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1. DER GATTUNGSTYP „RÖMISCHE LIEBESELEGIE“

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In seiner Übersicht über die Gattungen der antiken Literatur in Buch 10 der Institutio oratoria nennt Quintilian als römische Vertreter der Elegie Tibull, Properz, Ovid und Gallus (1.93). Da es im Rom der späten Republik und der frühen Kaiserzeit nachweislich mehr als diese vier Elegiker gab – hier wäre z.B. Catull als Verfasser von c. 65–68 anzuführen –, präsentiert der Rhetor uns offenbar nur den Kanon der römischen „Klassiker“ des Genres. Durch drei Stellen bei Ovid, an denen dieser sich selbst mit den drei anderen Elegikern zu einem Dichterquartett vereint (Ars 3.535–538; Rem. 763–766; Trist 4.10.51–54), wird das bestätigt. Hinzu kommt, daß die vier Elegiker Gedichtsammlungen publizierten, die einander in Aufbau und Motivik sehr ähnlich waren. Zwar ist die Sammlung des Gallus, die wahrscheinlich wie Ovids erstes elegisches Werk den Titel Amores trug, verlorengegangen, aber es darf als einigermaßen sicher gelten, daß sie mit den Sammlungen des Properz, Tibull und Ovid, deren strukturelle und stoffliche Verwandtschaft deutlich erkennbar ist, folgendes gemeinsam hatte: In einer Serie von Gedichten sprach ein elegisches Ich, das sich als Verfasser dieser Poesie ausgab, von seinen überwiegend leidvollen Liebeserfahrungen – diese dürften durch das Wort amores, mit dem vielleicht auch Properz und Tibull ihre Sammlungen überschrieben, bezeichnet sein – und verwendete dabei immer wieder ganz bestimmte Topoi, die seine Grundhaltung gegenüber der von ihm geliebten Person zum Ausdruck brachten. Auf diese Person, eine puella namens Lycoris, konzentrierte sich die Liebe des Ich-Sprechers bei Gallus, während bei Properz eine Cynthia und bei Ovid eine Corinna im Zentrum stehen; lediglich Tibulls persona liebt, da seine Sammlung eine Abfolge von Elegienzyklen darstellt, drei Personen: Delia, Marathus und Nemesis.

Da es unter den antiken Elegien, soweit sie erotischer Natur sind, auch solche gibt, in denen ein elegisches Ich nicht als Autor der Verse spricht, sondern als eindeutig fiktive Person – z.B. als mythische Figur –, pflegte man bis in jüngere Zeit die erhaltenen Gedichte, in denen die personae des Properz, Tibull und Ovid von ihren amores erzählen, als „subjektiv-erotische“ von „objektiv-erotischen“ Elegien dieser und anderer Dichter zu unterscheiden. Dabei rechnete man zur zweiten Gruppe sowohl die Gedichte, die nur aus der elegischen Rede eines vom Ich des Dichters auf jeden Fall verschiedenen Ich bestehen – z.B. Catulls c. 66, die Klage der Locke der Berenike –, als auch elegische Erzählungen mit erotischer Thematik wie die Geschichte von Akontios und Kydippe in den Aitia des Kallimachos (Frg. 67ff. Pf.). Diese Kategorisierung darf jedoch heute als überholt gelten, da man im Gegensatz zur älteren Forschung den „ich“ sagenden poetal amator in den Elegien des Properz, Tibull und Ovid nicht mehr mit der realen Person des Dichters gleichsetzt, und das mit Recht: Was der sich als verliebter Poet vorstellende Sprecher der Amores-Dichtung über seine Liebeserfahrungen berichtet, ist ebenso fingiert wie das, was wir von der Locke oder durch den Erzähler des Akontios-Mythos erfahren. Denn die Figur des poeta/amator bei Properz, Tibull und Ovid ist ebenso wie diejenige der puella (bzw. des Knaben Marathus) ein Konstrukt. Bei allen drei Elegikern werden ein junger Mann aus gutem Hause, der als Dichter, nicht jedoch als Liebhaber erfolgreich ist, und eine schöne junge Frau, die die Züge einer Hetäre trägt und dem poeta/amator immer wieder untreu ist, miteinander konfrontiert. Durch Variieren der mit dieser Konstellation verbundenen poetischen Motive, die in einer jahrhundertealten literarischen Tradition stehen, formt der Elegiker die „Geschichte“ der amores seiner persona und verbindet damit eine bestimmte Wirkungsintention.

