Читать книгу Schön wie die Acht - Nikola Huppertz - Страница 8

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Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, ist schon mal die eine Sache. Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, wenn man zu wenig geschlafen hat, noch eine andere. Vor allem, wenn es draußen gar nicht richtig hell werden will, weil die ganze Welt in einen fiesen Nieselregen gehüllt ist. Und wenn die Ullrich dann auch noch über Gedichte redet, genauer gesagt über eins mit dem Titel »Zirkuskind«, von einer Frau, die Rose Ausländer heißt und schon tot ist, und wenn das Gedicht dann gar nicht von einem echten Zirkuskind handelt, sondern irgendwie von der Frau selbst und ihrer Fantasie.

Gedichte. Damit kann ich einfach nichts anfangen. Geschichten sind ja okay, da gibt es echt ganz spannende. Früher, als Mama mir noch welche vorgelesen hat, fand ich das immer gut, besonders, wenn darin spezielle Technologien eine Rolle spielten oder Schiffsreisen oder das Weltall. Manchmal lese ich noch immer Bücher, wenn auch nicht unbedingt dieselben wie im Deutschunterricht. Nur, worauf ich gerade Lust hab. Aber Gedichte, die mag ich nicht. Die sind irgendwie so schwurbelig, vor allem, wenn sie keine feste Form haben, sondern einfach nur aus merkwürdigen Sätzen bestehen. Im schlimmsten Fall sind es nicht mal richtige Sätze, jedenfalls keine logischen, sondern Bilder, wie die Ullrich es nennt. Dann weiß man erst recht nicht, was die sollen. Wenn ich Gedichte schreiben würde, würden sie sich wenigstens reimen, und die Zeilen müssten jeweils eine bestimmte Anzahl von Silben haben, damit alles aufgeht, aber natürlich schreibe ich keine, und ich hab auch keine Lust, über welche zu reden.

»Malte, du siehst skeptisch aus«, spricht die Ullrich mich jetzt auch noch an, und sofort guckt die ganze Klasse zu meinem Platz rüber. »Welche Einwände hast du gegen das ›Zirkuskind‹?«

»Ach, gar keine«, murmle ich, aber jetzt beißt die Ullrich sich fest.

»Na, sag schon!«

Ich zucke die Achseln. »Weiß nicht. Ich kapier das einfach nicht so richtig.«

»Dann lies das Gedicht doch bitte noch mal laut.«

Auch das mag ich nicht. Laut vorlesen. Aber jetzt muss ich wohl oder übel ran. Also nehme ich das Blatt, auf dem in der Mitte der Text winzig klein fotokopiert ist, und überfliege sicherheitshalber vorab die Zeilen.

»Ich bin ein Zirkuskind«, fange ich dann an.

Die Ullrich lächelt mir zu.

»spiele mit Einfällen

Bälle auf – ab

Ich geh auf dem Seil

über die Arena

der Erde

reite auf einem Flügelpferd

über ein Mohnfeld

wo der Traum wächst

Werfe dir Traumbälle zu

Fang sie auf«

»Gut«, sagt die Ullrich. »Traumbälle. Was ist denn damit wohl gemeint?« Sie guckt immer noch mich an.

Wieder zucke ich die Achseln. »Dass sich jemand was vorstellen soll?«

»Aha!«, sagt sie, als hätte ich ihr wer weiß was offenbart. »Wer soll sich denn was vorstellen?«

Ich blicke wieder auf die mikroskopischen Zeilen. »Die Person, der die Traumbälle zugespielt werden.«


»Genau. Und wer ist das?«

Mein Mund wird trocken. Ich versuche vergeblich zu schlucken. Halte mich mit den Augen am Zettel fest.

Werfe dir Traumbälle zu.

Weiterlesen.

Fang sie auf.

»Wer soll sich was vorstellen und von Einfällen berühren lassen?«, hakt die Ullrich nach.

Ich sammle Spucke im Mund zusammen. Viel ist es nicht. »Der Leser?«, frage ich leise. »Den Rose Ausländer anspricht? In ihren Gedichten?«

»Genau«, sagt sie glücklich. »Ein Gedicht ist immer eine Art Zwiegespräch.« Und nun lässt sie mich endlich in Ruhe.

Neben mir stößt Mats mich mit dem Ellbogen an. Grinst und flüstert: »Voll der Deutschprofi heute.«

Statt zu antworten, gucke ich mit schweren Augen raus in das Februargrau. Kurz versuche ich, mir ein Flügelpferd vorzustellen, das über ein Feld galoppiert, auf dem ein Traum wächst. Aber es funktioniert nicht. Da sind nur der Schulhof mit den Tischtennisplatten, der verhangene Himmel und ein Stück vom Seitentrakt mit den Fachräumen, wo wir Physik und Bio und Matheclub haben.

Ich bin eben keiner, der Traumbälle auffängt. Beziehungsweise was mit Gedichten anfangen kann.

