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1.2 Soziale Entstehungsvoraussetzungen

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Bis in jüngere Zeit hat man immer wieder die Frage gestellt, ob der vom elegischen Wertesystem geregelten Beziehung des poeta/amator zu der von ihm geliebten Person im Rom der späten Republik reale Liebesbeziehungen historisch nachweisbarer Männer zu einer Frau oder einem Knaben entsprachen. Gewiß, man war sich schon vor zwanzig Jahren weitgehend einig, daß die bei Properz, Tibull und Ovid geschilderten amores ihrer personae mit einer puella (bzw. in Tib. 1.4, 8 und 9 mit dem Knaben Marathus) frei erfunden sind, obwohl Apuleius in Kapitel 10 seiner Apologie behauptet, Cynthia und Delia seien Decknamen für eine Hostia und eine Plania, die wirklich gelebt hätten. Aber man glaubte kaiserzeitlichen Vergil- und Horaz-Kommentatoren, die wissen wollen, daß die Lycoris des Gallus in Wirklichkeit Cytheris geheißen habe. Diese Frau, Freigelassene eines Volumnus, soll antiken Nachrichten zufolge eine Hetäre und als solche nicht nur die Geliebte des Elegiendichters, sondern auch des Cäsarmörders Brutus und des Triumvirn Marcus Antonius gewesen sein. Was z.B. Cicero über die Beziehung zwischen Antonius und Cytheris erzählt, erinnert deutlich an die Beschreibung des elegischen Liebesverhältnisses in der Amores-Dichtung: Während seines Volkstribunats im Jahre 49 v. Chr. habe Antonius seine unschickliche Verehrung für die anrüchige Dame dadurch öffentlich demonstriert, daß er sie einmal mitten zwischen den Liktoren mit lorbeergeschmückten Rutenbündeln, die seinem keltischen Wagen voranmarschierten, in einer offenen Sänfte tragen ließ (Phil. 2.23f.; 57f.). Mehrere antike Autoren berichten außerdem, daß der Triumvir sich später auch Kleopatra gegenüber in der Weise wie ein Sklave gebärdete, wie es das elegische Wertesystem von dem poeta/amator verlangt, indem er sie z.B. seine Königin und Herrin nannte.

Altertumswissenschaftler, die aus solchen und anderen Nachrichten über prominente Römer und ihre Liebesaffären auf die Existenz eines realen Hintergrundes für die bei Gallus, Properz, Tibull und Ovid beschriebene Welt der elegischen Erotik schlossen, begingen einen methodischen Fehler: Sie konfrontierten poetische und damit potentiell fiktionale Darstellungen von Liebe, Sexualität und dem Rollentausch der Geschlechter mit Texten zum selben Thema, die sie für historische Dokumentation hielten, die aber, weil sie offenkundig von Vorurteilen gegenüber dem sexuellen Verhalten bestimmter Persönlichkeiten geprägt sind, als ebenso fiktional anzusehen sind wie die Amores-Dichtung. Wenn Cicero, der politisehe Gegner des Antonius, von dessen Beziehung zu einer Frau spricht, dann bemüht er sich zweifellos darum – seine Ausführungen sind ja Teil einer Invektive –, den Zuhörern und Lesern, die er gegen Antonius einnehmen will, dessen sexuelles Verhalten so darzustellen, daß sie negativ darüber denken. Das erreicht er am besten dadurch, daß er es als normwidrig diskriminiert. Normwidrig ist, wie ich bereits angedeutet habe, auch das Verhalten des elegischen poeta/amator gegenüber seiner puella. Denn er behandelt sie wie seine Herrin (domina) und charakterisiert sie dementsprechend als eine hetärenhafte Frau, die sich sein serviles Betragen gerne gefallen läßt. Aber diese Charakterisierung hat der elegische Dichter, wie man heute allgemein annimmt, frei erfunden, sie ist, wie Alison Sharrock (1991) es treffend formuliert hat, das Produkt von „womanufacture“. Und „womanufacture“ ist nun auch genau das, was Cicero bei seiner Porträtierung der Cytheris oder etwa der Clodia Metelli (in seiner Rede Pro Caelio) betreibt. Das gilt gleichfalls für die Darstellung der Kleopatra durch zeitgenössische römische Autoren.

