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2. Ein Kurier mit leeren Händen

26. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand

Der junge, vornehm gekleidete Mann stand wie verabredet nahe der Mündung des Bang Tao-Kanals und wartete geduldig im Schatten der Palmen auf das kleine Motorboot, das sich lautstark der Küste näherte. Der teure dunkle Anzug und die seidene hellblaue Krawatte des Mannes saßen tadellos, waren aber für die Hitze, die bereits schwer über diesem frühen Morgen lag, gänzlich unpassend. Lediglich die etwas schäbig anmutende graue Umhängetasche wollte nicht so recht zu diesem nahezu perfekten Erscheinungsbild passen. Reglos verfolgte der Mann die Ankunft des Motorboots, in dem zwei mürrisch dreinblickende Thais saßen, die ihm beim Näherkommen ein wortloses Zeichen gaben. Der Mann stieg daraufhin die Treppe zum Kanal herab und schwang sich elegant in das Boot. Ohne dass auch nur ein einziges Wort gewechselt wurde, brauste es von neuem in Richtung Meer davon. Vor dem Strand lagen neben einigen friedlich in den seichten Wellen schaukelnden Fischerbooten auch mehrere luxuriöse Yachten, von denen eine besonders imposant war. Sie maß nicht weniger als fünfundzwanzig Meter und besaß drei Decks, auf denen mehrere Personen gespannt die Ankunft des kleinen Motorbootes beobachteten. Der vornehme junge Mann erklomm als erster die Treppe an Bord, wo bereits vier Thais auf ihn warteten. Ein dicker Mann mit Schnurbart löste sich aus der Gruppe und ging einen Schritt auf den Mann zu.

„Mr. Petrenko?“ Der Mann im Anzug nickte lächelnd. Diese Frage war völlig überflüssig gewesen, da er vermutete, dass sie ihn bereits schon seit Tagen beobachteten. Ein anderer Mann trat daraufhin vor und tastete Petrenkos Körper gründlich ab, während dieser kooperativ die Arme zur Seite streckte. Nachdem die lästige Prozedur beendet war, gab der dicke Mann dem Russen ein Zeichen, ihm zum oberen Sonnendeck zu folgen. Dort saß lässig in einem übergroßen Rattansessel gelehnt ein älterer Mann in Tenniskleidung, umringt von zwei großgewachsenen Männern mit Sonnenbrillen und zwei hübschen thailändischen Mädchen im Bikini. Die Mädchen entfernten sich sofort.

„Mr. Petrenko, schön, dass Sie kommen konnten“, sagte der Alte in überraschend akzentfreiem Oxfordenglisch und nickte dem Gast höfflich zu, ohne sich zu erheben. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Er wies auf einen freien Rattansessel. Dimitrij Petrenko setzte sich lächelnd und platzierte seine Umhängetasche auf den Knien. Ein Mädchen kam mit einem Tablett zurück und der Alte nahm sich ein Glas, während der Russe dankend ablehnte.

„Ich bin froh, dass … die Übereinkunft doch noch zustande gekommen ist“, fuhr der Alte fort. Petrenko dachte, wie unschuldig der alte Mann doch jetzt wirkte. Er kannte aber auch andere Geschichten über Phannipha, schreckliche Geschichten, die er nicht weiter auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen wollte. Er glaubte sie einfach.

„Ich denke, es wird zum beiderseitigen Vorteil sein“, pflichtete ihm Petrenko mit breitem russischen Dialekt bei. Nun kam der Moment, vor dem Petrenko die größte Sorge gehabt hatte. Doch die Anweisung aus Sankt Petersburg, die er überraschend am gestrigen Abend erhalten hatte, war unmissverständlich gewesen.

„Dennoch, sehr geehrter Mr. Phannipha, gibt es da einen Punkt, den wir noch einmal genauer besprechen sollten“, begann er diplomatisch. Sofort verschwand das onkelhafte Lächeln aus Phanniphas Gesicht und eine spürbare Anspannung legte sich auf die Unterredung.

„Wir haben ein ähnliches Angebot aus Ko Samui erhalten, ein sehr Gutes, muss ich an diese Stelle erwähnen, das eine geringfügige Nachverhandlung erforderlich macht.“

„Wir haben Absprachen, verstehen Sie? Feste Absprachen!“, rief Phannipha ärgerlich und die beiden Männer mit den Sonnenbrillen, die offensichtlich nicht verstanden, was hier besprochen wurde, nahmen eine auf mögliche Kampfhandlungen ausgerichtete Stellung ein.

„Sicher“, versuchte ihn Petrenko zu beruhigen, „dennoch scheint der Marktwert der Ware momentan deutlich niedriger zu liegen, als bislang verhandelt.“

Phannipha stand auf und schritt ein paar Schritte auf Petrenko zu. Dieser blieb ruhig und gelassen in seinem Sessel sitzen und lächelte weiter freundlich.

