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1. Das verlorene Königreich

25. Dezember 2004, Patong, Thailand

Ein eifriger kleiner Kellner führte das Paar an den einzigen noch freien Tisch mit Meerblick und sagte etwas in einem Gemisch aus Englisch und Thailändisch, das sie beide nicht verstanden. Das Paar, das nun Platz nahm, hätte optisch kaum unterschiedlicher sein können. Während er ein breitschultriger Hüne in ausgewaschenem T-Shirt und Jeans war, wirkte die kleine dunkelhaarige Frau in ihrem teuren Kleid grazil und vornehm. Sie setzten sich und blickten beide, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, hinaus auf die bunt erleuchtete Bucht von Patong. Von überall her erklang Musik und das Stimmengewirr der vielen Menschen, die es an diesem heißen Weihnachtsabend auf die Straßen der Stadt gezogen hatte. Das Paar aber schien von der allgemeinen Ausgelassenheit gänzlich unberührt zu sein. Während sie in die ledereingebundene Speisekarte vertieft war, beobachtete er missmutig die vielen Pärchen, die unterhalb des Balkons vorbei schlenderten.

„Kannst Du Dich vielleicht mal schneller entscheiden? Ich habe Hunger“, sagte der Mann mit mürrischer Stimme, ohne seine Frau dabei anzuschauen. Sie schenkte ihm einen langen missbilligenden Blick und widmete sich daraufhin wieder der Karte. Schließlich kam der kleine Kellner zurück und fragte etwas Unverständliches, woraufhin der Mann Hühnchen mit Cashewkernen und ein thailändisches Bier bestellte. Da die Frau ihre Menüwahl noch immer nicht abgeschlossen hatte, begann ihr Mann nervös mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln.

„Ich hätte gerne ein Pat Pak Ruam, aber bitte ohne Pilze, und ein Mineralwasser“, sagte die Frau schließlich in fließendem Englisch, woraufhin der Mann sofort das Trommeln einstellte.

Der Kellner nickte freundlich und verließ den Tisch.

„Warum setzt Du mich denn immer so unter Druck?“

„Du schaust stundenlang in die Karte und bestellst am Ende doch immer das Gleiche“, erwiderte der Mann inzwischen eher belustigt als erbost.

„Na und. Ich bin hier im Urlaub und kann so lange in die Karte schauen, wie es mir gefällt.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte trotzig die Arme. „Im Übrigen verstehe ich nicht, warum Du schon den ganzen Abend so biestig bist.“

„Diese Hitze geht mir auf die Nerven“, antwortete er erneut mürrisch und fuhr sich mit der Hand durch die ungeordneten kurzen Haare.

„Daran hättest Du denken sollen, bevor Du nach Thailand gereist bist.“

Er schaute daraufhin wieder demonstrativ auf die Bucht, ohne etwas zu erwidern. Auf die fröhlichen Menschen in den Straßen und Bars, die lachten und sich ausgelassen unterhielten. Jeder schien sich an diesem Abend seines Lebens zu erfreuen. Er schämt sich zwar dafür, aber ihm waren diese Menschen heute Abend allesamt verhasst. „War trotzdem eine blöde Idee, in die Tropen zu fahren.“

„Was meinst Du?“, hakte sie nach. „In die Tropen zu fahren oder überhaupt gemeinsam zu verreisen?“ Er antwortete nicht auf ihre Frage, denn er wusste um die Konsequenz seiner Antwort. Vor genau dieser Konsequenz hatte Klaas Petersen seit mehreren Monaten eine große Angst. In den letzten zwei Jahren hatte er bereits mehr verloren, als er ertragen konnte. Wenn er jetzt wahrheitsgemäß geantwortet hätte und gesagt hätte, was er wirklich empfand, wäre auch noch das Letzte, was sein Leben noch zusammenhielt, zerstört. Doch Rieke hakte nach.

„Du meinst also, es war keine gute Idee, unserer Ehe mit dieser Reise noch einmal eine Chance zu geben?“

„Das habe ich nicht gesagt“, schob er schnell nach.

Sie blickte ihm tief in die eng zusammenstehenden Augen, als versuchte sie seine wahren Gedanken dahinter zu erkennen. Er aber wendete sich ab.

„Merkst Du denn nicht, wie Du Dich immer mehr von mir entfernst?“, sagte sie mit sanfter Stimme und versuchte seine Hand zu greifen, doch er zog sie hastig fort. Es war mehr ein Reflex, als eine bewusste Handlung.

„Nun schieb mir bitte nicht wieder den schwarzen Peter zu. Schließlich bist Du diejenige, die hier ständig unterwegs ist und mich alleine im Hotel zurücklässt.“ Klaas versuchte seine Wut zu kontrollieren, doch sie sickerte ständig wieder an die Oberfläche wie bei einer leckgeschlagen Überlandleitung. Hätte er doch den Mut, ihr zu sagen, wie sehr er sie brauchte, wie sehr er sie vermisste. Die alte Rieke, die ihn immer verstanden hatte, immer für ihn da gewesen war.

„Du meinst doch nicht etwa den Tauchkurs“, zischte sie ihm zu, als ihr bewusst wurde, dass die Leute an den Nachbartischen mittlerweile neugierig zu ihnen herüber schauten, „Du wolltest ihn doch plötzlich nicht mehr mitmachen…“

„…weil ich in meinem Leben schon genug getaucht bin“, unterbrach er sie barsch. Ein unangenehmes Schweigen folgte, das schließlich zur Erleichterung beider durch eine Gruppe hektischer Kellner unterbrochen wurde, die eine Vielzahl von Tellern und Schalen auf den Tisch stellten und wieder gingen. Sie aßen ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Für sie schien das Schweigen ebenso bedrückend zu sein, wie für ihn. Zu allem Überfluss stellte sich sein in der Karte als „mäßig gewürzt“ beworbenes Essen als unerträglich scharf heraus, und er war nach nur wenigen Gabelspitzen schweißgebadet. Während Klaas dem Kellner die Bestellung eines weiteren Bieres signalisierte, kippte er das süßliche Singha-Bier mit einem einzigen Zug herunter, ohne jedoch eine wirkliche Erleichterung zu verspüren. Das zweite Bier erreichte den Tisch und wurde ebenfalls auf der Stelle geleert und die nächste Bestellung auf den Weg gebracht.

„Kannst Du Dich bitte ein wenig zusammenreißen?“, ermahnte ihn Rieke.

„Herr Gott, ich habe mir an diesem blöden Essen den Mund verätzt“, erwiderte er patzig und stocherte hektisch in seinem Essen herum.