Die antiken Quellen über das Sexualleben historischer Gestalten des republikanischen und Augusteischen Rom und insbesondere der namentlich bekannten Frauen sind also so unglaubwürdig, daß man sie zu Erörterungen über die sozialen Entstehungsvoraussetzungen der römischen Liebeselegie nur mit größter Vorsicht heranziehen sollte. Sie können nur dann nützlich sein, wenn wir sie im Rahmen dessen betrachten, was kulturgeschichtliche Untersuchungen aus neuerer Zeit über die Geschlechterordnung im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. herausgefunden haben. Ihnen zufolge galt für die Oberschicht, deren Angehörige die Texte der Elegiker lasen, Männlichkeit nicht als biologisch vorgegeben, sondern als etwas, das erst erworben werden mußte und jederzeit wieder verloren werden konnte. Erst wenn ein freier Römer – und nur ein solcher durfte auf den Erwerb von Männlichkeit hoffen – als Familienvater, Besitzender, Politiker, Soldat etc. über bestimmte Machtmittel verfügte, wurde er als Mann angesehen. Als unmännlich eingestuft wurden dagegen Knaben, vor allem diejenigen, die von einem Mann geliebt wurden, erwachsene Männer, die in einer mann-männlichen Beziehung den passiven Part übernahmen, aber auch alle schwachen, kranken und alten Männer, ja sogar Ehebrecher, da sie, sexuell unbeherrscht, nach antiker Auffassung keine Macht über sich selbst ausübten. Sexuelle Beziehungen wurden somit weit weniger durch die Geschlechterdifferenz als durch Machtverhältnisse organisiert. Es wurde nicht eigentlich zwischen männlich und weiblich und überhaupt nicht zwischen hetero- und homosexuell unterschieden, sondern zwischen mächtig und machtlos bzw. aktiv und passiv. Da in Liebesbeziehungen der Vorgang der Penetration den absoluten Vorrang vor allen anderen sexuellen Handlungen hatte, standen sich ganz einfach Penetrierende und Penetrierte gegenüber. Zur ersten Gruppe gehörten nur diejenigen, die mächtig, beherrscht und aktiv und in diesem Sinne Männer waren, während die zweite Gruppe sich aus Frauen aller sozialen Schichten, Knaben, viri molles („weichliche Männer“) und Sklaven zusammensetzte.