„Marktwert? Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Dieser Scheisskerl von Deng versucht nur mit seinen Fantasiepreisen unsere Kooperation kaputt zu machen. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass er tatsächlich einen niedrigeren Preis als ich akzeptieren würde?“

„Herr Phannipha“, antwortete Petrenko gelassen, „lassen Sie sich versichern, dass Deng einem deutlich niedrigeren Preis bereits zugestimmt hat. Da wir von ihm eine absolut gleichwertige Ware wie von Ihnen beziehen können, wissen wir nicht, warum wir jetzt noch einen höheren Preis zahlen sollten.“ Er lächelte Phannipha weiter freundlich an, wusste jedoch sehr wohl, in welcher Gefahr er gerade schwebte.

„Vielleicht wird es Ihre Organisation verstehen, wenn ich ihnen ihren Kurier in Einzelteilen zurückschicke“, zischte Phannipha mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er meinte, was er sagte.

„Mr. Phannipha“, lenkte Petrenko sofort ein, „meiner Organisation ist wirklich sehr an einer langfristigen Kooperation mit Ihnen gelegen“. Er hatte einen solchen Diskussionsverlauf erwartet. „Wir sind auch durchaus bereit, Ihnen preisliche Zugeständnisse zu machen.“ Es entstand eine kurze Pause, in der ihn der Alte erwartungsvoll mit finsterer Miene anstarrte.

„Mit einem Preisnachlass von 10 % könnte meine Organisation durchaus leben.“

Phannipha sprang überraschend behände nach vorne und packte Petrenko am Kragen.

„Du Drecksschwein meinst also allen Ernstes, dass Du mich über den Tisch ziehen kannst?“ brüllte der alte Mann cholerisch, woraufhin noch weitere Thais auf dem Sonnendeck erschienen. „Was wäre denn, wenn ich jetzt einfach Dein Geld nehme und Dich an die Haie verfüttere?“

„Ich habe das Geld aber gar nicht dabei“, antwortete Petrenko bewusst ruhig und öffnete demonstrativ seine graue Umhängetasche. Einige von Phanniphas Männern zogen daraufhin ihre Pistolen und zielten auf den Russen, während dieser bedächtig langsam eine Badehose und zwei Handtücher hervorkramte.

„Wolltest Du mich bescheißen, Du Ratte?“

„Keineswegs, ich wollte nur verhindern, dass Sie einfach das Geld nehmen und mich an die Haie verfüttern“, sagte Petrenko mit einem arroganten Schmunzeln im fein geschnittenen Gesicht, „das Geld ist an einem sicheren Ort und wird Ihnen übergeben werden, sobald wir eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung gefunden haben.“ Er hatte sich erst kurz vor dem Treffen entschieden, dass Geld im Cottage zu lassen. Auf diese Weise würde er sein Leben bei einem möglichen Scheitern der Verhandlungen noch etwas verlängern, vielleicht sogar retten können.

Phannipha tobte vor Wut und schrie einige schroffe Anweisungen auf thailändisch, worauf mehrere Männer vom Sonnendeck stürmten, während sich andere wiederum bedrohlich vor Petrenko aufbauten. Der alte Thai ließ seinen Gast dabei keinen Augenblick aus den Augen. Die Verhandlungen schienen nun endgültig gescheitert zu sein. Petrenko hatte einen solchen Ausgang bereits befürchtet, nachdem er die Anweisung erhalten hatte, doch es hatte ihm nicht zugestanden, diese in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Nun fragte er sich nicht ohne Sorge, was wohl als nächstes mit ihm geschehen würde.

Doch bevor er darüber Klarheit erlangen konnte, war ein lauter Ruf aus der Kapitänskabine zu vernehmen, der alle, selbst Phannipha, dazu veranlasste, augenblicklich an die Reling zu laufen. Es erhob sich daraufhin eine allgemeine Panik, die zu Petrenkos Überraschung selbst Phannipha erfasste. Der Russe, dessen Anwesenheit jetzt gänzlich zur Nebensache geriet, erhob sich nun vorsichtig aus seinem Sessel und trat seinerseits an die Reling. Er hatte vermutet, dass sich ein Schiff der Küstenwache nähern würde, aber dem war nicht so. Dort, wo das Meer den Horizont berührte, war deutlich eine breite grauweiße Linie zu erkennen, die sich bei näherer Betrachtung als eine Wand aus brodelnder Gischt entpuppte. Tsunami, dachte Petrenko sofort. Die Welle war nicht besonders hoch, doch keiner, der sie sah, zweifelte daran, dass sie eine verheerende Kraft besaß. Phannipha schrie wieder einige Befehle, woraufhin seine Männer wild auseinanderstoben. Der Anker wurde gelichtet und die Yacht beigedreht. Der alte Mann versuchte offensichtlich das Boot Richtung Küste steuern zu lassen. Mittlerweile wurde auch Petrenko von der allgemeinen Panik angesteckt. Wenn die Welle uns mit der Kraft erreicht, die sie jetzt hat, wird sie uns alle davon spülen, dachte er voll Schrecken. Kurzentschlossen nahm er seine Umhängetasche und öffnete den Verschluss seines Tragegurts. Er schwang sich die Gurte quer über die Brust und befestigte die Enden hinter einer stabilen stählernen Stange neben der oberen Kajüte. Anschließend kauerte er sich hin und beobachtete mit schlimmen Vorahnungen das weitere Geschehen. Vor ihm rannten und brüllten alle durcheinander, während sich das Boot nur sehr langsam dem Strand näherte. Doch plötzlich wurde es wie von Geisterhand mehrere Meter emporgehoben und mit großer Geschwindigkeit vorwärts geschoben. Das Grollen der heranstürmenden Fluten war inzwischen so gewaltig, dass es alle Geräusche an Bord einfach verschluckte. Das Schreien der Männer ebenso wie das Heulen der Motoren, die aussichtslos gegen die Welle ankämpften. Alles verstummte im Augenblick der Katastrophe. In diesem Moment gab es nur noch das Brodeln des Wassers. Einige Männer wurden wie Spielzeugfiguren von Bord geschleudert, während sich andere verzweifelt an der Reling festklammerten. Doch in den nächsten Sekunden drehte die Welle das Schiff scheinbar mühelos auf die Seite und rollte es unter Wasser. Petrenko hatte gerade noch Zeit einen kräftigen Atemzug zu nehmen, dann war um ihn herum nur noch tosendes Wasser. In der graubraunen Brühe war nichts mehr zu erkennen. Er spürte nur, dass sich die Yacht mehrmals drehte und zeitweise wieder auftauchte, um dann erneut in den Fluten zu verschwinden. Allmählich wurde der Luftmangel zur Qual und der Gurt seiner Umhängetasche zerrte an ihm ohne Unterlass. Wie eine Fahne im Sturm wurde er hin und her geschleudert, bis ihm allmählich die Sinne schwanden. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, in diesen tosenden Fluten zu sterben, als er plötzlich vor sich im trüben Wasser das verschneite Sankt Petersburg sah, die Anitschkow-Brücke und die Freunde aus alten Tagen, die dort auf ihn warteten.

