Читать книгу Schön wie die Acht - Nikola Huppertz - Страница 5
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Sie haben mich nicht gefragt, ob ich einverstanden bin. Mama nicht und Papa erst recht nicht, dabei ist es seine Tochter und seine Angelegenheit. Und einfach was dagegen sagen, dass Josefine jetzt bei uns ist, geht ja auch nicht. Wegen ihrer Mutter. Wenn jemand Krebs hatte und operiert worden ist, darf man gegen nichts was sagen. Dann muss man froh und dankbar sein, dass alles gut gegangen ist, die jetzt krebsfreie Mutter einen Platz in der Reha hat und, wenn alles glattgeht, in ein paar Wochen gesund zurück nach Hause kommt.
Versteh ich ja.
Auch, dass Papa sich solange um Josefine kümmern und sie hier zur Schule gehen muss, in meine Schule, genauer gesagt, weil das angeblich am unkompliziertesten ist.
Aber trotzdem mag ich nicht, wie sie an unserem Abendbrottisch sitzt und aussieht, als wollte sie alle umbringen. Und wie Papa sich diese Mörderblicke, die ihr x-fach gepierctes Gesicht unter der schwarzen Hoodie-Kapuze hervorfeuert, auch noch gefallen lässt. Wie er irgendwelche Sachen daherredet, die niemanden interessieren, von der Firma oder seinem letzten Tennistraining, und versucht, so zu tun, als wär es total normal, dass wir neuerdings zu viert sind.
»Malte, reichst du deiner Schwester noch mal den Brotkorb«, sagt er jetzt.
Dabei war vom Brotkorb vorher noch gar nicht die Rede, und sie ist auch nicht meine Schwester, sondern meine Halbschwester, das ist ein Unterschied im Verwandtschaftsgrad von hundert Prozent. Mal davon abgesehen, dass ich sie erst zwei- oder dreimal getroffen hab, zuletzt, als ich vielleicht sechs war.
»Wieso noch mal?«, frage ich, weil, von so was krieg ich Kopfjucken. Wenn Erwachsene falsche Sachen sagen, obwohl sie es eigentlich besser wissen. »Sie hat doch bis jetzt nur Tomaten gegessen. Und du weißt ja gar nicht, ob sie überhaupt Brot mag.«
»Malte!« Papas Stimme klingt plötzlich streng. Selbst Mama guckt mich ganz komisch an, fast, als wollte sie vertuschen, dass wir Josefine eigentlich gar nicht kennen. Und das, obwohl sie sonst immer betont, das Mädchen und seine Mutter, das war vor ihrer Zeit, damit hat sie nichts am Hut.
»Lass gut sein, Kleiner«, sagt meine Halbschwester da und greift quer über den Tisch, aber nicht, um sich was aus dem Brotkorb zu angeln, sondern noch eine Tomate. Die letzte. Sie beißt rein wie in einen Apfel, schlürft Saft und Glibber aus dem Inneren und steht mit dem Rest in der Hand vom Tisch auf. Noch ein Mörderblick in die Runde. Dann verschwindet sie einfach aus der Essecke in unserem Wohnzimmer.
Mama und Papa gucken sich an.
»Merkst du nicht, dass es eine schwierige Situation für Josefine ist, Malte?«, fragt Mama.
»Doch«, sage ich, kaue dabei mein Käsebrot. »Weiß ich. Und ich hätte ihr den Brotkorb ja auch gegeben. Ich hab nur gesagt …«
»Wir haben gehört, was du gesagt hast«, unterbricht Papa mich. Dann seufzt er. »Und? Was macht die Kunst?«
Jetzt greife ich tatsächlich noch mal zum Brotkorb. Das war der erste normale Satz bei diesem Abendessen.
»Montag geht die Vorbereitung für die Landesrunde los«, antworte ich.
»Wie viele sind denn jetzt eigentlich noch im olympischen Boot?« Papa schiebt mir die Butter rüber.