„Und was wird das jetzt, wenn es fertig ist?“

„Ich versuche nur, diese roten Punkte auszusortieren. Die scheinen die Quelle des Übels zu sein.“ Obwohl der Tellerrand bereits vor abgeschobenen Pflanzenstücken rot leuchtete, schienen im Essen immer mehr von ihnen aufzutauchen. Resignierend stellte Klaas fest, dass er diesen Kampf wohl verlieren würde.

„Klaas, ich finde das jetzt etwas widerlich. Dann lass es doch lieber stehen.“

„Ich habe aber verdammt noch mal Hunger“, antwortete Klaas lauter als geplant. Und wieder kamen die neugierigen Blicke von den benachbarten Tischen.

Das nächste Bier wurde geleert und ein doppelter Whisky bestellt.

Nachdem wieder minutenlang schweigend gegessen wurde, legte Rieke plötzlich ihr Besteck ab und schaute Klaas ernst an.

„Du meinst also, ich würde Dich vernachlässigen?“

Klaas stocherte weiter in seinem Essen, als hätte er die Frage nicht mitbekommen.

„Hast Du etwa das Gefühl, Du würdest noch besonders viel in diese Beziehung investieren?“, entgegnete er leise, ohne aufzublicken. Rieke machte einen sichtlich erschrockenen Eindruck und lehnte sich zurück. Obwohl sie versuchte, es zu unterdrücken, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

„Geht es hier wieder um Anneke?“

„Nein“, sagte Klaas hektisch, als wollte er dieses Thema auf jeden Fall vermeiden, „hier geht es darum, dass Du Dich in den letzten Jahren geändert hast. Zum Nachteil für unsere Beziehung. Meiner Meinung nach bist Du diejenige, die sich fragen muss, wie sie noch zu unserer Beziehung steht. Nicht ich.“

„Du machst es Dir sehr leicht, Klaas“, antwortete Rieke mit brüchiger Stimme, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Ich habe Dich gebraucht, aber Du warst nicht da“, flüsterte er, „Du hast Dich weiter in Deine Arbeit geflüchtet, während ich zuhause mit meinen Gedanken eingesperrt war. Ich hätte auch gerne eine Karriere gehabt, die meinem Leben in dieser Situation Sinn und Halt gegeben hätte, aber die hatte ich nicht. Ich hätte auch gerne eine Zukunft, an der ich mein Leben neu ausrichten kann, aber ich habe scheinbar keine.“

„Dein Selbstmitleid kotzt mich manchmal an“, entgegnete Rieke wütend, „was tust Du denn bitte schön, um wieder eine berufliche Perspektive zu bekommen? Ich kann mich an keine Bewerbungsschreiben erinnern, an Telefonate mit ehemaligen Kollegen, um neue Möglichkeiten auszuloten.“

„Spar Dir Deine Arroganz!“, zischte Klaas sie wütend an, „Du weißt genau, wie gering die Chancen für einen Übervierzigjährigen in der Wissenschaft sind.“

„Dann schau Dich im Ausland um“, unterbrach ihn Rieke.

„Das hättest Du wohl gerne.“

„Immer noch besser, als Dich zuhause zu verkriechen und die Welt um Dich herum zu verfluchen, denn die ist nicht Schuld an Deiner Situation.“

„Ach nein? Du meinst also, die Art, wie man mich aus dem Institut entfernt hat, wäre fair abgelaufen?“

„Das habe ich nicht gesagt, aber …“

„Ich hatte eben keinen Protegé“, warf Klaas wütend ein, „der mir den Weg ebnet. Vermutlich biete ich für so eine solche Unterstützung zu wenig sexuelle Anreize.“ Den letzten Satz sagte er eher unbedacht und bereute ihn sofort wieder. Dennoch war in Riekes Augen deutlich die Bestürzung darüber zu erkennen.

„Du sprichst mir also die Fähigkeiten ab, durch meine Leistungen als Ärztin und Forscherin meine Karriere selbst voranbringen zu können?“

„So habe ich das nicht gemeint. Aber Deine unbestrittenen Leistungen sind sicherlich für diesen hinterhältigen geilen Bock von Wensing nicht der einzige Grund gewesen, Dich zu fördern. Es würde mich nicht wundern, wenn er als Gegenleistung erwartet, dass Du mit ihm schläfst.“ Klaas lachte zynisch und kippte sich einen weiteren Whisky hinunter. Dann fiel ihm plötzlich Riekes Gesichtsausdruck auf, der sich innerhalb eines winzigen Augenblicks geändert hatte. Da war nicht mehr dieser trotzige Ausdruck in ihren Augen, die wütend zusammengekniffenen Augenbraun, der schmale Mund. Jetzt war in diesem Blick Angst und Verzweiflung. Ihre Lippen zitterten und das Gesicht war puterrot. Klaas versuchte diese unerwartete Veränderung richtig zu deuten, versuchte, sich jedes seiner Worte noch einmal in Erinnerung zu rufen. Einem unkontrollierten Impuls folgend formten sich seine Lippen und die Worte verließen seinen Mund, ohne von ihm noch einmal auf mögliche Folgewirkungen überprüft worden zu sein.

„Schläfst Du mit ihm?“

Klaas meinte, Riekes Augen hätten sich noch mehr geweitet. Es vergingen wenige Sekunden, die ihm wie eine ewig andauernde Folter vorkamen. Rieke schüttelte den Kopf, während ihr Ströme von Tränen über das Gesicht liefen und ihre Kopfbewegung Lügen straften.

„Oh Gott“, entfuhr es ihm und er raufte sich die Haare. Es war, als würde der letzte Faden, der ihn vor dem endgültigen Absturz bewahrt hatte, jetzt wie in Zeitlupe zerreißen. Nun gab es nichts mehr als die Dunkelheit. Ihre Fingerspitzen berührten seinen Arm und brannten auf seiner Haut wie ein glühendes Eisen, so dass er zurückzog. Wie konnte sie ihn nur so verraten. Und dann noch mit so einem Schwein wie Wensing. Wie in Trance stand er auf und taumelte. Rieke sagte noch etwas, doch er wiegelte ab. Nein, nein, zu spät. Jetzt ist alles aus. Er bahnte sich stolpernd den Weg zum Ausgang. Vorbei an all den glücklich grinsenden Pärchen, an all dieser unerträglichen Fröhlichkeit.