„Dimitrij, hier sind wir“, riefen sie und winkten, „endlich bist Du zurück.“ Petrenko wollte zu ihnen laufen, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Er sah ihnen zu, wie sie allmählich wieder verschwanden.

„Wir warten auf Dich“, riefen sie ihm zum Abschied zu.

Trotz aller Todesängste durchströmte ihn ein seltsam tröstendes Gefühl des Glücks. Er war jetzt bereit, zu sterben.

4. Oktober 1993, Sankt Petersburg, Russland

Dimitrij stürmte aus der überfüllten U-Bahn und rannte hastig die Treppe zum Ausgang hinauf. Es schneite an diesem Herbsttag, was selbst für Sankt Petersburger Verhältnisse ungewöhnlich früh war. Der Schnee hatte den Newski-Prospekt, die prunkvolle Hauptstraße der Stadt, innerhalb weniger Minuten in eine grauweiße Rutschbahn verwandelt, auf der sich Autos wie Passanten nur langsam und mit äußerster Vorsicht fortbewegten. Nicht so Dimitrij. Er sprintete die breiten Gehwege entlang, als würde sein Leben davon abhängen, und wäre fast gestürzt, wenn er sich nicht mit viel Geschick im letzten Moment gefangen hätte. Inständig hoffte der Junge, dass die Freunde noch auf ihn warteten, denn wenn sie erst einmal im Gewimmel der Großstadt unterwegs wären, würde er sie nicht mehr finden können. Doch als er endlich die Anitschkow-Brücke erreichte, winkten sie ihm bereits aufgeregt zu.

„Wo bleibstn Du?“ rief ihm Kolja von weitem entgegen.

„Tut mir Leid, mein Alter hat mal wieder Ärger gemacht“, antwortete Dimitrij atemlos. Das stimmte zwar nicht, konnte aber von jedem in der Gruppe als triftiger Grund für eine Verspätung nachvollzogen werden. Dimitrij kannte die Lebensgeschichten der Kinder um Kolja nur zu gut und wusste, dass die meisten wegen eines gewalttätigen oder ständig betrunkenen Vaters auf der Straße gelandet waren. Doch Dimitrijs Geschichte war eine andere.

„Was habt Ihr vor“, fragte er neugierig.

„’N bisschen Schnorren und vielleicht was abstauben“, antwortete die dünne Kasha, die mit ihren kurzen Haaren und den groben Gesichtszügen eher wie ein Junge wirkte. Hübschere Mädchen in ihrem Alter wären sicherlich schon auf dem Straßenstrich gelandet, aber Kasha hatte sich zum Glück frühzeitig und mit reichlich natürlichem Talent gesegnet auf Taschendiebstähle spezialisiert und würde ihren zarten Körper nicht so schnell verkaufen müssen, um zu überleben.

„Hört sich echt klasse an“, pflichtete ihr Dimitrij grinsend bei und machte sich mit ihr und den anderen auf den Weg.