Diese klare Rollenverteilung hatte u.a. zur Folge, daß man an Päderastie keinen Anstoß nahm. Denn das Machtverhältnis zwischen liebendem Mann und geliebtem Knaben entsprach der Norm. Eine sexuelle Beziehung zwischen zwei Frauen betrachtete man dagegen als pervers, da der als Machtdiskurs begriffene Sexualdiskurs einen aktiven und einen passiven Partner verlangte. Weil aber allen Frauen von der Gesellschaft die passive sexuelle Rolle zugeteilt war, verstießen Frauen, die eine andere Frau begehrten, ebenso gegen die Norm wie Frauen, die aktiv um die Gunst eines Mannes warben oder innerhalb einer Beziehung dem männlichen Partner ihren Willen aufzuzwingen versuchten. Umgekehrt galt es als normwidrig, wenn ein Mann, der aufgrund seiner gesellschaftlichen Position als solcher gelten durfte, sich von einer Frau beherrschen oder von einem anderen Mann penetrieren ließ. Beides trifft nun bereits auf den poeta/amator in Catulls Gedichten zu. Zum einen leidet er darunter, daß Lesbia sich nicht immer seinen Wünschen gemäß verhält und ihn betrügt, reagiert darauf aber nur mit Klagen und Beschimpfungen der Frau. Zum anderen duldet er die irrumatio (orale Penetration) durch den Prätor seiner Kohorte in Bithynien, was allerdings nur in den jambischen Gedichten, die ursprünglich das erste Buch bildeten, angesprochen wird (c. 10. 12f.; 28.9t), nicht jedoch in den Gedichten in elegischen Distichen. Bei den im selben Versmaß schreibenden augusteischen Dichtern findet sich dann nur eine motivische Entsprechung zu dem Verhalten der persona Catulls gegenüber seiner puella: Auch der poeta/amator bei Gallus, Properz, Tibull und Ovid begnügt sich angesichts des seinen Wünschen zuwiderlaufenden Verhaltens der von ihm geliebten Frau mit Klagen und Schimpfen, ja erduldet sein Liebesleid wie ein seinem Herrn treu ergebener Sklave und vollzieht auch auf diese Weise im Sinne der römischen Geschlechterordnung einen Rollentausch mit der puella. Aber nicht nur durch das servitium amoris zeigt sich der elegisch Liebende als unmännlich, sondern auch dadurch, daß er in seiner Bindung an die puella einen Dauerzustand sehen möchte und sie zu seiner Lebensform macht. Denn von einem Römer, der außereheliche Beziehungen unterhielt (was der Moralkodex ihm durchaus gestattete), wurde erwartet, daß er sich dies nur vorübergehend erlaubte, und als verheirateter Mann hatte er seiner Tätigkeit als Politiker, Soldat etc. den Vorrang vor seinem Liebesleben einzuräumen, zumal dieses primär dem Zweck der Kindeszeugung dienen sollte.

Es dürfte deutlich geworden sein, in welch hohem Maße das durch die elegische Wertordnung geregelte Dasein des poeta/amator in der Amoras-Dichtung eine Gegenwelt zur Lebensform der römischen Oberschicht darstellte. Es bietet sich also an zu fragen, ob die Dichter, die diese Gegenwelt konstruierten, damit implizit etwas über ihr Verhältnis zu Rom aussagen wollten. Mehrere Altertumswissenschaftler (denen ich mich in der 1. Auflage dieser Einführung anschloß) erblicken darin, daß Gallus, Properz, Tibull und Ovid den Ich-Sprechern ihrer Gedichte ein Bekenntnis zu der alternativen Existenz des elegisch Liebenden in den Mund legen, die Bekundung einer Protesthaltung und die indirekte Artikulation von Systemkritik. Zum Vergleich verweist man dabei auf die Staatsverdrossenheit der amerikanischen Jugend der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit ihrer Devise „make love, not war“. Tatsächlich hatte in Rom zur Zeit des Übergangs von der Republik zum Prinzipat die Nachwuchsgeneration des Senatorenstandes allen Grund, mit dem Staat unzufrieden zu sein. Schon seit dem Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompejus, also seit dem Ende der fünfziger Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr., war die Konvention, wonach jeder Angehörige der Oberschicht eine reelle Chance hatte, auf legalem Wege zu einer Machtposition innerhalb der Senatsaristokratie aufzusteigen, immer mehr außer Kraft gesetzt worden. Jetzt wurden die wichtigen Ämter von den großen Imperatoren nach Gutdünken vergeben. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt, als der Sieger von Aktium bereits den Ehrennamen Augustus trug und erste Überlegungen anstellte, wie er seine Familie zur Herrscherdynastie machen könnte. Da sich der römische Machtdiskurs, wie ich zu zeigen versucht habe, im Sexualdiskurs widerspiegelte, wäre es denkbar, daß die Verfasser der Amores-Dichtung, indem sie die Machtverhältnisse, die im Bereich der römischen Geschlechterordnung bestanden, provokant auf den Kopf stellten, ihre dem Senatorenstand angehörenden Leser zur Rückbesinnung auf ihre alten Rechte auffordern wollten.