Ich schabe welche ab, schmiere sie auf die Brotscheibe, lege zwei Scheiben Gouda drauf. »Von unserer Schule außer mir niemand mehr. Kolja ist knapp dran vorbeigerutscht. Aber es kommt noch eine von der IGS dazu, weil die da keinen eigenen Matheclub haben.«
»Und die hat es ganz allein so weit geschafft?«, erkundigt sich Mama.
Ich erschrecke. Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht, und, zugegeben, einen Moment lang stresst es mich. Aber dann fällt mir ein, dass ich mir das Allermeiste auch selbst beibringe und der Zerhusen mir nur hilft, wenn ich ihn darum bitte. Weil das nämlich tausendmal mehr bringt. Und das sage ich Mama und Papa auch.
»Wie auch immer«, erwidert Papa. »Dann wird’s ja jetzt spannend.«
Im selben Moment hämmert unter uns im Hobbykeller, wo Josefine einquartiert ist, laute Musik los.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, ziehe das Übungsblatt aus der Mappe, lese zum weiß nicht wievielten Mal die letzte Aufgabe. Die anderen hab ich alle gelöst, sowohl Mengenlehre als auch Algebra, ziemlich schnell sogar, bloß diese eine mit der Sinusfunktion hat es echt in sich.
Phasenverschiebung.
Amplitudengröße.
Intervalle.
Davon hab ich bis jetzt nur so eine ungefähre Vorstellung.
»Aber ich krieg dich schon noch!«, sage ich und hole das Mathelexikon aus der Schublade.
Meine Kunst. So hat Papa es schon genannt, als ich in der Kita mit Bauklötzen Einmaleinsaufgaben gelegt hab und die Erzieherinnen sich bei Mama und ihm beschwert haben, weil sie dachten, ich würde zu Hause gedrillt.
Als wäre was dabei: Vier Würfel, vier Zylinder, vier Quader. Ergeben, tadaaa!, einszwodreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölf.
Papa hat versichert, dass ich das nicht von ihm hab, Zahlen und Rechnen und so, sondern dass er sich damit immer irgendwie durchgemogelt hat. Von Mama hab ich es auch nicht, die hat es ja mehr mit Sprachen, während ich damals angeblich noch keinen richtigen Satz auf die Reihe gekriegt hab. Als die Erzieherinnen das gehört haben, mussten sie einsehen, dass ich die Bauklotzsache ganz von selbst gemacht hab.
Ich schlage das Lexikon auf, irgendwo, und schnuppere ein bisschen an den Seiten. Vielleicht ist es ja gar nicht so wichtig zu wissen, wo was herkommt. Viel wichtiger ist, dass man es eben hat. Weil es natürlich Spaß macht, also Mathe, auch wenn die meisten Leute es komisch finden, dass jemand sich freiwillig damit abgibt. Zum Beispiel mit der schwierigen Aufgabe, an der ich schon seit Tagen rumtüftle. Obwohl ich Sinus und Kosinus bis dahin noch gar nicht hatte. Nicht im Matheclub und im Unterricht sowieso nicht. Aber ich hab mich da jetzt reingelesen, in die ganze Sache mit dem Einheitskreis, dem Winkel- und Bogenmaß, den Seitenverhältnissen und den dazugehörigen Funktionen, und ich will die Aufgabe unbedingt bis morgen knacken. Bevor der Zerhusen sie mir erklären kann. Erst recht, wenn die IGSlerin dazukommt, die sich bis jetzt alles selbst beibringen musste. Ich meine, wär ja noch schöner, wenn sie das Übungsblatt dann allein hinbekommen hätte und ich nicht! Schließlich hab ich noch immer alles gelöst. Weil Mathe nämlich logisch ist, und logische Dinge kriegt man früher oder später raus. Aus A folgt B und so weiter. Man muss nur den Weg kapieren, Schritt für Schritt, dann zeigt sich das Ergebnis ganz automatisch. Wie eigentlich bei allem, solange man nur geordnet darüber nachdenkt. Und dann, plötzlich, versteht man es.