Er hatte die Gruppe vor etwa zwei Wochen kennengelernt. Sie waren ihm in den Gängen der Metro gefolgt und hatten ihn schließlich in einem menschenleeren Tunnel gestellt, um sein Geld zu entwenden. Dimitrij hatte ihnen gesagt, dass sie das Geld gerne haben könnten, wenn er dafür den Rest des Tages mit ihnen verbringen dürfte. Die Idee war ihm spontan gekommen. Die Wildheit dieser Kinder hatte bei dem schmächtigen Jungen aus gutem Hause die Abenteuerlust geweckt. Dimitrij hatte wenige Freunde und sein wohlgeordnetes Leben bestand aus einer strengen Privatschule und langweiligen Nachmittagen in einer exklusiven 10-Zimmer-Wohnung mit unverbautem Blick auf die Newa. Weder sein Vater, ein einflussreicher Politiker der Stadt, noch seine Mutter, die als Professorin an der Universität unterrichtete, kümmerten sich allzu sehr um den wilden Jungen und überließen ihn für gewöhnlich sich selbst. Hätten sie ihm mehr Zeit gewidmet, wäre ihnen vielleicht nicht entgangen, wie groß der Lebenshunger ihres vierzehnjährigen Sohnes war. Zuweilen verbrachte er Tage damit, ziellos in der Stadt umherzustreifen, auf der ständigen Suche nach neuen Herausforderungen. Als ihm an diesem verregneten Nachmittag die Kinder gestatteten, mit ihnen zu kommen, schien das Ende der alltäglichen Tristesse endlich gekommen zu sein. Wie ein Forscher auf einem fremden Kontinent beobachtete Dimitrij fasziniert jede Regung, jede Äußerung, jede Tat der ihm so fremden Kinder. Nachdem er ihnen versprach, am nächsten Tag mit Essen und Geld zurückzukommen, gewährten sie ihm einen weiteren gemeinsamen Tag. Schließlich akzeptierten sie ihn trotz seiner offensichtlichen Andersartigkeit als so etwas wie ein inoffizielles Mitglied. Sie nahmen ihn mit auf ihre Beutezüge auf den vornehmen, häufig von Touristen besuchten Plätzen der Stadt und zeigten ihm sogar ihr gut verstecktes Zuhause, einem fensterlosen dreckigen Raum im labyrinthischen Kanalsystem der Stadt. Dimitrij hingegen beteiligte sich weder an den Diebstählen noch an dem ausgiebigen Schnüffeln von Plastikklebstoff nach getaner Arbeit. Er begleitete sie nur, sah ihnen zu und genoss ihre Gegenwart. Es war vor allem ihre uneingeschränkte Kameradschaft, die er vollauf bewunderte. In seiner Welt behandelte man sich scheinbar respektvoller und höflicher, doch aufrichtige Loyalität und Liebe fand man dort nur selten.

Wie an jedem Tag war auch heute Kolja der Anführer der Gruppe, der selbstsicher den Weg durch die Stadt bestimmte. Dimitrij bewunderte den kräftigen Jungen unverhohlen, und ihn schreckten auch nicht die Geschichten, nach denen Kolja angeblich seinen Vater erstochen haben sollte und nun auf der Flucht vor der Polizei wäre. Die Gruppe ging den Newski-Prospekt entlang, vorbei am prächtigen Beloserskij-Palast und einigen teuren Geschäften, die sich in den letzten Jahren in den prächtigen goldfarbenen Häusern aus der Jahrhundertwende eingenistet hatten. Es waren vor allem exquisite westliche Firmen, die hier ihre für den Großteil der Bevölkerung gänzlich unerschwinglichen Waren anboten. Vor einigen dieser Geschäfte standen schwarz gekleidete Wachmänner und musterten die Kinder misstrauisch - nicht ohne Grund, denn die Gruppe war offensichtlich auf Beutezug. Kasha stieß schon bald Kolja in die Seite und wies auf ein westlich aussehendes Touristenehepaar, das sichtlich beeindruckt die imposanten Gebäude beidseits der Prachtstraße bestaunte. Die Gruppe folgte dem Paar nun in Sichtweite, als es auf den von mehreren wuchtigen Theatern gesäumten Ostrowski-Platz abbog, in dessen Mitte die überlebensgroße Statue von Katharina der Großen zu bewundern war. Die beiden Touristen blieben schließlich vor dem Denkmal stehen, um einige Fotos zu machen. Auf ein geheimes Kommando hin teilte sich die Gruppe wie ein hungriges Wolfsrudel auf der Jagd auf. Kolja nickte anschließend dem kleinen Alexej zu, der sich daraufhin sofort zu den Touristen auf den Weg machte.

„Habt Ihr mal ’n paar Rubel für mich?“, fragte er in niedlichem Russisch-Englisch und riss dabei seine braunen Augen weit auf.

Die Frau reagierte wie erwartet und bückte sich lächelnd zu dem zarten Jungen herunter.

„Oh, Du bist aber ein Süßer“, sagte sie auf Englisch und wollte ihm gerade mütterlich über den Kopf streicheln, als Kasha von hinten den Verschluss ihrer Handtasche öffnete und hineingriff. Der Mann aber war offensichtlich nicht so naiv wie seine Frau und registrierte den Diebstahl aus den Augenwinkeln.

