Читать книгу Walfreiheit - Niels Wedemeyer - Страница 3
ОглавлениеProlog
Er konnte später nicht mehr sagen, was ihn an diesem zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 aus dem Schlaf gerissen hatte. Vielleicht war es die tropische Morgensonne, die bereits seit Stunden aufdringlich in das kleine Cottage in Strandnähe schielte, vielleicht aber auch die bedrückende Stille, die sich schwer über diesen Morgen gelegt zu haben schien. Als er sich zur anderen Seite des Bettes drehte, drohte sein Kopf wie ein angeschlagenes Kristallgefäß zu zerspringen und eine säuerliche Übelkeit stieg in ihm auf. Es waren nicht die unausweichlichen Folgen exzessiven Alkoholkonsums, die Klaas Petersen in diesem Moment zu schaffen machten. Es war vielmehr der Anblick der glatt gezogenen Bettdecke und des makellosen Kissens, die offensichtlich in dieser Nacht unbenutzt geblieben waren. Er wusste sofort, was diese leere Bettseite für ihn persönlich zu bedeuten hatte. Nämlich nichts Geringeres, als dass der allzu naive Versuch, seine Ehe zu retten, nun endgültig gescheitert war. Jetzt spätestens wurde ihm mit aller schmerzlichen Klarheit bewusst, dass er sie für immer verloren hatte. Er setzt sich stöhnend auf und rieb sich den schmerzenden Kopf, als könnte er dadurch das Chaos seiner Gefühle ein wenig ordnen. Plötzlich kam ihm die verzweifelte Idee, sie könnte vielleicht auf der kleinen Holzveranda vor dem Cottage sitzen und auf das Meer hinaus starren, während sie ungeduldig auf ihn wartete. Klaas erhob sich zu schnell für seinen maroden Kreislauf und wäre fast gestürzt. Doch als er schwankend die Tür erreichte und sie mit der letzten Zuversicht eines Hoffnungslosen aufriss, waren dort lediglich zwei leere Rattanstühle, die dekorativ um einen kleinen Bistrotisch drapiert waren. „Begreif doch endlich, dass sie fort ist, Du Narr“, schrie er sich lautlos an und ließ seine zwei Zentner ungelenk in einen der bedrohlich knarrenden Stühle fallen. Während sich sein Kopf in Sekundenschnelle mit einer Wolke finsterer Empfindungen füllte, fiel sein ausdrucksloser Blick, vorbei an den allgegenwärtigen Kokospalmen, den üppigen Papayastauden und gepflegten Rasenflächen, auf die kilometerlange Bucht von Bang Tao. Etwas Seltsames hatte dieser Anblick an sich, doch es dauerte eine Weile, bis die Erkenntnis sich ihren Weg durch das Dickicht seiner Gedanken gebahnt hatte. „Wie merkwürdig“, entfuhr es Klaas, der nun aufstand und sich geradezu schlafwandlerisch in Richtung des strahlend weißen Strandes aufmachte. Das türkisfarbene Meer hatte sich Hunderte von Meter zurückgezogen und war nur noch als schmaler Streifen am Horizont erkennbar. In dem großflächigen sandigen Bereich, den das Meer freigegeben hatte, gingen Leute spazieren, fotografierten, sammelten Muscheln, fingen exotisch bunte Fische mit den Händen oder unterhielten sich fröhlich. Klaas erinnerte diese Szenerie an die sommerlichen Wattausflüge an der friesischen Nordseeküste. Aber ihm war nie zu Ohren gekommen, dass die Gezeiten auch am Indischen Ozean ein solches gewaltiges Ausmaß annehmen konnten. Staunend stapfte Klaas weiter durch den bereits brennend heißen Sand und besah sich das Phänomen genauer. Die Tatsache, dass so viele Fische auf dem freigesetzten Meeresgrund zurückgeblieben waren, sprach für einen ebenso raschen wie ungewöhnlichen Rückgang des Wasserspiegels. Erst jetzt wurde ihm die Stille um ihn herum bewusst. Das teilweise recht penetrante Gekreische der zahlreichen Beos, das für gewöhnlich die morgendliche Geräuschkulisse von Phuket prägte, war jetzt gänzlich verschwunden. Er meinte, die Antwort zu erahnen, war sich aber noch nicht sicher. Erst als er am Horizont den dunklen Streifen erblickte, der sich in den nächsten Sekunden bedrohlich über die ganze Bucht spannte, wurde die Spekulation zur schrecklichen Gewissheit.