Jedenfalls brauche ich jetzt nur noch rauszufinden, welcher Wert in der Sinusfunktion zu welcher Verschiebung führt: nach links, rechts, oben, unten. Dann hab ich’s.
Vorausgesetzt, Josefine stellt ihre Musik endlich mal leiser. Weil, so kann ja kein Mensch überlegen.
»Du bist so ’n kleiner Verwöhnter, oder?« Meine Halbschwester legt den Kopf zur Seite und guckt mich von oben bis unten an. »Könntest du bitte ’n bisschen leiser drehen, ich löse gerade ein mathematisches Problem! Echt, ey! Haust du öfter so was raus?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also stehe ich bloß blöde auf den kühlen Kellerfliesen rum und schweige. Immerhin hat sie den Laptop zugeklappt und die Anlage neben der Schlafcouch ausgeschaltet. Aber jetzt einfach abhauen geht irgendwie nicht. Bei dem Blick unter dem doppelten Augenbrauenpiercing.
»Wie alt bist du noch mal?«, fragt sie weiter.
»Zwölf«, antworte ich. Und füge schnell hinzu: »In zwei Monaten dreizehn.«
Josefine grinst, schief und ein bisschen fies. »Soso, in zwei Monaten dreizehn. Da hat unser Vater dich also gezeugt, als ich … warte mal … drei Jahre und fünf Monate alt war. Ich kann nämlich auch ein bisschen rechnen.« Sie steht von der Couch auf, guckt sich kurz im Hobbykeller um, tappt zur Fitnessecke, nimmt sich zwei Hanteln. Von den mittelgroßen, wohlgemerkt, bei denen ich es schon anstrengend finde, sie festzuhalten, und es ist mir fast unheimlich, als sie so mir nichts, dir nichts anfängt, Bizepscurls zu machen. »Worum geht’s denn?«, fragt sie irgendwann und klebt ihren Blick wieder an mir fest.
Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, wovon sie redet.
»Um die Sinusfunktion«, sage ich. »Phasenverschiebung und so was.«
»Ach das«, erwidert sie. Nicht mehr und nicht weniger, und ich weiß nicht, ob es an den Gewichten liegt, die sie allmählich aus der Puste bringen, oder ob das Thema für sie schon durch ist. Also gucke ich zu, wie ihre Curls immer langsamer werden, sich ihr Gesicht von Wiederholung zu Wiederholung stärker verzieht, und schiebe sicherheitshalber nach: »Wegen der Matheolympiade. Ich mach da mit. Bald ist Landesrunde, da entscheidet sich, wer zu Jugend trainiert Mathematik darf.«
»Aha«, keucht sie, legt die Hanteln zurück und schüttelt die Arme aus. »Und was machst du sonst noch so in deinem Leben? Wenn du nicht gerade mathematischen Problemen hinterherläufst?«
Das ärgert mich. Nicht, weil ich sonst nichts mache, sondern weil es klingt, als wär Mathe nichts Richtiges. Also sage ich: »Jedenfalls hänge ich nicht mit dem Laptop auf dem Bett rum und nerve alle mit meiner Musik.«
Josefine zieht eine Augenbraue hoch. »Nicht schlecht, Kleiner!«, sagt sie, tappt zurück durch den Kellerraum und lässt sich wieder auf die Schlafcouch fallen.
»Und ich bin auch kein kleiner Verwöhnter.«
Sie grinst ihr schiefes Grinsen. »Na, dann ist ja gut.«
Plötzlich stehe ich wieder bloß blöde da und weiß nicht, was ich sagen soll. Aber wenigstens lasse ich mich nicht länger von ihrem Blick festtackern. Ich drehe mich einfach um und gehe. Als ich in der Tür noch mal kurz zurückgucke, hat sie ihren Laptop wieder aufgeklappt. Und streckt den Arm zur Anlage aus.