13. August 1972, Kiel, Deutschland

Wie so oft in diesem Sommer saß er auch jetzt hoch oben in der großen Rotbuche und schaute hinab auf sein Königreich, wie er es im Geheimen nannte. Die schattige Rasenfläche, die ausladende Terrasse und die kiesbedeckte Einfahrt. Mit ein wenig Anstrengung konnte er sogar noch die Passanten beobachten, die gelegentlich an der langen weißen Mauer vorbeischlenderten. Er selbst aber war hinter den starken Ästen und dem dichten Blattwerk vor allen Blicken verborgen. Das ungewöhnlich starke Längenwachstum des letzten Jahres hatte es ihm endlich ermöglicht, auch die höheren, bislang unzugänglichen Stockwerke des alten Baumes zu erreichen. Und dort wartete ein wahres Paradies auf ihn. Hier gab es nicht nur eine üppige Verzweigung mächtiger Äste, die ihm ein bequemes, stundenlanges Sitzen ermöglichte, sondern auch ein tiefes Astloch, in dem sich vortrefflich kleine Kostbarkeiten wie Schokolade, Sammelkarten oder Murmeln verstecken ließen. Andere Kinder hätten das Versteck vermutlich sofort ihren Freunden gezeigt. Aber Klaas Petersen war nicht so ein Kind. Es gab nicht viele, die er guten Gewissens Freunde nennen konnte, und diesen wenigen hätte er sicherlich nicht seine geheime Welt offenbart. Er blieb lieber für sich allein und beobachtete das Treiben der Welt, ohne sich daran zu beteiligen.

An diesem Tag gab es noch einen weiteren Grund, die Welt außerhalb seiner Baumkrone zu meiden. Seine Eltern hatten sich mal wieder lautstark gestritten, geschrien, Türen zu geschmissen, geweint, sich eingeschlossen. Klaas konnte diese Streitigkeiten, die mindestens einmal im Monat scheinbar aus dem Nichts aufbrandeten, nicht ertragen. Eltern sollten sich nicht streiten, das wusste er genau, zumindest nicht so oft und so laut, wie es seine Eltern für gewöhnlich taten. Gerne wäre er dazwischen gegangen und hätte versucht, zu schlichten, aber er verstand den Grund der Streitereien nicht. Manchmal glaubte er, es würde gar keine Gründe dafür geben, ohne sich vorstellen zu können, wie so etwas funktionieren sollte.

Der Streit an diesem Tag hatte direkt nach dem Mittagessen begonnen. Klaas Mutter hatte plötzlich etwas wie „unerträglich“ und „Ignorant“ gebrüllt und in der Küche lautstark einen Teller zerschmissen. Bei dem Geräusch war Klaas zusammengezuckt und hatte schleunigst sein Zimmer im ersten Stock aufgesucht. Auf der Treppe war ihm sein Vater begegnet, der ihn mit wutverzerrtem Gesicht angestarrt hatte, als hätte Klaas selbst etwas mit dem Streit zu tun gehabt. Der Junge hatte die geschwollene Ader gesehen, die dem Vater quer über die Stirn lief. Wenn Vater nicht wütend war, konnte man sie nicht sehen. Sie war für Klaas so etwas wie ein unzweideutiges Alarmsignal. Nachdem er die Tür seines Zimmers behutsam geschlossen hatte, um den Zorn seiner Eltern nicht auf sich zu ziehen, hatte er sich etwas sicherer gefühlt. Hier oben gab es keinen Streit. Hier war die Welt noch, wie sie sein sollte. Klaas hatte sich an den breiten weißen Schreibtisch am Fenster gesetzt, um sich mit dem Malen eines Bildes abzulenken. Wie so oft hatte er das Segelschiff gemalt, das er letzten Sommer in der Förde gesehen hatte. Einen stolzen Dreimaster mit pechschwarzem Rumpf. Er stellte sich gerne vor, dass das Schiff sich einfach vom Wind über die Meere treiben ließ und auf diese Weise viele noch unentdeckte Länder ansteuerte. Vielleicht könnte er selbst eines Tages auf einem solchen Schiff als Schiffjunge anheuern. Vielleicht gäbe es dort einen brummigen alten Kapitän, der ihm alles über die Seefahrt beibrachte, und vielleicht auch eine unerschrockene, aber freundliche Mannschaft, mit der er spannende Abenteuer erleben durfte.

Der Streit hatte sich inzwischen in den ersten Stock verlegt und das hysterische Gebrüll seiner Eltern war auch in Klaas Zimmer gedrungen. Er hatte versucht, sich die Ohren zuzuhalten, doch die Geräusche aus den Nachbarzimmern konnte er nicht aussperren. Im Geiste hatte er die verheulten Augen seiner Mutter vor sich und die Ader auf der Stirn seines Vaters. Als er gehört hatte, dass niemand mehr im Flur war, war er aus dem Zimmer gerannt, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten.

Und nun saß er oben in seinem Baum und schaute durch die Lücken zwischen den Blättern auf die friedliche Welt unter ihm. Klaas sah die Libellen über dem kleinen Gartenteich tanzen, die Spatzen in Scharen aus dem Haselnussbusch herausflattern und voller Lebensfreude wieder zurückkehren. Er sah eine getigerte Katze geschmeidig über die weiße Gartenmauer schleichen und die weiße Wäsche auf der Wäscheleine der Nachbarn wie Segel im warmen Sommerwind flattern. Nein, dachte er, in seinem Königreich gab es keinen Streit.

Plötzlich öffnete sich die Haustür und seine Mutter trat heraus. Sie hatte offensichtlich aufgehört zu weinen.

„Klaas“, rief sie mit sich überschlagender Stimme und blickte sich um. Klaas verwarf den ersten Impuls, sich zu erkennen zu geben, und beobachte neugierig, wie sie hilflos im Garten herumging und seinen Namen rief.

„Klaas, bist Du da? Klaas, Du müsstest einmal zu mir kommen.“

Da war ein merkwürdiger Ton in ihrer Stimme, der ihn zurückhielt, ihrer Bitte sofort Folge zu leisten. Wenn er es richtig bedachte, klang es sogar wie eine Falle.

„Klaas, bitte!“ Die Stimme seiner Mutter nahm an Schärfe zu. Widerwillig kletterte er von dem Baum herunter und lief ihr mit einem unguten Gefühl in der Magengegend entgegen.

„Was ist denn los, Mama?“, fragte er mit betont unschuldiger Stimme. Erst jetzt bemerkte er einen Ausdruck in ihren Augen, den er bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Als sie ihn auch noch in ihre Arme schloss, was sie für gewöhnlich nicht zu tun pflegte, war sich Klaas sicher, dass etwas nicht stimmte. Sie beugte sich zu ihm herunter, packte ihn an den Schultern und sah ihn mit einer Intensität an, die er kaum ertragen konnte.