„Wirst Du wohl Deine dreckigen Finger da weg nehmen!“, brüllte er aufgebracht, woraufhin seine Frau aufschreckte und instinktiv die Tasche an sich riss. Dabei entleerte sich deren Inhalt auf dem verschneiten Platz. Noch ehe das Pärchen ihrer Sachen wieder habhaft werden konnte, hatten die Kinder bereits zugegriffen und rannten zurück zum Newski-Projekt. Überraschenderweise folgte ihnen der Mann schnellen Schrittes und schrie permanent nach der Polizei. Die Kinder hatten fast wieder die Hauptstraße erreicht, als der kleine Alexej auf dem glatten Gehweg ins Rutschen kam und der Länge nach auf dem matschigen Boden landete. Doch bevor der Mann den weinenden Jungen ergreifen konnte, stürmte Kolja zurück und schlug den um einen Kopf größeren Touristen mit einem gezielten Schlag ins Gesicht. Der sichtlich verblüffte Mann begann daraufhin zu torkeln und fiel rücklings auf den Gehsteig. Während der Mann wimmernd am Boden lag und sich unentwegt in das verletzte Gesicht fasste, hob Kolja den Kleinen hoch und rannte mit ihm davon. Dimitrij beobachtete die Szene gleichermaßen mit Schrecken und Faszination. Einerseits entsetzte ihn die unerwartete Brutalität des Anführers, andererseits verblüffte ihn dessen Loyalität gegenüber dem kleinen Alexej. Kolja ging selbstlos ein großes Risiko ein, nur um einem Schwächeren zu helfen, mit dem ihn nichts anderes verband, als die Mitgliedschaft in einer elenden Zweckgemeinschaft. Lediglich Kasha missbilligte das Verhalten des Anführers, denn sie raunzte Kolja giftig an, sobald die beiden Jungen den Rest der Gruppe erreicht hatten.

„Musste das sein?“

Kolja aber winkte aggressiv ab und bahnte sich weiter seinen Weg in eine weniger stark frequentierte Nebenstraße des Newski-Prospekts. Die anderen blickten sich stumm an und folgten anschließend ihrem Anführer. Am Tor zu einem schäbigen Hinterhof hielt Kolja an und wartete, bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten.

„Lasst ma sehn, was wir so gezockt habn“, sagte er, ohne noch einmal auf das vorangegangene Ereignis einzugehen.

Kasha fand bei der Beute einen roten Lippenstift und bemalte sich damit sofort großflächig die Lippen. Unter dem Johlen der Gruppe stolzierte sie anschließend auf und ab wie eine Straßenhure. Ein Handy, zwei Kugelschreiber und ein kleines Nageletui verschwanden in den dreckigen Taschen einiger Kinder, während Kolja konzentriert das kleine ledereingebundene Portmonee durchstöberte.

„Immerhin 200 Rubel und 50 Dollar“, war sein Fazit, das von der Gruppe mit lautem Geschrei gefeiert wurde, wie der Sieg über eine feindliche Armee. Kolja stemmte seine Arme in die Hüften und fragte:

„Was sollen wir mitm ganzen Zaster anfangn?“

„Was zu Essen kaufn“, rief Kasha.

„Süßigkeiten“, warf Alexej unter dem Gelächter der anderen ein. Schließlich meinte Iwan, ein schüchterner Junge mit Silberblick, sie könnten sich doch jetzt auch eine Flasche Wodka kaufen. Sofort trat Kolja auf ihn zu und schüttelte ihm demonstrativ die Hand.

„Spitzenidee, Alter“, sagte er laut.

„Was solln daran spitze sein?“ fragte Kasha ärgerlich.

„Warum bist `n Du heut` so zickig? Wir wollen doch nur `n wenig Spaß hab`n, eye“, antwortete Kolja mit sanfter Stimme, „oder etwa nich´?“

Die Gruppe begann wieder lauthals zu schreien und Kasha begriff, dass sie heute mit Vernunft wenig erreichen würde.

Dimitrij aber schaute dem Ganzen nur amüsiert zu. Er registrierte eine deutliche Veränderung in der Gruppe, die offensichtlich durch den gewaltsamen Angriff auf den Touristen ausgelöst worden war. Bisher waren die kleinen Raubzüge eher harmlose Kinderstreiche als Verbrechen gewesen. Außer dem Verlust von ein paar Rubeln oder Dollars geschah den Opfern üblicherweise nichts. Heute jedoch trat die gefährliche Wildheit der Kinder offen zutage und er war gespannt, wozu diese Kinder noch imstande waren.

Die Gruppe setzte ihren Weg aus dem Zentrum fort und betrat eine schmale graue Gasse, in der sich um diese Tageszeit keine Passanten aufhielten. Alsbald machte Kolja vor einem kleinen Geschäft mit dreckigen Scheiben halt und nickte den anderen zufrieden zu. Auf einem vergilbten Schild über dem Eingang waren in abgeblätterten Buchstaben die Worte „Newski-Supermarkt“ zu lesen. Doch im Inneren erinnerte rein gar nichts an einen Supermarkt. Lediglich einige verbeulte Dosen fanden sich in den staubigen Regalen sowie einige Spirituosen. Es stank nach kaltem Rauch und altem Schweiß. Dimitrij wunderte es nicht, dass außer dem Besitzer, einem alten mürrischen Mann mit gelber Haut, keine anderen Leute im Laden waren. Während sich die anderen gelangweilt umschauten, ging Kolja zielstrebig auf das Spirituosenregal zu und nahm sich eine Flasche billigen Wodka. Als er damit zu der antik anmutenden Kasse trat und sie auf die Theke stellte, räusperte sich der Alte lautstark.