Das von römischen Dichtern angesprochene Publikum war – so darf man allein schon aus der Tatsache folgern, daß Texte vom Autor zunächst für einen relativ kleinen Kreis von Zuhörern bei Rezitationen bestimmt waren –, primär die Oberschicht des zeitgenössischen Rom. Nun ist der Abschnitt der römischen Geistesgeschichte, in dem die Amores-Dichtung der vier „Klassiker“ entstand, ziemlich genau mit der historisch relativ gut erfaßten und in sich geschlossenen Epoche des Übergangs von der Republik zum Prinzipat identisch, so daß die Voraussetzungen für eine Rekonstruktion der Produktions- und Rezeptionsbedingungen recht günstig erscheinen. Die vier Bücher umfassenden Amores des Gallus dürften nicht lange vor dem Beginn der dreißiger Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. und die drei Bücher Amores Ovids bald nach 16 v. Chr. entstanden sein; dazwischen liegt die Publikation der vier Elegienbücher des Properz etwa 28, 26, 24 und 16 v. Chr. und der beiden Bücher Tibulls etwa 27 und 19 v. Chr. Ovid verfaßte außer den Amores, seinem Erstlingswerk, noch mehrere elegische Dichtungen und darunter auch solche erotischen Inhalts, aber er setzt darin nicht mehr die Maske des „ich“ sagenden poeta/amator auf. Nach seinem Tod um 17 n. Chr. entstand dann doch noch eine Elegiensammlung, deren Sprecher in den Gedichten 1–6 und 19–20 ein elegisch verliebter Dichter ist: das dritte Buch des Corpus Tibullianum. Doch hierbei handelt es sich, da der Verfasser sich fälschlich Tibull nennt, um ein Pseudepigraph und damit bereits um ein Textzeugnis für das Nachleben des Gattungstyps. Wahrscheinlich ist die Sammlung erst um 100 n. Chr. zu datieren.

Es ist also in etwa die Zeit vom Beginn der militärischen Erfolge Oktavians (43 v. Chr.) bis zur Etablierung seiner Monarchie und damit die Phase vom Wiederaufflammen der Bürgerkriege bis zu den letzten Feldzügen des Prinzeps vor dem Gelöbnis des Baus der Ara Pacis (13 v. Chr.), in der die „Klassiker“ der Amores-Dichtung entstanden. Da fällt es natürlich auf, daß die vier Ich-Sprecher sich statt zu einem Leben für den Krieg, der ja die Epoche wesentlich prägte, zu einem ganz der Liebe geweihten Dasein bekennen. Gewiß, der Gedanke, daß ein junger Mann der militia im Dienste eines Feldherrn diejenige im Dienste Amors vorzieht, ist schon in der erotischen Dichtung der Griechen ein Motiv. Aber die große Bedeutung dieses Motivs bei Properz, Tibull und Ovid sowie die Tatsache, daß es in direkter Bezugnahme auf zeitgenössische Militäraktionen verwendet wird, machen es wahrscheinlich, daß die römische Variante der Parole „make love, not war“ die Leser der Augusteischen Epoche besonders ansprach. Folglich wird, wenn ich mich jetzt der Frage nach den Ursprüngen der Amores-Dichtung zuwende, die Erörterung der sozialen Entstehungsbedingungen eine wichtige Rolle zu spielen haben. Doch da die Wurzeln der römischen Elegie bis in die Epoche der archaischen griechischen Poesie zurückreichen, beginne ich mit einer Behandlung des Problems im Rahmen der Gattungsgeschichte.

Die römische Liebeselegie

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