„Geh bitte hoch in Dein Zimmer und pack Deine Spielsachen und Deine Schulsachen in den Koffer auf Deinem Bett!“

„Wieso? Verreisen wir denn?“, fragte er voller Unverständnis.

„So etwas in der Art“, sagte die Mutter weinend, „so etwas in der Art.“

Sie nahm ihn schließlich an der Hand und führte ihn zurück ins Haus. Als sie am Wohnzimmer vorkamen, sah er seinen Vater regungslos im Sessel sitzen und aus unerfindlichen Gründen die Stehlampe anstarren. Die Mutter aber zog ihn weiter, die Treppe hinauf.

Auf seinem Bett lag tatsächlich ein großer aufgeklappter Lederkoffer. Die Mutter bemerkte, dass ihr Sohn nicht recht wusste, was er tun sollte, und umfasste seine schmalen Schultern erneut.

„Pack nur das Notwendigste ein. Den Rest werde ich später abholen lassen.“

„Wohin fahren wir denn?“, fragte Klaas und seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Weg“, sagte seine Mutter nur und machte Klaas damit mehr Angst, als wenn sie gesagt hätte, dass sie auf den Mond fliegen würden.

„Kommen wir denn nicht wieder?“

Die Mutter sah in scharf an und begann hektisch Bücher und Spielzeug in den Koffer zu werfen.

„Tu einfach, was ich Dir aufgetragen habe.“

Klaas begann zu weinen. Er verstand das alles nicht. Obwohl er ahnte, dass ihr Handeln schlimme Folgen für ihn haben würde, half er seiner Mutter, verschiedene Dinge aus seinem Schrank in den großen Koffer zu packen und seine Verzweiflung wuchs mit jedem Gegenstand, der in dem Koffer verschwand. Nachdem der Koffer bis zum Rand mit seinen Habseligkeiten angefüllt war, verschloss ihn die Mutter mit zittrigen Händen und trug ihn stöhnend aus dem Zimmer. Klaas aber blieb stehen und blickte sich noch einmal in seinem Zimmer um.

„Komm schon!“, ermahnte ihn die Mutter scharf, woraufhin er ihr die Treppe hinunter folgte. Seine letzte Hoffnung war nun sein Vater. Vielleicht würden sich beide jetzt wieder versöhnen, wie so oft, und alles wäre wieder gut. Aber Vater saß noch immer mit versteinertem Gesicht in dem Sessel und starrte vor sich hin.

„Papa“, rief Klaas, doch der Vater zeigte keine Reaktion.

Auf der Kieseinfahrt wartete bereits ein Taxi auf sie. Der Koffer wurde verladen und Klaas von der Mutter auf die Rückbank gezerrt. Das Taxi drehte und fuhr zum breiten Tor hinaus. Klaas starrte zurück und sah auf die große Rotbuche.

25. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand

„Jeder ist seines Glückes Schmied“. Wie sehr Klaas diesen Spruch doch hasste. Wer bitte schön war schon so anmaßend, zu glauben, dass jeder aus eigener Kraft das Glück erlangen könnte. Kein Blinder wird jemals von der Magie eines Sonnenuntergangs gerührt werden können, so sehr er es auch versuchte. Und welcher Mensch, der sein Leben in elendster Armut fristet, wird jemals ohne Sorge leben können. Klaas dachte an die gerne verwendete Legende vom Aufstieg eines Tellerwäschers zum Millionär. Er war sich sicher, dass dieses naive Märchen nur erfunden wurde, um das triste Schicksal der allermeisten Menschen auf dieser Welt einigermaßen erträglich zu machen. Ansonsten würde doch jeder Benachteiligte irgendwann gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt aufbegehren. „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Klaas nahm noch einen Schluck aus der Whiskyflasche, die er bei einem Straßenhändler in Patong erworben hatte, und schnaubte verächtlich. Der Umkehrschluss dieses beschissenen Sprichworts war sogar noch schlimmer. Es bedeutete nämlich nichts anderes als das auch jeder für sein persönliches Unglück selbst verantwortlich war. Schließlich könnte er sich ja jederzeit sein Glück selbst schmieden, wenn er sich nur genügend anstrengte. Also Ihr Armen, Verkrüppelten, Einsamen und Ausgebeuteten, Ihr Hässlichen, Verlassenen und Todkranken, reißt Euch endlich zusammen und nehmt Euer Schicksal selbst in die Hand und werdet verdammt noch mal glücklich!

In finsteren Gedanken verstrickt schaute Klaas aus der offenen Seite des Tuk Tuks auf den bedrohlich schwarzen Dschungel, der an ihm vorbeirauschte. Gelegentlich blitzte in der Ferne das silbrig funkelnde Meer zwischen den Bäumen auf und verschwand wieder, wie ein feiger Spitzbube, der geduldig auf seine Chance wartete. Die Flasche war bereits zur Hälfte geleert und Klaas spürte, wie seine Sinne allmählich auseinanderfetzten. Die penetranten Zweitackterabgase taten ein Übriges. Aber es war genau das, was er in diesem Moment brauchte. Er konnte diese Welt nicht mehr nüchtern ertragen.

Es war nicht so sehr die Tatsache, dass das Leben nicht immer schön war und auch von Krisen und Langeweile, Trauer und Tristesse geprägt war. Nein, darin war Klaas geübt. Es war vielmehr die Verlogenheit, die ihn so verzweifeln ließ. Und die größte Lüge dieser Welt war die Liebe. Vielleicht war ja der Mensch von Natur aus nicht dazu geschaffen, dauerhaft zu lieben. Aber warum veranstaltete dann alle Welt dieses Brimborium um ewige Liebe und nicht enden wollender Treue, wenn es letztendlich doch nur eine naive Illusion darstellte? Aber anscheinend reichten vierzigtausend Jahre Menschheitserfahrung nicht aus, um diese offensichtliche Fehleinschätzung ernsthaft zu hinterfragen, dachte Klaas bitter. Im Gegenteil. Jedes Jahr gibt es Millionen neuer Brautkleider in weißem Brokat, Millionen neuer gold glänzender Eheringe und Berge frisch gedruckter Heiratsurkunden, um wieder und wieder Heere von hoffnungslosen Romantikern ihrem unentrinnbaren Unglück zuzuführen. Warum das alles? Klaas nahm einen weiteren Schluck. Er wusste, warum sich die Menschen dem Wunschtraum von der Liebe anhingen, wie der Verdurstende der Hoffnung auf die rettende Oase. Weil wir ohne Liebe nichts anderes sind als emotionale Krüppel, deren Existenz eine einzige Farce ist. Und so ist es nur begreiflich, dass uns nichts mehr antreibt als das Gefühl des Verliebtseins. Auch er hatte Rieke bedingungslos geliebt. Immer schon. Und tat es noch. Für ihn gab es nie einen Zweifel daran, dass er bei ihr sein wollte, jeden Tag, jede Nacht, dass sie die Richtige für ihn war. Doch jetzt? Jetzt nach all den Jahren war er plötzlich allein. Sie hatte ihre Liebe für nichts anderes als eine profane Karriere als Klinikärztin geopfert. So wenig war ihr ihre Liebe am Ende noch wert gewesen. „Klaas, Du Trottel, Du hättest alles für diese Liebe geopfert, selbst Dein Leben, und hast einfach nicht erkannt, dass Deiner Frau diese Liebe letztendlich nichts mehr bedeutete.“