„Ich verkaufe keinen Wodka an Gören.“

„Das is nich für uns“, berichtigte ihn Kolja, „das is für mein`n Vater.“

„Dann soll Dein Vater gefälligst selbst vorbeikommen und es kaufen“, sagte daraufhin der Alter unfreundlich.

„Bitte, lieber Mann“, erwiderte Kolja mit gespielt sanfter Stimme, „mein Vater wird mich schlagn, wenn ich dem nicht `n Wodka bringe.“

„Das ist mir egal. Vermutlich hast Du es sogar verdient.“ Der Alte nahm die Flasche vom Tresen und ging damit zurück zum Regal und stellte sie dort wieder in die Reihe.

„Kolja“, flüsterte Iwan dem Anführer zu, „zeig ihm doch die Kohle.“

Der alte Mann schien es gehört zu haben und baute sich drohend vor den Kindern auf.

„Verdammt noch mal! Ich will Euer Geld nicht“, sagte er gereizt und zeigte zur Tür, „also, macht, dass Ihr fortkommt!“

Dimitrij hatte sich mit Alexej und Kasha bereits zum Ausgang umgewandt, als hinter ihnen lautes Gepolter zu vernehmen war. Kolja hatte den Alten zu Boden gerungen und saß nun auf ihm und schlug ihm wieder und wieder ins Gesicht. Der Ladenbesitzer keuchte und wimmerte.

„Hör auf!“ schrie Kasha hysterisch, doch Kolja schlug weiter auf den Alten ein. Erst als ihn Iwan und Dimitrij an den Armen packten und fortzogen, gab er auf. Dennoch verließ er nicht sofort den Laden, sondern stieg trotzig über den immer noch am Boden kauernden Mann und nahm sich die Flasche Wodka erneut aus dem Regal. Plötzlich war in der Ferne das Geheul einer Polizeisirene zu vernehmen, worauf die Kinder panisch zur Ladentür stürmten. Dimitrij war der Letzte und wollte gerade ins Freie laufen, als ihn etwas am Bein festhielt. Es war der alte Mann, der ihn mit blutigem Mund böse angrinste. So sehr Dimitrij auch versuchte, dem festen Griff des Alten zu entkommen, es war nicht möglich, ohne Gewalt anzuwenden. Das Sirenengeräusch kam immer näher. Dimitrij musste sich entscheiden. Schließlich war alle Zurückhaltung der Angst gewichen, von der Polizei erwischt zu werden, und er trat mit dem freien Fuß nach dem Kopf des alten Mannes. Er traf ihn unbeabsichtigt mit einer solchen Heftigkeit, dass ein Knochen im Gesicht des Alten mit einem widerlichen Geräusch brach und der Griff des Mannes augenblicklich erschlaffte. Dimitrij rappelte sich auf und stolperte aus dem Laden, wo bereits zwei Polizeiwagen auf ihn warteten.

26. Dezember 2004, Bang Tao, Thailand

Als er seine verklebten Augen unter Mühen öffnete, stand die Welt auf dem Kopf. Er betrachtete verwundert den Schlamm und den Müll, der sich über seinem Haupt zu einem riesigen matschigen Himmel ausgebreitet hatte, während die Sonne zu seinen Füßen gnadenlos zu ihm hinauf brannte. Sein Mund war so trocken und salzig wie eine stillgelegte Saline und seine schmerzende Schulter stand in einem irrsinnigen Winkel von seinem Oberkörper ab. Wie bin ich bloß in diese Hölle geraten, fragte er sich ohne die Spur von Selbstmitleid. Er hatte keine Erklärung dafür. Plötzlich kam ihm ein kleiner dunkelhäutiger Mann entgegen, doch dieser ging zu Dimitrijs Verwunderung kopfüber. Schließlich näherte er sich vorsichtig Dimitrijs Gesicht und betrachtete ihn so interessiert, als wäre er der erste Mensch, den er je gesehen hatte.