Greifen wir hier die Wirkungsabsicht der römischen Elegiker? Es spricht einiges dafür, daß es so ist, und für möglich halten sollte man es auf jeden Fall. Aber es gibt auch gewichtige Einwände. Zunächst ist zu bedenken, daß nicht eine einzige derjenigen Stellen in den Texten des Properz, Tibull und Ovid, die man als antiaugusteisch interpretiert hat, nur so und nicht anders erklärt werden kann. Außerdem ist darauf zu verweisen, daß es explizite Äußerungen der Ich-Sprecher bei Properz und Ovid sowie motivverwandte implizite Äußerungen des Sprechers bei Tibull gibt, durch die Positives, ja Lobendes über die Herrschaftsideologie des Augustus ausgesagt wird. Im Grunde können diejenigen, die die römische Elegie als systemkritisch interpretieren, sich nur auf zwei Textzeugen berufen. Diese belegen historisch einigermaßen glaubwürdig zwei Ereignisse der Ära des Augustus, bei denen wir Verfasser von Liebeselegien in Konflikt mit dem Kaiser und dadurch zwangsläufig auf der „Gegenseite“ sehen: die Vorgänge, die zum Tod des Gallus und zur Verbannung Ovids führten. In beiden Fällen spricht jedoch, wie jetzt kurz zu zeigen ist, alles dafür, daß Augustus nicht an Versen, sondern an politischen Äußerungen bzw. Aktionen Anstoß nahm.

Cornelius Gallus wurde 69/68 v. Chr. in Forum Iulii (wahrscheinlich in dem Ort, der heute Fréjus heißt) als Sohn eines römischen Bürgers, der vermutlich dem Ritterstand angehörte, geboren. Nach einer glänzenden Karriere als Beamter und Offizier wurde er von Oktavian (Augustus), auf dessen Seite er als Heerführer im Alexandrinischen Krieg gegen Antonius gekämpft hatte, im Jahre 30 zum ersten Präfekten der neuen Provinz Ägypten ernannt. Diese Ehrung machte ihn wohl etwas zu selbstbewußt, denn er ließ seine Taten auf den Pyramiden und auf Obelisken (einer davon steht heute auf dem Petersplatz in Rom) einmeißeln. Er wurde von Augustus seines Amtes enthoben, in die Hauptstadt zurückberufen und beging dort, um sich den erwartungsgemäß für ihn negativen Ergebnissen eines gegen ihn eingeleiteten Senatsverfahrens zu entziehen, 27 oder 26 v. Chr. Selbstmord. Wie immer Gallus außer durch seine Selbstverewigung den Prinzeps verärgert haben mag – es spricht nichts dafür, daß auch seine Amores zur Entzweiung der beiden Männer beitrugen. Denn die Elegiensammlung muß, da Vergil in seiner zehnten Ekloge darauf anspielt, bereits vor 39/38 v. Chr. existiert haben. Außerdem bezeugt der Ich-Sprecher in Versen auf einem Papyrusfragment, die vermutlich Gallus zuzuschreiben sind (s.S. 33f.), einem Cäsar, bei dem es sich eher um Oktavian als den Diktator handeln dürfte, seine Verehrung.