Voller Wut schleuderte Klaas die Flasche aus dem offenen Tuk Tuk. Der Fahrer vor ihm zeigte jedoch keine Regung, sondern starrte weiter auf den nächtlich schwarzen Asphalt. In der Ferne tauchten die ersten Lichter der Hotelanlagen auf, die sich wie Perlen an einer Kette am Strand von Bang Tao aneinanderreihten. Das Tuk Tuk verließ schließlich die Hauptstraße und nahm Kurs auf ein großes angestrahltes Gebäude in einem Meer aus Palmen. Als der Fahrer vor dem Hauptportal zum Stehen kam und den Motor abstellte, traf Klaas die plötzliche Stille der Nacht wie ein Schlag. Stark wankend stieg er aus, wühlte er in seinem Portmonee nach den passenden Scheinen und verabschiedete sich unartikuliert von dem freundlich lächelnden Fahrer. Nachdem er sich mit einiger Mühe an der Rezeption den Schlüssel seines Cottage besorgt hatte, torkelte er auf einem kleinen gepflasterten Pfad durch die parkähnliche Anlage. Von überall her drangen Fetzen westlicher Musik und leises Stimmengemurmel. Die kleinen Scheinwerfer entlang der Fußwege, tauchten die Anlage in ein eigentümliches Licht. Klaas wusste nicht mehr genau, wo er sich befand. Schließlich bemerkte er eine kleine Frau mit halblangen dunklen Haaren auf einem der parallel verlaufenden Wege. „Rieke“, durchfuhr es ihn voller Freude und er bahnte sich taumelnd den Weg quer durch die Bepflanzung. Als er mehrmals lauthals ihren Namen rief, drehte diese sich endlich um und blickte ihn mit erschrockenem Gesicht an. Nein, es war nicht Rieke, stellte er enttäuscht fest und entschuldigte sich unbeholfen. Klaas blickte sich irritiert um und erkannte zu seinem Leidwesen, dass er nun völlig die Orientierung verloren hatte. In der Dunkelheit sahen alle Cottages gleich aus. Die gleichen orange-braunen Außenmauern, die gleichen Holzterrassen, die gleichen Bepflanzungen mit exotischen Gewächsen. Klaas nahm den Schlüssel aus der Hosentasche und versuchte im schwachen Schein der Wegbeleuchtung die Nummer zu identifizieren. Vergebens. Irgendwas mit Neun am Ende, dachte er und spürte allzu deutlich, wie ihm der Verstand die Gefolgschaft verweigerte. So marschierte er einfach los und nahm die vielen Cottages auf seinem Weg näher in Augenschein. Schließlich stand er vor einem Haus, das ihn vage an sein Feriendomizil erinnerte. Zu Klaas Verwunderung brannte innen Licht und seine Hoffnung auf Riekes Rückkehr wurde aufs Neue entfacht. Bereits auf der Veranda rief er ihren Namen, doch aus dem Inneren des Hauses kam keine Reaktion. Schließlich öffnete er die nicht abgeschlossene Tür. Aufgrund der Inneneinrichtung meinte er sein Cottage wiederzuerkennen. Die hohe Decke mit den dunklen Holzstreben, das breite Rattanbett mit der großen Truhe davor und das quadratische erdfarbene Bild mit dem abstrakten Schneckenmuster über dem Bett. Doch als Klaas sich den Raum näher besah, fanden sich zu seiner Verwunderung ihm unbekannte Kleidungsstücke auf dem Sessel. Und auf dem Bett lag ein schmaler aufgeklappter Koffer, an den er sich partout nicht erinnern konnte. Er taumelte näher an das Bett und warf einen unsicheren Blick in das Innere des Koffers. Zu Klaas Überraschung war er bis zum Rand mit fein säuberlich gestapelten Bündeln von Dollarnoten angefüllt. Er starrte mit offenem Mund auf diese unfassbar große Menge Geld, ohne das sein Verstand diesen Umstand in irgendeinen logischen Zusammenhang bringen konnte. Erst ein Geräusch aus dem Badezimmer ließ Klaas aufschrecken. Im nächsten Moment stürzte sich ein junger Mann in Unterwäsche auf ihn und schlug ihn mit einem gezielten Schlag auf das Kinn zu Boden. Keine Sekunde später waren Klaas Arme schmerzhaft auf den Rücken gedreht, während der Fremde ihn auf einer unbekannten Sprache anschrie. Vermutlich russisch, dachte Klaas, während der Schmerz in seiner Schulter an Heftigkeit zunahm. Der junge Mann schrie weiter ohne Unterlass auf ihn ein und Klaas bekam allmählich Angst, nicht mehr mit heiler Haut aus dieser Situation herauszukommen. Immer wieder keuchte er ein verzweifeltes „No, I’m sorry“, bis der Fremde ihn schließlich auf die Beine zerrte und grob in Richtung der Tür schob. Der junge Mann öffnete die Tür elegant mit dem Fuß, ohne Klaas aus seinem gnadenlosen Griff zu entlassen, und stieß den Betrunkenen anschließend hinaus. Klaas schlug der Länge nach auf die Holzplanken der Veranda. Ehe er sich wieder aufrappeln konnte, war die Tür bereits wieder zugeschlagen.

