahe am Haus wird das beste Stück nicht geklaut. Mich wundert, dass er die Reifen nicht abmontiert und unter dem Bett verstaut.“
Unbekümmert machte Johanna sich über die Vorsichtsmaßnahme ihres bedächtigen Lebensgefährten lustig. Sie ließ Autos immer und überall bedenkenlos offen. Auch Bärleins.
Für ihn war das einer der Gründe, auf ein neuerworbenes Büschel grauer Haare hinzuweisen.
„Wir sind nur noch zusammen, weil ich so duldsam bin“, behauptete er, um sie zu ärgern.
Johanna war seine Gelassenheit ein Dorn im Auge. Je nach Laune schlug sie zurück.
„Typisch Waage - ein viel zu stoischer Charakter für mich. Vielleicht sollte ich mich mal nach einem Widder umsehen?“
Sie hob das Kinn und warf Bärlein aus halb geschlossenen Lidern einen vernichtenden Blick zu.
„Es heißt, so ein Widder-Mann bringt nicht nur sein Auto auf Hochtouren! – Er wienert es auch nicht, während andere noch schlafen !“
Bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten gab Bärlein sich ungerührt, durch derartige Sticheleien war er absolut nicht aus der Ruhe zu bringen.
Es war ein Wunder, dass er mitgekommen war. Sein Sinn stand nicht nach wandern, normalerweise ging er nur Johanna zuliebe mit. Sein Kommentar nach einem Blick auf seine kurzen, stämmigen Beine in den roten Wanderkniestrümpfen war ein resigniertes:
„Leichter Aufstieg ... nicht weit ... ihr habt gut reden! – Bei meiner Schrittlänge muss ich doppelt so viel ackern wie andere, bevor ich am Ziel bin.“
Eigentlich hatte ich große Lust, mit Johanna zu plaudern, doch der Nestbau hatte erst einmal Vorrang.
Wir verabredeten uns für später in der Halle.
Bis auf den traurigen Vorfall und die Renovierung der Zimmer war also alles wie sonst. Ein Korb mit Früchten, Müsliriegeln und ein paar Leckereien stand auf dem Tischchen neben dem Schreibsekretär. Der kleine Barschrank summte leise.
Ich sah nach, vom Bademantel bis zum Nähzeug war alles vorhanden. Auf den Kuschelkissen lagen Betthupfer in rosa und hellblauem Stanniolpapier. Ich wickelte eins aus und machte mich ans Auspacken. Kommode, Regale und Nachttisch waren im Nu mit tausenderlei persönlichen Dingen dekoriert. Die Einbauschränke im Nebenzimmer ließ ich unangetastet. Dort konnten sich Rieke und Sanne später ausbreiten.
Mechanisch öffnete ich die Fensterflügel, um saubere Bergluft hereinzulassen. Ein kräftiger Windstoß trieb mir die Vorhänge ins Gesicht, als wolle er mich aus dem Zimmer wischen. Es war recht finster für die Tageszeit.
Auf der eingezäunten Grasfläche neben dem Skistall drängten die zahmen Ziegen sich eng aneinander.
Ein bleicher Mond, gefangen hinter schwarzer Watte. Wolkenfetzen lösten sich ab, zogen davon, ließen sekundenlang sein Mondgesicht sehen.
Donnergrollen.
Abends zum Essen erwartete uns ein Konzert mit Pauken und Trompeten. Max und sein Bassbariton würden wohl kaum zu Wort kommen!
Ich war just dabei, den leeren Gepäckkarren auf den Flur zu bugsieren, als ein älterer Herr mit wirrem Haarkranz den Flur entlang lief.
„Haben Sie Wilma gesehen?“ rief er mir zu und eilte weiter.
Ehe ich mich sammeln und antworten konnte, hatte er den Treppenabsatz erreicht, war kurz darauf verschwunden.
Er hatte mich wohl verwechselt.
Aber wer war Wilma?
Ich klappte den Karren zusammen, lehnte ihn zum Abtransport dicht an die Wand und kehrte ins Hotelzimmer zurück.