P. Ovidius Naso wurde am 20. März 43 v. Chr. in Sulmo als Mitglied einer alten Familie des Landadels geboren und gehörte in Rom, wo er in seiner Jugend zum Juristen ausgebildet wurde, zum Ritterstand. Obwohl er die Möglichkeit zu einer senatorischen Karriere gehabt hätte, verzichtete er darauf – er konnte sich das vermutlich aufgrund eines gewissen Wohlstandes leisten – und widmete sich ganz einem Dasein als Dichter. Als er bereits eine stattliche Reihe von poetischen Werken publiziert hatte – außer den Amores u.a. die Ars amatoria und vermutlich auch die Metamorphosen –, wurde er um 8 n. Chr. von Augustus nach Tomi am Schwarzen Meer verbannt. Er mußte dort den Rest seines Lebens verbringen, durfte aber weiterhin dichten und sein Bürgerrecht sowie sein Vermögen behalten. Was die Gründe für die Verbannung betrifft, sind wir ganz auf die Äußerungen des Ich-Sprechers in der Exilpoesie angewiesen. Ihnen läßt sich nicht eindeutig entnehmen, ob Ovid dem Kaiser als Elegiker ein Ärgernis war oder nicht. Denn wenn seine elegische persona zwei Verbannungsgründe nennt (Trist. 2.207: carmen et error – „Gedicht und Fehltritt“), aber sich nur zu dem einen, der Abfassung des elegischen Lehrgedichtes Ars amatoria, näher äußert und diesen Grund mit zahlreichen Argumenten als unzureichend darzustellen versucht, kann das ein Ablenkungsmanöver sein. Der Verbannte verrät uns nämlich, daß Augustus es nicht gern gesehen hätte, wenn allgemein bekannt geworden wäre, was es mit dem anderen Verbannungsgrund, einem „Fehltritt“ welcher Art auch immer, auf sich hatte, und das gibt uns Anlaß zu folgender Annahme: Dieser andere Grund war ein rein politischer; vermutlich hatte Ovid durch falsches Verhalten im Zusammenhang mit den Maßnahmen des Augustus zur Sicherung der Thronfolge dessen Zorn erregt. Es ist also durchaus denkbar, daß der Verbannungsgrund Ars amatoria kaum von Bedeutung war oder sogar von Ovid erfunden wurde und daß folglich der Dichter ebenso wie Gallus vom Kaiser gar nicht in seiner Eigenschaft als Verfasser von Elegien bestraft wurde.

Über das Leben der beiden anderen Elegiker wissen wir so gut wie nichts, aber das wenige, was wir wissen, spricht eher dafür, daß sie Augustus positiv gegenüberstanden. Sextus Propertius kennen wir als Person nur aus seinen Gedichten, und daraus läßt sich lediglich dies entnehmen: Er war Umbrier – aus Assisi, wenn Karl Lachmann den Vers 4.1.125 richtig emendiert hat – wie vermutlich der Tullus, dem er um 28 v. Chr. (aus diesem Datum schließt man auf ein Geburtsjahr gegen Ende der fünfziger Jahre v. Chr.) sein erstes Elegienbuch widmete. Bei dessen Onkel, der in 1.6.19 erwähnt wird, handelt es sich – das ist wieder nur eine Vermutung – um L. Volcacius Tullus. Dieser war zusammen mit Oktavian Konsul des Jahres 33 v. Chr., 29 v. Chr. Statthalter in der Provinz Asien und um diese Zeit offenbar Patron des Dichters. Er dürfte sich derselben Gunst des Prinzeps erfreut haben wie Mäcenas, dem Properz sein zweites Elegienbuch widmete, und die Freundschaft des Dichters mit beiden Männern spricht nun dafür, daß dieser ebenfalls ein gutes Verhältnis zu Augustus hatte. Vielleicht darf man aus 4.1.127 folgern, daß die Propertii im Perusinischen Krieg ihren Landbesitz verloren. Die Tatsache, daß an dieser Stelle von einem kleinen Anwesen im Besitz des poeta/amator die Rede ist, erlaubt jedenfalls den Schluß, daß Properz wie Gallus, Ovid und Tibull, für den es eine kurze Vita am Ende der Handschriften des Corpus Tibullianum bezeugt, dem Ritterstand angehörte. Über Albius Tibullus weiß jene Vita freilich nicht mehr, als man aus den beiden Elegienbüchern des Dichters und zwei an einen Albius gerichteten Gedichten des Horaz (c. 1.33 und epist. 1.4) erschließen kann. Buch 1, etwa 27 v. Chr. publiziert (wieder ergibt sich ein Geburtsjahr gegen Ende der fünfziger Jahre v. Chr.), ist ebenso wie Buch 2, das kurz vor dem Tod des Dichters um 19 v. Chr. (erschließbar aus einem Epigramm des Domitius Marsus am Ende des Corpus) entstanden sein dürfte, dem M. Valerius Messalla Corvinus, einem hohen Würdenträger des Augusteischen Staates, gewidmet. Die Person dieses Patrons, der ebenso Ovid förderte und den Tibull vielleicht auf Kriegszügen in Aquitanien und im Osten des Reiches begleitete, rückt auch diesen Dichter in die Nähe des Augustus.