„Kommt dort weg! Da kommt ein Tsunami“, rief er mit belegter Stimme den immer zahlreicher werdenden Schaulustigen zu, aber sein Rufen ging in dem inzwischen anwachsenden Grollen unter, das von der tosenden Wand herrührte, die sich jetzt mit unwirklicher Geschwindigkeit auf die Küste zu bewegte. Klaas schrie nun ohne Unterlass, aber die Menschen in der Bucht hatten nur noch Augen für das ungewöhnliche Spektakel, das sich ihnen an diesem Morgen bot. Endlich begriffen die Ersten, welche Gefahr dort auf sie zuraste, und traten einige zaghafte Schritte zurück. Als auch die letzten die Größe und Wildheit der heranbrausenden Wassermassen erkannten, brach eine allgemeine Panik aus. Alle rannten und schrien durcheinander. Auch Klaas spürte die Angst in sich aufsteigen und begann ebenfalls zu rennen. Nur fort. Nur fort. Erst dachte er an das Cottage, dann jedoch entschied er sich für das höher gelegene zentrale Gebäude der Anlage. Kurz vor seinem Cottage bog er nach links ab und folgte einem schmalen gepflasterten Pfad. Das Grollen des nahenden Meeres war bereits zu ohrenbetäubender Lautstärke angeschwollen. Klaas sah das mehrstöckige Gebäude wie eine rettende Burg vor sich in der Morgensonne auftauchen, als ihm eine kaum kniehohe Welle mit einer gnadenlosen Wucht von hinten die Beine wegzog. Wie ein lächerliches Stück Treibgut wurde er in ungeahnter Geschwindigkeit mitgerissen, vorbei an Häusern, Bäumen und Büschen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine solch unbändige Kraft gespürt. Alle seine Gedanken waren einzig darauf konzentriert, den Kopf über der bräunlichen Brühe zu halten, die um ihn herum höllengleich brodelte. Seine Versuche, sich an etwas festzuhalten, scheiterten allesamt kläglich. Sein panisches Schreien wurde von dem Brüllen der Fluten verschluckt. Doch je länger Klaas mitgerissen wurde, desto mehr drehten sich seine Gedanken nicht etwa um seine eigene bedrohte Existenz, sondern um Rieke. Darum, dass er ihr noch so viel hatte sagen wollen, dass nicht alles aus sein konnte. Als hätte das Schicksal sich schließlich seiner erbarmt, ließ die Wucht der Fluten plötzlich nach und entließ ihn in einem Haufen Müll am Rande des Zentralgebäudes, auf dessen schützenden Balkons sich inzwischen hunderte von Menschen eingefunden hatten, die mit angsterfüllten Augen das hilflose Treiben der weniger Glücklichen beobachteten. Das Wasser zog sich schnell zurück, wie ein feiger Attentäter, und offenbarte das Werk seines zerstörerischen Handelns. Bäume waren umgerissen worden, Strandmöbel, Kleidungsstücke, ja selbst Boote und Autos lagen wahllos verstreut in der Anlage herum. Klaas rappelte sich schwerfällig auf, erstaunt keinerlei Verletzungen davongetragen zu haben, und erbrach sich geräuschvoll. Erst jetzt wurden ihm die Schreie und das Wehklagen der Überlebenden bewusst. Überall saßen Menschen zusammengekauert im Schlamm, manche lagen nur da und bewegten sich nicht. Ein schrecklicher Gedanke keimte in ihm auf. Könnte auch Rieke von dem Tsunami überrascht worden sein und unter den Opfern sein? War sie womöglich zum Cottage zurückgekehrt, während er am Strand war? Er begann erneut zu rennen und rief immer wieder ihren Namen. Dieses Mal war der Pfad allerorts von Treibgut versperrt und durch den angespülten Sand kaum noch auszumachen. Als er schließlich das Cottage erreichte, traf ihn der Anblick wie ein Schlag. Eine Wand des Cottages war halb eingedrückt, das Dach eingestürzt. Gebückt blickte er durch ein Fenster in das überraschenderweise nahezu unversehrte Zimmer. Mit Mühe schob er sich hinein und suchte nach einem Lebenszeichen. Nachdem er sich sicher war, dass sie sich während der Katastrophe nicht im Haus aufgehalten hatte, kramte er die Umhängetasche unter dem Bett hervor, in der sich etwas Geld und