Klaas fragte sich noch immer, in was er da wohl gerade hineingeraten war. Am wenigsten verstand er dabei die ungewöhnlich aggressive Reaktion des jungen Mannes, zumal es doch offensichtlich war, dass er sich lediglich im Haus geirrt hatte. Unter Schmerzen rappelte er auf und blickte noch eine Weile auf die verschlossene Tür, wobei er sich sicher war, dass der Russe ihn immer noch beobachtete. Nachdem er sich einigermaßen gesammelt hatte, machte er kehrt und gelangte wenig später an den breiten Stand von Bang Tao, der gespenstisch hell im Mondlicht leuchtete. Einem spontanen Impuls folgend zog er sich seine Kleidung aus und ging geradewegs in das lauwarme Wasser, dass inzwischen glatt wie ein Binnensee war. Während er auf das offene Meer hinausschwamm, wich allmählich die Trunkenheit aus seinem Körper, doch das Gewirr seiner Gedanken blieb. Da waren die Gefühle für Rieke. Das Bedürfnis, sich bei ihr für sein Verhalten zu entschuldigen, ihr den Fehltritt zu vergeben. Da war aber auch der Wunsch, sie endgültig zu verlassen und sein Leben von Grund auf neu zu beginnen. Und dann war da der Anblick des vielen Geldes, der ihm immer wieder ins Gedächtnis kam. Klaas fragte sich, wie viel Geld das wohl gewesen sein mochte und was der junge Russe damit wohl anfangen wollte. Und schließlich, wozu er selbst das Geld wohl benutzen würde. Er wusste es nicht, er wusste nichts mehr. Klaas stoppte seine Schwimmbewegungen und blickte zurück. Vor ihm lag die große Bucht von Bang Tao mit den vielen kleinen Lichtern, der exklusiven Hotelanlagen stammten. Dahinter erhoben sich die bewaldeten Hügel von Phuket, in denen es Affen und wilde Elefanten gab. Ein wahres Paradies, dachte Klaas, nur nicht meins. Vielleicht gibt es nirgends ein Paradies für mich und das bisherige Unglück war das Beste, was mir jemals passieren würde. Während er zurückschwamm, überlegte er, was passieren würde, wenn ihn das schwarze Meer in diesem Moment einfach hinunterziehen würde. Was würde von ihm bleiben? Ein paar Erinnerungen an ihn vielleicht, ein paar seiner wissenschaftlichen Artikel in irgendwelchen Büchereien, die wahrscheinlich nie mehr jemand lesen würde. Vermutlich würde Rieke um ihn trauern, eine Weile zumindest, ehe auch sie sich wieder ihrem Leben widmen würde. Nein, dachte er niedergeschlagen, die Welt würde ihn nicht vermissen, wenn ihn das Meer jetzt verschlingen würde. Aber die See war ruhig an diesem Abend und machte keinerlei Anstalten, ihn in die Tiefe zu ziehen. So erreichte Klaas wohlbehalten den Strand, nahm sich seine Kleidung und ging zurück in die Hotelanlage. Ohne Schwierigkeiten erreichte er sein Cottage zwischen Palmen und den exotisch duftenden Büschen. Kein Licht brannte. Kein Geräusch drang aus dem Inneren. Vielleicht war Rieke inzwischen heimgekehrt und hatte sich schlafen gelegt. Doch als er aufschloss und das Licht anknipste, war das Zimmer leer. Die Uhr auf dem kleinen Nachttisch zeigte fünf Minuten vor Mitternacht. Erst wollte er einer spontanen Eingebung folgen und nach Patong zurückzufahren, um nach Rieke zu suchen, doch dann überwältigte ihn die Müdigkeit. Er fühlte sich plötzlich so unendlich entkräftet, dass er nur noch mit Mühe in der Lage war, seine nassen Sachen abzustreifen und ins Bett zu fallen. Er würde auf Rieke warten und sich für sein Verhalten entschuldigen, dachte Klaas, ehe er in tiefen Schlaf fiel.

21. April 1973, Kiel, Deutschland

Das Schlimmste an seinem neuen Zuhause war nicht etwa das winzige Kinderzimmer, das ewig dunkle Wohnzimmer oder das feuchte fensterlose Bad. Nein, es war der Ausblick. Wenn Klaas aus seinem Kinderzimmerfenster hinausschaute, sah er hinter der Förde die dunklen Hügel von Düsternbrook, dem vornehmen Kieler Stadtteil, in dem sein verlorenes Königreich lag. Er konnte es nicht verhindern, aber sobald er am Fenster stand, schaute er wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen über das Wasser und dachte sehnsüchtig an seine Rotbuche, die jetzt einsam im Garten seines Vaters stand. Er hatte lange gehofft, sein Vater würde ihn gelegentlich zu sich holen, so dass er wie früher im Garten spielen konnte, aber das tat Vater nicht. Fast jede Woche war inzwischen ein neuer Gerichtstermin angesetzt, und zu einigen davon musste auch Klaas erscheinen. Doch sein Vater würdigte ihn dann keines Blickes, so sehr es Klaas sich auch wünschte. Obwohl sein Vater immer schon eher streng als freundlich, eher pflichtbewusst als liebevoll gewesen war, vermisste ihn der Junge sehr. Wie alles aus seinem früheren Leben in Düsternbrook. Aber der Ehekrieg hinterließ nicht nur bei Klaas seine Spuren, sondern auch bei seiner Mutter. Sie wirkte ausgemergelt und war ständig gereizt. Manchmal weinte sie ganze Nächte hindurch, so dass sich Klaas unwillkürlich die Frage stellte, ob sie ihre Entscheidung vielleicht schon selbst bereute, und es doch noch einen Weg zurück gab. Zurück nach Düsternbrook. Doch wie Klaas einem Gespräch der Mutter mit einer Freundin heimlich entnommen hatte, stand die endgültige Scheidung kurz bevor. Doch was der Mutter scheinbar besonders zusetzte, war die Tatsache, dass ihr die alleinige Schuld am Scheitern der Ehe gegeben wurde und sie somit nur mit geringer finanzieller Unterstützung von Klaas’ Vater zu rechnen hatte. Vor der Endgültigkeit der elterlichen Trennung hatte Klaas große Angst, denn er war sich sicher, am Ostufer Kiels niemals glücklich werden zu können. Im Gegensatz zu Düsternbrook waren die Straßen hier breit und laut und voller Autos. Anstatt schöner Villen mit großen Gärten gab es hier nur graue Wohnblöcke und wuchtige Hochhäuser, wie das, in dem Klaas und seine Mutter jetzt lebten. Die spärlichen Grünanlagen waren scheinbar den zahlreichen Hundebesitzern vorbehalten, die wenigen Spielplätze allesamt lieblos und trist. Das Wohngebiet war vor allem geprägt von der unmittelbaren Nähe zu der riesigen Werft und dem alten Fischmarktgelände. Klaas empfand keinerlei Sympathie für diese in seinen Augen hässliche Welt, und es gab keine Nacht, in der er nicht von seinem Baum träumte.