Offensichtlich hatte keiner der vier Elegiendichter einen Grund dafür, das senatorische Publikum auf Staatsverdrossenheit und kritische Haltung gegenüber Augustus einzustimmen. Außerdem ist zu bedenken – und das ist nun ein ganz besonders wichtiger Aspekt –, daß nicht Gallus, Properz, Tibull und Ovid sich zu einem alternativen Dasein in einer Welt der Erotik bekennen, sondern die in ihren Gedichten „ich“ sagenden personae. Es ist ja die mit Zügen der jungen Liebhaber in der Neuen Komödie und des Sprechers der erotischen Epigramme hellenistischer Dichter ausgestattete Figur des poeta/amator, die sich in der Rolle eines vir mollis („weichlicher Mann“) präsentiert. Diese Rolle spielte Catull, wie c. 16 zu entnehmen ist (s.S. 13), um seine Leser erotisch zu stimulieren. Warum sollte das nicht auch eine der Wirkungsintentionen der römischen Elegiker gewesen sein? In Buch 3 der Ars amatoria empfiehlt Ovid in der Rolle des praeceptor amoris („Lehrer der Liebe“) den puellae, die er in der Liebeskunst unterweist, die Lektüre seiner Amores und der Gedichtsammlungen der anderen drei Elegiker (3.333f. und 343f.), während er in den Remedia amoris allen, die von der Liebesleidenschaft geheilt werden wollen, dringend ans Herz legt, ebendiese Texte nicht zu lesen (763–766). Was an dem Rollentausch der Geschlechter, der für die Erotik der Amores-Dichtung besonders charakteristisch ist, so stimulierend war, ist für uns heute nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Jedenfalls verstieß er, wie wir gesehen haben, gegen die in Rom für das Miteinander von Mann und Frau gültige Ordnung, und Abweichung von der Norm spielt in sexuellen Phantasien bekanntlich eine sehr wichtige Rolle. Außerdem war es vor dem Hintergrund des römischen Geschlechterdiskurses einfach auch komisch, wenn ein Römer aus gutem Hause z.B. wehleidig von einer Nacht berichtete, die er vor der Tür der treulosen Geliebten verbringen mußte. So etwas empfand man seit der Zeit, als die römischen Komödiendichter für das liebes- und weinselige Durchmachen einer Nacht das Wort pergraecari („durchgriecheln“) geprägt hatten, als typisch für die Griechen, die man in mehrfacher Hinsicht ohnehin nicht ernst nahm.

Es spricht also vieles dafür, daß die Elegiker ihr zeitgenössisches Publikum primär erotisieren und amüsieren und ihm auf diese Weise gute Unterhaltung bieten wollten. Das schließt nicht aus, daß manchem Rezipienten der Spaß getrübt werden konnte, wenn er daran dachte, daß die politische Lage unter einem Herrscher, der den Senatoren das Mitregieren nur noch zum Schein gestattete, dazu einladen könnte, sich mit der Trotzhaltung eines poeta/amator zu identifizieren und sie als Ausdruck der Systemkritik zu verstehen. Aber da wir davon ausgehen dürfen, daß die römische Elegie (ebenso wie die griechische) zunächst einmal für die Rezitation bei geselligem Zusammensein – z.B. beim Gastmahl im Hause des für den Dichter zuständigen Patrons – bestimmt war, spricht alles dafür, daß das Interesse der Zuhörer an den vorgetragenen Gedichten von vornherein vom Unterhaltungsbedürfnis gelenkt war. Außerdem handelte es sich ja durchaus um höchst geistreiche Unterhaltung, da alle vier Dichter in bewußter Beachtung der von der Poetik des Kallimachos (s.S. 7f.) gesetzten Maßstäbe größten Wert auf Stilkunst und vielschichtige Intertextualität legten. Sie luden ihre Zuhörer und Leser, die offenbar über eine breite literarische Bildung verfügten und sich in diesem Bereich gerne gefordert sahen, zu einem semiotischen Spiel ein. Vertraut mit der „Zeichensprache“ der erotischen Motive, insbesondere des elegischen Wertesystems, vermochte das Publikum zu würdigen, wie der Dichter diese Motive spielerisch zu einer neuen Aussage abwandelte. Da ich im Rahmen einer Einführung, die einen möglichst breiten Überblick über die erhaltenen Elegienbücher geben soll, nicht alle Aspekte dieses Spiels mit derselben Gründlichkeit ansprechen kann, lege ich den Schwerpunkt auf die Variation der gattungsspezifischen Thematik bei den einzelnen Dichtern.