Dann wandte er ihm den Rücken zu und rief etwas in einer fremden, glucksenden Sprache. Daraufhin kamen zwei weitere dunkelhäutige Personen angerannt und begannen sogleich, an Dimitrijs geschundenem Körper zu zerren. Der Schmerz in der Schulter nahm zu und er hätte den Männern am liebsten gesagt, dass sie aufhören sollten, aber kein Laut kam über seine rissigen Lippen. Etwas, das seine Brust die ganze Zeit zusammengeschnürt hatte, löste sich ohne Vorwarnung und Dimitrij fiel. Als er einen Wimpernschlag später auf dem Boden aufschlug, wurde der Schulterschmerz unerträglich und Dimitrij heulte wild auf, doch zum Glück wurde die Schulter durch den Sturz wieder in das lädierte Gelenk zurück gedrückt. Die drei Thais zogen ihn vorsichtig auf die Beine und stützten ihn halbherzig. Allmählich erkannte er die Welt um sich herum wieder. Er befand sich offensichtlich in einem Palmenhain. Doch viele Bäume waren umgeknickt und der Untergrund glich einer ausgedehnten Müllhalde. Am meisten aber verblüffte ihn die große Motoryacht, die neben ihm kieloben mitten zwischen den Stämmen lag. Als er seine alte Umhängetasche von einem Metallpfeiler des Bootes herunterbaumeln sah, kam die Erinnerung plötzlich zurück. Die Thais fragten ihn etwas, das er nicht verstand. Er nickte ihnen nur dankend zu und zeigte auf das Boot. Mit ratlosen Gesichtern blickten sich die Männer an, verabschiedeten sich und liefen zurück in den zerstörten Palmenhain. Dimitrij hingegen versuchte erst einmal das Gewirr der einströmenden Gedanken zu ordnen: Er war auf Phanniphas Boot gewesen, als der Tsunami sie erfasst hatte. Er musste unbedingt wissen, ob noch jemand am Leben war und bahnte sich auf bedenklich wackeligen Beinen den Weg zurück in das Boot. In dem geräumigen Innenraum stand das Wasser bis zum Knie und Möbel waren zu einem amorphen Knäuel aufgetürmt. Als er die Tür zu einem dahinterliegenden Raum öffnete, kam ihm ein großer Schwall Meerwasser entgegen, der ihn fast davon gespült hätte. Als er danach vorsichtig in den Raum hineinschaute, erkannte er in dem Restwasser, das dort kniehoch plätscherte, die schlaffen Körper der beiden Bikinimädchen. Dimitrij hatte in seinem Leben schon viele Tote gesehen, mehr, als ihm lieb war, und dennoch berührte ihn der Anblick jedes Mal aufs Neue. Er beschloss, seine Suche abzubrechen, und verließ die Yacht wieder. Der Tsunami schien den ganzen Küstenstreifen verwüstet zu haben. Wo bis heute Morgen noch ein tropisches Paradies aus üppigen Pflanzen gewuchert war, bot sich ihm jetzt nur noch eine unwirtliche Trümmerlandschaft. Ihn erinnerte diese Welt an ein Kriegsgebiet, das er einmal im Fernsehen gesehen hatte. Eine vietnamesische Landschaft nach einem Napalm-Angriff. Sein Blick wurde von etwas gefangen, das zuerst wie ein gewöhnlicher Haufen aus Palmwedeln und Müll gewirkt hatte. Doch beim Näherkommen sah Dimitrij, dass unter den Palmwedeln unzweifelhaft zwei braune Beine hervorragten. Sie gehörten zu einem kleinen Mann in Tenniskleidung, der bäuchlings im Dreck lag. Phannipha. Dimitrij wusste nicht, ob er über den Tod des Thais erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Vielleicht wäre das Geschäft mit dem Alten ja doch noch zustande gekommen, aber sicher war er sich dabei nicht. Zum Glück hatte er das Geld nicht mit an Bord genommen, dachte er beruhigt. Doch dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Das Geld. Was wäre, wenn der Tsunami auch das Cottage und den darin befindlichen Koffer davon gespült hätte. Dimitrij begann mühsam zu gehen, dann zu laufen, schließlich zu rennen. Atemlos erreichte er wenig später die breite Straße, die zur Hotelanlage führte. Hier regierte inzwischen das Chaos. Menschen und Wasserbüffel irrten umher, Auto und Lastwagen versuchten verzweifelt, einen Weg auf der teilweise fortgespülten Straße zu finden. Kaum einen Kilometer entfernt hatten sich bereits Hunderte von Touristen vor dem Eingang des Hotels versammelt. Viele schrien wild durcheinander, andere weinten hemmungslos oder umarmten einander. Wieder andere saßen einfach nur mit leerem Blick auf der Straße und schienen ihr Schicksal gerade erst begriffen zu haben. Keiner beachtete in dem Chaos den jungen Russen in seinem zerrissenen Anzug, der mit gehetztem Ausdruck im Gesicht in die Anlage sprintete. Zu Dimitrijs Enttäuschung war der Grad der Zerstörung auf dem Hotelgelände nicht geringer als in dem Palmenhain. Hier hatte sich die herrliche Parkanlage in eine Welt aus Schlamm, Trümmern und Müll verwandelt. Dimitrij hatte unter diesen veränderten Gegebenheiten Schwierigkeiten, die Orientierung zu bewahren. Nichts schien dem Hotel zu gleichen, das er heute Morgen verlassen hatte. Kurze Zeit später erkannte er das Haus, das in den letzten Tagen sein Domizil gewesen war. Es machte im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden der Anlage einen recht intakten Eindruck. Als er das Haus jedoch umrundete, erkannte er zu seiner Enttäuschung, dass die gesamte Vorderfront zusammengebrochen war und die Flut auch im Innenraum gewütet hatte. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend betrat er das verwüstete Zimmer. Sein erster Blick fiel auf den schmalen Kleiderschrank, der jetzt umgestürzt auf dem schlammbedeckten Fußboden lag. Sofort lief er darauf zu und begann hastig die Schrankfächer zu durchwühlen, doch hier fand sich nichts als nasse Kleidung. Verzweifelt sah sich der Russe um. Seine Habseligkeiten schienen von der Flut in die hintere Ecke des Zimmers gespült worden zu sein. Er kniete sich auf den Boden und nahm jedes Kleidungsstück näher in Augenschein. Offensichtlich war der gesamte ehemalige Schrankinhalt noch vorhanden. Bis auf den Koffer. Im Gefühl der aufsteigenden Panik rutschte Dimitrij auf dem Boden entlang und durchsuchte jeden Fleck des Schlafraums. Vergebens. Der Koffer war fort. Dimitrij setzte sich erschöpft auf das feuchte Bett und überlegte angestrengt. Nein, der Koffer war zu schwer, als das er mit dem abfließenden Wasser hätte fortgeschwemmt werden können. Ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, als dass der Koffer entwendet worden war. Er dachte sofort an Phanniphas Männer, doch verwarf den Gedanken sofort wieder. Der alte Mann war zu verblüfft darüber gewesen, dass er das Geld nicht mit an Bord gebracht hatte. Im hintersten Winkel seines Amok laufenden Verstands reifte gerade ein weiterer Gedanke, der sich mehr und mehr den Weg in sein Bewusstsein bahnte. Er sah plötzlich das Gesicht des betrunkenen Deutschen vor sich, der sich gestern Abend in sein Cottage verirrt hatte. Er war der einzige, der hier auf Phuket das Geld zu Gesicht bekommen hatte. Was wäre, wenn sich dieser Kerl einfach das Geld genommen hätte. Entgegen aller rationaler Einwände, dass der Deutsche nicht den Eindruck eines Diebes gemacht hatte und zum Zeitpunkt der Katastrophe sicher selbst mit dem Leben gekämpft hatte, und sicherlich nicht die Muße besessen hatte, fremde Reichtümer zu entwenden, blieb dieser vage Verdacht dennoch bestehen und wollte einfach nicht mehr weichen. Dimitrij trat aus der Ruine seines Cottages und schaute sich um. Inzwischen schienen die Touristen die Anlage fast vollständig verlassen zu haben und die Hotelangestellten begannen bereits mit den Aufräumarbeiten. Wenige Meter entfernt sah er mehrere Männer angestrengt in einem Trümmerhaufen wühlen. Einer von ihnen wurde offenbar fündig und rief die anderen hektisch etwas zu sich. Mit vereinten Kräften zogen sie etwas aus dem schlammigen Haufen, das sich schnell als lebloser menschlicher Körper entpuppte. Es handelte sich offenbar um den beleibten Körper eines älteren Mannes in Badehose. Für einen kurzen Moment blitzte bei Dimitrij die Hoffnung auf, es wäre die Leiche des Deutschen, doch auf den zweiten Blick war der Tote hier älter und kleiner. Die Männer legten den Leichnam vorsichtig auf den Boden und standen einen Moment lang stumm um ihn herum, als würden sie noch einmal ehrenvoll seiner gedenken, ehe sie sich wieder dem restlichen Trümmerhaufen zu wanden. Bald würde er selbst genauso tot sein wie dieser Tourist, dachte Dimitrij bitter. Dabei hatte er noch vor drei Monaten geglaubt, dass der Auftrag in Thailand die Chance seines Lebens sein könnte. Es war weniger der damit verbundene Aufstieg innerhalb der Organisation gewesen, der ihn so gereizt hatte, sondern vielmehr die mit dem Status verbundene Freiheit. Für diese Freiheit und sei sie noch so gering, noch so ätherisch, hätte er alles getan. Keine Gefahr wäre zu groß gewesen, kein Verbrechen zu grausam. Es hätte für Dimitrij das Ende seiner jahrelangen selbstverschuldeten Sklaverei bedeutet. Spätestens jetzt aber waren alle Chancen zunichte gemacht worden. Nun ging es nur noch darum, sein bedauernswertes Leben zu retten. Doch dazu musste er auf schnellstem Wege den Deutschen und vor allem den Koffer finden.

Er rannte zurück zum Portal der Hotelanlage, wo inzwischen Hunderte von Touristen auf ihren Abtransport warteten. Ein europäischer Hotelmanager versuchte gerade die aufgebrachte Menge zu beruhigen, doch als die ersten Pickups und Songtaos, die allgegenwärtigen LKW-ähnlichen Taxis in Thailand, vorfuhren, gab es kein Halten mehr. Die Menge stürzte kreischend voran und versuchte einen der begehrten Plätze in den Wagen zu ergattern. Dimitrij aber suchte in dem allgemeinen Chaos nach einem großgewachsen Mann mit blonden Haaren, musste jedoch bald einsehen, dass die Suche in dem Gewimmel schier unmöglich war. Er beobachtete wie die Wagen wieder davonbrausten und einige Verzweifelte hinter ihnen herliefen, während sich die zurückgebliebene Menge wieder etwas beruhigte. Dimitrij atmete tief ein und zwang sich zur Geduld.

„Ich werde Dich finden, Fremder“, murmelte er leise vor sich hin, „und wenn es bis zum Ende aller Tage dauern sollte.“

Walfreiheit

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