Als die Pause beginnt, nieselt es noch immer, und so gut wie die ganze Schule quetscht sich in die Cafeteria. Normalerweise kann man in so einem Gedränge direkt neben jemandem stehen und sieht ihn trotzdem nicht, weil sich immer ein anderer an einem vorbei zur Essensschlange drängelt oder einen wegschiebt oder mit seinem breiten Rücken anschubst, aber Josefine entdecke ich sofort. Durch alle Leute hindurch.

Sie sitzt an einem der Tische und hat den Kopf gelangweilt in die Hände gestützt, als ginge sie der ganze Trubel nichts an. Und das Unheimliche ist: Sie sieht mich auch. Als gäbe es da einen Blicktunnel zwischen uns. Und weil ich gleich merke, das geht jetzt nicht, dass ich einfach weggucke und mich mit Mats und Philipp unterhalte, nicht, wenn sie mich so anschaut, es scheint sie überhaupt nicht zu interessieren, ob es mir peinlich ist oder nicht, sie hier zu treffen. Also nicke ich ihr ergeben zu, sage zu Mats und Philipp: »Komme gleich wieder« und kämpfe mich zu ihr durch.

»Hey!«, begrüßt sie mich. »Was geht?«

»Nichts Besonderes, und bei dir?«

Statt zu antworten, nimmt sie den Kopf aus den Händen, setzt sich ein bisschen auf, mustert mich. »Müde?«

»Ich konnte gestern nicht einschlafen. Und wir hatten gerade Deutsch … Gedichte!«

»Cool«, sagt sie, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass sie damit nicht meinen schlechten Schlaf meint.

»Was? Gedichte?«

»Findeste nicht?«

Ich beiße von meinem Käsebrot ab, überlege, ob sie es vielleicht ironisch meint.

»Jedenfalls besser als Sport«, fügt sie hinzu. »Das hab ich jetzt gleich, und es dürfte unter Umständen noch bescheuerter werden als Bio mit dieser scheiß Genetik.«

Nun bin ich einigermaßen verwundert. »Ich dachte, du machst gerne Sport.«

»Ja, aber doch nicht in der Schule!« Es klingt, als hätte ich das eigentlich wissen müssen.

»Ich find Schulsport auch nicht so toll«, beeile ich mich zu sagen, und dabei muss ich plötzlich an Lale und ihren Volleyball denken und frage mich, ob sie im Verein spielt oder AG-mäßig in der IGS.

Josefine unterbricht meine Gedanken. »Aber wenn ich’s mir recht überlege, geh ich eh nicht hin«, sagt sie.

Als ich das höre, stolpert mein Herz. »Wohin gehst du nicht?«

»Zu Sport natürlich.« Mit einem entschiedenen Ruck steht sie vom Tisch auf. »Gibt Wichtigeres im Leben.«

»Aber du kannst noch nicht …!«

»Was kann ich nicht?«, fragt sie eine Spur zu laut.

Ein paar Leute drehen sich nach uns um, und na klar, Kolja ist auch dabei. Der taucht jetzt wohl immer haargenau dort auf, wo Josefine ist. Vielleicht hat er uns sogar schon länger zugehört, ohne auf sich aufmerksam zu machen.

»Hallo«, sagt er, als unsere Blicke sich treffen. Er sagt es deutlich genug, dass auch Josefine es hören müsste.

Doch die achtet genauso wenig auf ihn wie auf alle anderen in der Cafeteria. Sie schnappt sich nur ihren Rucksack, zieht die Kapuze ihres Hoodies über und wuschelt mir durch die Haare. »Tschüss, Kleiner«, sagt sie, und ehe ich noch was erwidern kann, schiebt sie sich durch die Massen, die ihr erstaunlich gehorsam Platz machen, davon.

»Was hatte die denn?«, fragt Kolja und guckt ihr verdattert nach, so lange noch was von ihr zu sehen ist.

»Keine Ahnung.« Ich denke daran, wie sie zuerst dasaß, den Kopf schwer in die Hände gestützt. »Schlechte Laune?«

»Phhhh«, macht er. »Scheint mir auch so. Ist irgendwas passiert?«

Eigentlich will ich echt nicht weiter mit ihm über Josefine reden, aber dann kommt mir was in den Sinn, etwas, das schon die ganze Zeit ungehört in meinen Ohren nachhallt. »Was bespricht man in der Zehnten eigentlich in Genetik? DNA und so was?«

Er kratzt sich am Hinterkopf. »Also, wir haben da gerade erst mit angefangen … mit dominanter und rezessiver Vererbung. Und wie die sich auswirkt, zum Beispiel bei roten Haaren oder bestimmten Krankheiten.«

»Mhm«, mache ich. »Was denn für Krankheiten?«

»Weiß nicht mehr, verschiedene. Wieso fragst du?«

Ich schiele zu ihm hoch. Er hat es nicht kapiert. Obwohl er sich so für meine Halbschwester interessiert, hat er nicht verstanden, dass ich wegen ihr gefragt hab. Weil es nämlich bestimmt keinen Spaß macht, über Erbkrankheiten zu sprechen, wenn die eigene Mutter gerade Krebs hatte. Auch wenn das natürlich keine Entschuldigung für den Sportunterricht ist.