Ich will im folgenden zunächst die wenigen Reste, die uns von den Elegien des Gallus überliefert sind, und dann die erhaltenen Sammlungen des Properz, Tibull, Pseudo-Tibull und Ovid Buch für Buch behandeln. Dabei werde ich die einzelnen Gedichte in der Reihenfolge, in der sie im Buch stehen, ansprechen. Denn der antike Rezipient dürfte, weil er bei der Lektüre den Papyrus aufrollen mußte, linear gelesen haben. Und weil es sich gezeigt hat, daß wir über die Biographie keines dieser Römer etwas Nennenswertes wissen, sie also für uns fast ausschließlich durch ihre Texte Gestalt annehmen, werde ich jetzt der Einfachheit halber nicht mehr vom elegischen Ich sprechen, sondern, wenn ich nicht poeta oder poeta/amator schreibe, die Namen der vier Elegiker benutzen. Damit bekenne ich mich keineswegs zur biographischen Interpretation früherer Zeiten. Denn ich habe in diesem Kapitel mehrfach deutlich gemacht, daß ich diese Art der Erklärung von Gedichten für verfehlt halte.

Forschungsliteratur, die sich mit dem gesamten Gattungstyp „römische Liebeselegie“ auseinandersetzt, gibt es reichlich. Doch allein die Tatsache, daß ein umfassender Forschungsbericht bis heute fehlt (vgl. immerhin WYKE [1989 a] zu den divergierenden Forschungsansätzen der achtziger Jahre), zeigt deutlich, daß das Interesse für Einzelaspekte und ganz besonders für die isolierte Behandlung jeweils eines der vier Elegiker stets im Vordergrund stand. Auch eine umfassende Gesamtdarstellung ist folglich ein Desiderat. Vorläufigen Ersatz bieten immer noch LUCK (1961) und LYNE (1980), die aber ganz der Methode des biographischen Interpretierens verpflichtet sind. Das andere Extrem, eine von jüngsten Trends der modernen Literaturwissenschaft beeinflußte Deutung, präsentieren das Buch von KENNEDY (1993), der an VEYNE (1983) anknüpft, und die von MILLER/PLATTER (1999) und FEAR (2000) herausgegebenen Aufsatzsammlungen, während das ausführliche Vorwort zu BOOTH (1999) zu vermitteln versucht. Zur Frühgeschichte der griechischen Elegie ist BOWIE (1986) besonders lesenswert, und zu Kallimachos als Elegiker sowie zu seinem Einfluß auf die römische Dichtung sind vor allem die Standardwerke von WIMMEL (1960) und CAMERON (1995) hilfreich. Speziell zu dem Einfluß des hellenistischen Dichters auf die Entstehung der römischen Liebeselegie tragen PUELMA (1982) und BINDER/HAMM (1998) Thesen vor, die zusammen mit den Überlegungen von CAIRNS (1979, 214–228) an der Gültigkeit der Ergebnisse, die die Arbeiten von JACOBY (1905), DAY (1938) und STROH (1983) zum Entstehungsproblem erzielten, zweifeln lassen. Hellenistische Epigrammbücher zu rekonstruieren versucht GUTZWILLER (1998), allgemein mit dem Aufbau des hellenistischen und des römischen Gedichtbuches befassen sich PERADOTTO/VAN SICKLE (1980) und KREVANS (1984). Über die Papyrusfragmente griechischer Elegien vom Typ der römischen