Anlässlich seines elften Geburtstages hatte die Mutter einen Kuchen gebacken. Sie hatte gestern noch mit Klaas geschimpft, weil er partout keine Kinder zu sich einladen wollte. Aber wen hätte Klaas denn auch einladen sollen? Auf seiner neuen Schule kannte er niemanden. Klaas schien es, in einer völlig fremden Welt gestrandet zu sein, wie manche seiner Fantasiehelden nach einem Schiffsbruch in unbekannten Gewässern. Die Kinder waren ihm so fremd, dass er es vorzog, mit sich und seinen Gedanken allein zu bleiben. Und seine alten Freunde aus Düsternbrooker Tagen hatten sich seit seinem Weggang nicht mehr bei ihm gemeldet. So war es ein einsamer Geburtstag, den Mutter und Sohn an diesem windigen Nachmittag miteinander feierten. Während sie an dem mit Luftschlangen und Luftballons geschmückten Wohnzimmertisch saßen, starrte Klaas immer wieder zum Telefon in der Schrankwand.

„Ist das Telefon in Ordnung?“, fragte er seine Mutter.

„Natürlich“, antwortete die Mutter verwirrt, „warum sollte es denn kaputt sein?“

„War nur so ein Gedanke“, wiegelte Klaas ab und widmete sich wieder der selbstgemachten Donauwelle. Plötzlich schien die Mutter den Grund für Klaas Frage zu begreifen und schluckte schwer.

„Du meinst, weil er noch nicht angerufen hat?“

Klaas antwortete nicht, sondern aß weiter, als hätte er nichts gehört. Doch plötzlich, ohne es verhindern zu können, liefen ihm die Tränen über die Wange. Die Mutter war zutiefst berührt und setzte sich sofort neben ihren Sohn, um ihm den Arm um die Schultern zu legen.

„Ist doch nicht so schlimm, Klaas“, sagte die Mutter sanft, „wir haben doch uns.“ Wie auf ein Stichwort riss sich Klaas los. Inzwischen war der Kloß in seinem Hals so sehr angeschwollen, dass er nichts mehr entgegnen konnte.

„Du weißt doch, wie wütend und unzuverlässig Dein Vater manchmal ist …“, versuchte sie ihren Sohn zu beschwichtigen, doch der sprang auf und unterbrach sie voller Zorn.

„Auf Dich ist er wütend. Auf Dich. Aber ich habe Papa nie etwas getan.“ Die Gefühle rauschten nun über Klaas hinweg, wie eine gewaltige Welle. „Du hast mir mit Deinem blöden Streit alles weggenommen, was ich geliebt habe. Ich hasse Dich so sehr dafür.“ Ohne dem entsetzten Gesicht der Mutter noch einen Blick zu schenken, rannte Klaas hinaus aus dem Wohnzimmer, hinaus aus der Wohnung, aus dem Hochhaus. Vor der Eingangstür hatte er endlich wieder das Gefühl, Luft zu bekommen. Er wischte sich die Tränen fort und machte sich auf den ziellosen Weg. Wie so oft fand er sich schließlich auf dem große Gelände des alten Seefischmarktes wieder. Früher sollen hier viele Fischerboote angelandet und gelöscht worden sein, hatte jemand Klaas erzählt, doch heute waren es nur noch wenige Boote, die mit ihrem Fang den Fluss Schwentine hinauf zum Anleger fuhren. Zwischen Lastwagen, Stapeln von Paletten und schwerem Tauwerk hindurch schlenderte der Junge am breiten Anleger entlang und beobachtete die mühevolle Arbeit der Fischer. Blickte in die Fischluken der Boote, in denen Heringe, Kabeljau und Sprotten silbrig glänzten. Er beobachtete, wie die Fische über ratternde Förderbänder in die große Halle transportiert wurden, wo sie von missmutig dreinblickenden Männern in große Plastikwannen geschaufelt und abschließend mit Eis bedeckt wurden. Klaas liebte diese betriebsame Welt und lauschte fasziniert dem Lärm der Laufbänder, dem ungehobelten Rufen der Männer und dem allgegenwärtigen Geschrei der Möwen.

„Hau ab, Junge!“, rief plötzlich eine brummige Stimme hinter ihm, „Du hast hier nichts verloren.“ Ein Mann in verdreckter Arbeitskleidung zeigte demonstrativ mit dem Arm auf den nördlichen Ausgang des Geländes. Klaas fügte sich ohne Murren und setzte seinen Weg fort. Vor ihm öffnete sich die Mündung der Schwentine, die sich unmerklich in die Kieler Förde ergoss. Er stellte sich gerade vor, wie er mit einem Fischerboot gegen die Unwillen eines gewaltigen Sturms ankämpfte und versuchte, seinen ungewöhnlich reichen Fang nach Hause zu bringen. Doch dann streifte sein Blick zufällig die dunklen Hügel auf der anderen Seite der Bucht und holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Düsternbrook. „Vielleicht hat Papa inzwischen versucht, mich zu erreichen, und ich war nicht da“, dachte er nun mit einigem Schrecken und beschleunigte daraufhin seine Schritte. Er hatte gerade das offene Tor passiert und suchte einen schnellen Weg zwischen den verrosteten Containern hindurch, als sein Blick auf eine Gruppe Jugendlicher fiel, die am Ufer saß und gelangweilt Steine ins Wasser warf. Einer der Jugendlichen, ein schwarzhaariger Junge mit einer platten Nase, entdeckte Klaas als erster und stieß seinen Nachbarn an. Daraufhin erhob sich die ganze Gruppe. Klaas drehte sich ab und ging schneller. Ein ängstlicher Blick über seine Schulter zeigte ihm jedoch, dass die Jungen ihm folgten. Zwar wusste er nicht, warum sie dies taten, vermutete aber, dass sie ihm nicht unbedingt freundlich gesinnt waren, und begann zu laufen. Plötzlich tauchte hinter einem baufälligen Haus ein großer dicklicher Junge auf und versperrte ihm den Weg.

„Wohin so hastig?“, fragte der Dicke mit einem feindlichen Grinsen im schmutzigen Gesicht.

„Nach Hause“, antwortete Klaas leise, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Doch als er den Jungen passieren wollte, hielt ihn dieser an der Schulter fest.

„Hab ich Dir erlaubt, weiter zu gehen?“

„Ich habe Euch nichts getan. Also lass mich gehen!“ Klaas zitterte mittlerweile vor Angst. Und diese wuchs noch, als die anderen sie schließlich erreichten.