»Nur so«, antworte ich und Koljas Gesicht sieht noch verdatterter aus als vorher. Dann scheint ihm ein Gedanke zu kommen, aber im selben Moment zupft mich jemand von hinten an der Jacke, und als ich nachsehe, stehen da Mats und Philipp.

»Wir gehen doch mal kurz raus, kommst du mit?«, fragt Philipp.

»Okay«, sage ich. Und diesmal bin ich es, der Kolja einfach stehenlässt. Nicht umgekehrt.

In der fünften und sechsten fällt Geschichte aus und wir dürfen in den PC-Raum. Offiziell sollen wir was recherchieren, zu den Pyramiden in Ägypten, weil wir eigentlich gerade frühe Hochkulturen durchnehmen, aber die Vertretungslehrerin guckt gar nicht, ob wir das auch wirklich machen, sondern blättert in ihren Unterlagen, und jeder googelt irgendwas rum – außer unserem guten Rafael wahrscheinlich, der macht ja immer haargenau das, was ihm die Lehrer sagen.

Philipp am PC rechts neben mir hat sogar eine Spieleseite geöffnet und Valeria links ist auf Instagram unterwegs.

Ich für meinen Teil lese zuerst ein paar Sachen über Brustkrebs nach, Warnzeichen, Risikofaktoren, Behandlungsmöglichkeiten und so weiter. Aber obwohl man mit Artikeln zu dem Thema fast erschlagen wird, ist da vieles nicht so eindeutig, und erst, als ich »Brustkrebs« plus »Vererbung« eingebe, wird es ein bisschen interessanter. Allerdings auch ganz schön kompliziert, und außerdem ist so ein Krankheitszeugs ja ziemlich deprimierend, darum hab ich bald keine Lust mehr.

Sicherheitshalber rufe ich als nächstes die Wikipedia-Seite mit der Liste der ägyptischen Pyramiden auf, irgendwas muss man ja vorweisen können, dann öffne ich einen neuen Tab und gehe auf eine Matheseite, die ich gut finde. Weil es da für fast alles, was man wissen möchte, Tutorials gibt, und dann kann man noch verschiedene Übungen machen und sich Tipps geben lassen, wenn man welche braucht, und die Lösungen kann man sich auch durchlesen. Als ich ins Trigonometriekapitel gehe, entdecke ich auch gleich Aufgaben zum Tangens und Kotangens und rufe eine auf. Aber dann muss ich an Lale denken und mir fällt was Besseres ein.

»Lale Erdem« tippe ich, und davon, verrät mir Google, gibt es leider so einige, sowohl auf deutschen als auch auf türkischen Seiten. Erst als ich auch noch den Namen der IGS dazuschreibe, lande ich bei der richtigen Lale. Mit der Volleyball-AG ihrer Schule nach irgendeinem Spiel. Und als ich mich weiter durch die Fotogalerie auf der Homepage klicke, finde ich sie auch auf einem Foto vom Schulchor. Und dann noch auf einem vom Schulfest, aber nur im Hintergrund. Und jedes Mal, wenn ich sie zwischen den ganzen Unbekannten auf den Bildern erkenne, durchfährt mich so ein kleines Zucken, ein bisschen wie wenn man sich an der Autotür beim Aussteigen einen Stromschlag holt und das halb eklig, halb angenehm ist.

Sehr viel unangenehmer fühlt es sich allerdings an, als plötzlich die Vertretungsfrau dicht hinter mir steht und laut in die Klassenrunde fragt, was unsere Recherche macht. Als ich über die Schulter schiele, landet ihr Blick auch noch auf meinem Gesicht.

Schnell klicke ich den IGS-Tab weg und bin heilfroh, als wieder die Pyramidenseite auf dem Bildschirm sichtbar wird. Aber trotzdem. Wer weiß, ob sie was gesehen hat, auch wenn ihr Blick wahrscheinlich nur kurz an mir vorbeigeschweift ist. Oder Philipp oder Valeria. Auf einmal hab ich das Gefühl, die ganze Klasse weiß, dass ich ein Mädchen gegoogelt hab, und ich merk schon, wie ich sauer werde, auf Lale und mich selbst und alle anderen, doch keiner sagt was oder tuschelt und zu mir gucken tut auch keiner.

Stattdessen gucken sie zu der Vertretungslehrerin, und die verkündet, wir sollen unsere Blöcke auspacken und in Stichpunkten unsere Ergebnisse notieren. Und diesmal mache ich, was sie sagt, genau wie unser guter Rafael, und die anderen machen es auch.

Nur denken muss ich noch ein bisschen an Lale und wie sie auf diesen Fotos aussah, strahlend und einfach nur … da, und die Krebssache geht mir auch wieder durch den Kopf. Immerhin kann ich Josefine bei Gelegenheit sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Dass Brustkrebs dominant vererbt wird, ist nämlich die absolute Ausnahme. In den allermeisten Fällen kommt er einfach so, und kein Mensch weiß, warum.

Schön wie die Acht

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