Amores-Elegie äußern sich PARSONS (1988), HOSE (1994), BUTRICA (1996b), MASTROIACOVO (1998) und LUPPE (2000). Zu Catull sei im Zusammenhang mit der römischen Liebeselegie nur auf folgende Arbeiten verwiesen: Für die Einheit von Catulls c. 68 tritt am überzeugendsten SYNDIKUS (1990, 239–296) ein, und speziell die Funktion der Analogie untersucht FEENEY (1992). Die jüngsten Überlegungen zur jeweiligen Einheit der (ursprünglich) drei Bücher der Sammlung Catulls findet man bei HOLZBERG (2000), während KING (1988) nur „Buch 3“ (= c. 65–116) behandelt. Das Wertesystem und weitere Motive und Themen der römischen Liebeselegie untersuchen zahlreiche Arbeiten; hervorzuheben sind: COPLEY (1947), BURCK (1952), MÜLLER (1952), COPLEY (1956), STEIDLE (1962), STROH (1971), HOFFMANN (1976), LYNE (1979), RANDALL (1979), FRUHSTORFER (1986), MYERS (1996), OLIENSIS (1997) und MCCARTHY (1998). Für die Frage nach den sozialen Entstehungsvoraussetzungen der römischen Liebeselegie sind zunächst einmal übergreifende Arbeiten zur augusteischen Kultur und speziell zum Literaturbetrieb des 1. Jahrhunderts einschlägig; ich begnüge mich mit der Nennung von ZANKER (1987), WHITE (1993), CITRONI (1995), FANTHAM (1996) und GALINSKY (1996). Die Probleme, die mit einer Auswertung literarischer Texte der Antike für eine Darstellung des Lebens in Rom verbunden sind, beschreiben besonders treffend THOMAS (1988) und WYKE (1992). In diesen Zusammenhang gehören auch die Arbeiten zur „womanufacture“ der römischen Elegiker (zum Begriff: SHARROCK [1991]); besonders ergiebig sind: WYKE (1989b) & (1994). Die wichtigsten Untersuchungen zur Geschlechterordnung im antiken Rom sind die Bücher von EDWARDS (1993), MEYER-ZWIFFELHOFFER (1995) und WILLIAMS (1999) sowie der Sammelband von HALLETT/SKINNER (1997), darin insbesondere SKINNER (1997). Von den Arbeiten der Gelehrten, die in dem Bekenntnis des elegischen Ich zu einer alternativen Daseinsform eine Protesthaltung und Ausdruck der Systemkritik sehen, hebe ich STROH (1983) und STAHL (1985) hervor. Zu den Viten der Elegiker äußerten sich zuletzt GALL (1999 [Gallus]), LYNE (1998a, 177–181 [Properz]) & (1998c [Properz und Tibull]) und HOLZBERG (1997 & 21998 [Ovid]), zu ihrem Verhältnis zu den Patronen und der Augusteischen Politik DUQUESNAY (1992) und CLOUD (1993). Zur erotisierenden Wirkung der Elegie auf die zeitgenössischen Leser gibt es noch keine gattungsübergreifende Untersuchung; für eine solche könnte ADAMS (1982) wertvolle Hilfe leisten. Ebenso fehlt eine modernen Ansprüchen genügende Arbeit zu Humor und Witz in der römischen Liebeselegie. Wichtige Anregungen geben hier GALE (1997) und INGENKAMP (1997). Dafür gibt es zwei unentbehrliche Standardwerke zu Anspielung und Intertextualität in der römischen Dichtung: CONTE (1986) und HINDS (1998).

Die römische Liebeselegie

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