„Tarik, schau mal, wer mir da gerade in die Arme gelaufen ist!“ Einige Jungen lachten.

Der Junge mit der platten Nase baute sich vor Klaas auf und musterte ihn finster.

„Ey, weißt Du, was Zoll ist?“, fragte der Junge namens Tarik mit einem schweren Akzent. Klaas nickte.

„Dann wollen wir jetzt Fünf Mark von Dir.“

„Aber Zoll bezahlt man doch nur an einer Landesgrenze“, korrigierte ihn Klaas und bedauerte sofort seine unbedachte Äußerung. Tarik ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und stemmte demonstrativ seine Hände in die Hüfte.

„Das hier IST eine Grenze, Du Scheiß“, zischte ihn Tarik an, „entweder bezahlst Du Zoll oder wir saufen Dich im Fluss ab.“

„Ersäufen Dich“, berichtigte ihn Klaas, „das Verb heißt ‚ersäufen’.“ Etwas veränderte sich in Tariks Blick. Seine Überheblichkeit war jetzt blanker Wut gewichen, woraufhin er Klaas grob an der Jacke packte und hoch zerrte, bis Klaas Schuhe für einen kurzen Moment die Bodenhaftung verloren.

„Jetzt werden wir Dich erst zusammenschlagen, bevor wir Dich …. absaufen.“

Klaas erkannte seinen Fehler und spürte erneut eine Welle der Angst über sich zusammenbrechen. In seiner Verzweiflung schlug und trat er nun wild um sich und traf Tarik hart am Kehlkopf, woraufhin dieser ihn sofort aus seinem Griff entließ und sich keuchend an den Hals fasste. Während die anderen Jungen überrascht zusahen, wie ihr Anführer zu Boden ging, nutzte Klaas die Gunst des Moments und stürzte davon. Sofort erhob sich hinter ihm ein wildes Geschrei und das Getrampel vieler Schritte folgte ihm in unangenehm kurzer Entfernung. Klaas hastete über Unmengen von Schrott und dorniges Gebüsch. Vorbei an parkenden Autos und halb heruntergerissenen Zäunen. Ohne sich umzublicken, wusste Klaas, dass die Verfolger ihm knapp auf den Fersen waren. Seine Lungen brannten bereits, als er einen großen Platz mit Segelbooten überquerte. Verzweifelt stellte er fest, dass seine Verfolger sich inzwischen in zwei Gruppen aufgeteilt hatten, um ihm den Weg abzuschneiden. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als den langen Holzsteg entlang zu rennen, wohlwissend, dass dieser mitten auf der Schwentine endete. Klaas saß in der Falle. Kurze Zeit später erreichte er das Ende des Stegs und starrte auf das Wasser. Hinter ihm kam das Geschrei der Jungen näher und näher. Ohne weiter zu überlegen, sprang Klaas mit einem großen Satz in die letzte Jolle am Steg und schlug dabei hart gegen die Bordwand. Sekunden später versammelten sich die Verfolger über ihm auf dem Steg und verdunkelten die tief stehende Sonne. Doch anstatt zu ihm herunter zu steigen, schrien sie nur weiter ihre Drohungen und Verwünschungen. Klaas verstand diese Reaktion erst, als sich etwas am Heck der schaukelnden Jolle regte und eine tiefe Stimme den Lärm wie ein scharfes Beil zerschnitt.

„Haltet endlich die Klappe und verschwindet, sonst mach ich Euch Beine!“

Erst jetzt wurde Klaas des alten Mannes gewahr, der dort ruhig neben dem Ruder saß. Trotz seines Alters schien der Mann ungewöhnlich muskelbepackt zu sein. Doch das, was auf die Jugendlichen wohl den meisten Eindruck gemacht hatte, war dieses harte Gesicht. Inmitten der unzähligen tiefen Furchen funkelten zwei brennende blaue Augen und der hart geschnittene Mund kräuselte sich bedrohlich.

„Wir wollen nur den Jungen dort“, sagte Tarik schließlich mit heiserer Stimme.

„Du kleines Arschloch hast hier gar nichts zu wollen“, erklang wieder die Stimme des Alten. Tarik funkelte noch einmal zu Klaas hinüber und gab seinen Gefährten schließlich das Zeichen zum Aufbruch. Klaas starrte noch lange den Jungen wie in Trance nach, noch immer nicht begreifend, wie er dieser aussichtlosen Situation entkommen konnte.

„Und? Geht’s wieder?“, fragte der Alte nun mit viel sanfterer Stimme. Klaas hätte sich jetzt bedanken müssen oder zumindest die Situation erklären müssen. Stattdessen sagte er nur: „Ich habe heute Geburtstag.“

„Na dann mal herzlichen Glückwunsch. Ich bin übrigens Heinz“ Der harte Mund krümmte sich zu einem wohlwollenden Lächeln. Klaas erwiderte schüchtern das Lächeln.

„Hättest Du Lust auf eine kleine Segeltour?“

Klaas hatte größere Angst vor der Rückkehr an Land, als vor dem seltsamen Alten, denn er zweifelte nicht daran, dass die Jungen vor dem Bootshafen auf ihn warten würden. So nickte er schließlich und schaute dem alten Mann fasziniert zu, wie dieser mit ruhiger Hand die Leinen löste und scheinbar mühelos die Segel setzte. Augenblicke später glitt das Boot lautlos aus der Flussmündung auf die in die frühe Abendsonne glänzende Ostsee hinaus. Klaas spürte den kühlen Wind auf seinen Wangen und die rollenden Bewegungen des Bootes. Er lauschte gespannt dem Schlag der Wellen und dem Flattern der Segel. Und plötzlich gab es für ihn keinen Vater mehr, der ihm nicht gratulierte, kein Hochhaus, das er hasste, keine einsamen Nachmittage, kein verlorenes Königreich. Jetzt gab es nur noch das Meer. Er blickte zu Heinz hinüber, der ruhig am Ruder saß. Klaas wollte ihm so vieles sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Stattdessen nickte der alte Mann, als verstünde er nur zu gut, was Klaas jetzt meinte. Große Schiffe kamen ihnen entgegen und glitten teilnahmslos vorbei. Das Boot aber nahm unerschrocken Kurs auf das offene Meer. Wie gerne hätte er dem alten Mann jetzt zugerufen, er solle einfach weiter segeln, hinaus in die Welt. Weiter als die zarte Linie, an der das Meer mit dem Horizont verschmolz. Denn Klaas hatte an diesem Abend zum ersten Mal in seinem Leben begriffen, was Freiheit bedeutete.

Walfreiheit

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