die Papiere befanden. Schließlich zwängte er sich wieder ins Freie und sah sich um. Keine Spur von Rieke. Er schloss sich nun den anderen verzweifelten Menschen, die auch auf der Suche nach Angehörigen durch die zerstörte Anlage irrten. Sein Weg führte ihn schließlich zu einem Cottage, dessen komplette Vorderfront von den Wellen herausgebrochen worden war. Als Klaas beiläufig in die Ruine schaute, erblickte er in dem Chaos aus umgeworfenen Möbeln, Kleidung und Schlamm einen schmalen Koffer, der beschienen von einem vereinzelten Sonnenstrahl wie der wahrhaftige Heilige Gral aussah. Klaas hätte in diesem Moment weiter nach Rieke suchen sollen, zum Zentralgebäude zurückgehen oder den vielen Verletzten zur Hilfe eilen sollen, doch er tat nichts dergleichen. Er stand nur da und begaffte den Koffer, während seine Gedanken Amok liefen. Gestern habe ich ihn schon einmal gesehen, dachte er, und da war er voller Geld gewesen. Es war, als stände er noch unter Schock, wäre nicht er selbst, der in diesem Moment auf das fremde Cottage zusteuerte und ungelenk über den Schuttberg in das offene Zimmer stieg. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass man seinem Handeln in dem allgemeinen Trubel keinerlei Beachtung schenkte. Er wusste sehr wohl, dass es nicht rechtens war, was er hier tat, aber es war wie bei einem neugierigen Kind, das nicht eher ruhte, bis es den verbotenen Gegenstand einmal in den kleinen Händen gehalten hatte. Zielstrebig watete er durch den knöcheltiefen Matsch im Zimmer, bis er schließlich vor dem schmalen Hartplastikkoffer stand. Klaas nahm ihn hoch, als wäre es der zerbrechlichste Gegenstand der Welt, und betrachtete ihn ehrfürchtig. „Hat mir das Schicksal vielleicht diesen Koffer geschenkt?“, fragte sich Klaas unwillkürlich und strich gedankenverloren über dessen glatte Oberfläche. „Warum wurde er nicht fortgespült oder unter dem Müll begraben? Und wer sollte jetzt noch daran zweifeln, dass der Koffer ein Opfer der Welle geworden und für immer unauffindbar im Meer verschwunden ist?“, dachte er und schämte sich sofort seiner frevelhaften Gedanken. Dennoch stellte Klaas den Koffer nicht etwa wieder zurück, sondern ging langsam den Weg zurück, auf dem er gekommen war. Als hätte eine höhere Kraft Klaas auf der Stelle für seine schamlose Tat bestrafen wollen, erhob sich in der Anlage von Neuem ein panisches Geschrei, das ihn abermals zusammenzucken ließen. Klaas meinte die Worte „zweite Welle“ vernommen zu haben und kletterte hastig über den Schuttberg zurück auf die Holzveranda. Tatsächlich war wieder ein unheilverkündendes Grollen vom Strand her zu vernehmen. Dieses Mal noch lauter, noch wütender als zuvor. Kaum hatte sich Klaas zur erneuten Flucht entschlossen, als ihn eine meterhohe Mauer aus Gischt wie eine eiserne Faust packte und unter Wasser drückte. Im Trüb dieses Moments sah er unzählige Gegenstände gefährlich nahe an sich vorbei zischen. Der Mangel an Atemluft ließ seine Lunge brennen. Das allgegenwärtige Brodeln der Fluten schrie ihn an. „Dieb. Elender Dieb. Dafür wirst du sterben.“ Die Welle war so gewaltig, dass er sich dem Unausweichlichen nicht erwehren konnte. Ab und zu tauchte er auf und blickte in das unschuldige Blau des Morgenhimmels zwischen den zuckenden Palmenwedeln, als wollte ihm das Schicksal in einem bösen Streich noch einmal die Schönheit dieser Welt zeigen, ehe alles zu Ende war. Denn keinen Atemzug später riss ihn das Meer wieder hinab und wirbelte ihn herum, bis er gänzlich die Orientierung verlor. Das ist also das Ende, dachte er in panischer Verzweiflung. Nicht jetzt schon. Aber nicht ein einziger Muskel ließ sich bewegen. Er trieb dahin, hilflos und verlassen. Schließlich schlug etwas mit brachialer Gewalt gegen seinen Kopf und beendete alle schmerzlichen Gedanken.