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MEINE ARME SIND ZU KURZ


Vielleicht sind sie auch geschrumpft – so, wie die Ohren immer größer werden. Nur umgekehrt eben.

Es fiel mir gestern auf. Ich bremste meinen Einkaufswagen zwischen den engen Regalen des Supermarkts ab und versuchte, ein Wort auf dem Zettel zu entziffern, den mir Frau Klammerle mit ihrer unnachahmlich kleinen und unleserlichen Handschrift erstellt und mitgegeben hatte. Einkaufslisten werden in der Klammer'schen Familie grundsätzlich daheim vergessen. Erstaunlich genug, dass heute diese Regel eine Ausnahme hatte, das Stück Papier in meinen Fingern war und nicht wie meist noch zuhause auf der Anrichte lag.

Klar, manches wusste ich auswendig: Seit Sohn Nr. 1 bei uns einen Teil seiner Semesterferien verbringt, steigt unser Lebensmittelverbrauch - besonders der von Smoothies, Milch und Schokomüsli - exponentiell an. Zudem erwartet der Herr Biologe mindestens zwei warme Mahlzeiten am Tag.

Aber was bedeutete das letzte Wort, das meine Frau da aufgeschrieben hat? Es steht ganz unten auf der Liste, unter „Hefe“ und „Mehl“? Ich starrte auf das Papier und alles verschwamm:

„Kartoffeln?“ - „Karpfen?“ - „Karabiner?“

Gut, ich hatte noch meine Sonnenbrille auf, weil ich mal wieder am Eingang vergessen hatte, sie gegen die normale auszutauschen. Also in die Tasche fassen, das Etui herausnehmen und die Brille wechseln ... Es half leider nichts, ich sah nicht deutlicher. Ich schob die Brille nach oben und streckte den Arm aus, ging mit Oberkörper und Kopf zurück. Der Abstand zwischen dem Zettel und meinen Augen war noch immer zu kurz: Ich konnte das einfach nicht entziffern. Vielleicht wurde es langsam Zeit, meine Lesebrille zum Einkaufen mitzunehmen.

„Karosserie?“ - „Karsamstag?“

Eine Oma rammte mir ihren Einkaufswagen schwungvoll von hinten in die Fersen. Durch den Schmerz stellte sich für Momente mein Fokus klar. Nein, es lag nicht an mir: Das Wort war einfach unleserlich. Obwohl ich seit 30 Jahren Hermeneutik an ihrer Handschrift betreibe, scheitere ich doch immer wieder an den Notizen meiner Frau. Die Oma drängelte an mir vorbei und murmelte etwas Unfreundliches über einkaufende Männer. Ich warf dem Rücken der alten Frau einen bösen, aber unscharfen Blick hinterher – klar, meine Brille lag ja noch auf meinen Haaren.

„Karmagnola-Minze?“ - „Karl-Heinz?“

Es war übrigens nicht die Brille, die ich sonst immer trage, sondern eine alte Reserve, die ich immer dann hervorkrame, wenn die neue kaputt oder verloren ist. Das passiert mir erstaunlich häufig.

Dazu muss ich jetzt etwas ausholen. Ich hoffe, Sie bringen ein wenig Zeit mit. Vielleicht machen Sie sich noch eine Tasse Kaffee und schmieren sich eine Butterbrezel, bevor Sie hier weiterlesen.

Dass ich kurzsichtig bin, fiel mir in Alter von 16 Jahren auf: Da ich als der coolste Schüler von allen selbstredend ganz hinten in der letzten Reihe saß, war es mir mit einem Mal unmöglich, die Tafelanschriften zu entziffern. Nicht, dass die mich weiter interessiert hätten, aber ich war doch beunruhigt. Zwar hatten einige Lehrkräfte eine ähnliche Handschrift wie heute Frau Klammerle, aber unscharf schrieb keiner.

Das erste Modell, das mir deshalb angepasst wurde, hatte die Form einer riesigen Pilotenbrille{11} und war immer fettig, weil sie unten auf meinen gut gepolsterten Wangen auflag. Es waren schließlich die Achtziger Jahre und meine Mutter hatte bei mir in Modedingen noch das Sagen.

Doch aus mir heute unerfindlichen Gründen setzte ich mich, sobald ich 18 war, zufällig auf diese Brille. Die nächsten Modelle waren dem jungen Künstler angemessen, es waren schmale, kreisrunde und ovale Formen mit dünnen Metallrahmen. Trotzdem wurde ich nicht für die Rolle des Harry Potter genommen. Seltsam!

Dieser Modelllinie bin ich trotz dieser Enttäuschung bis heute treu geblieben. Ich werde mir sicher keine Hipster-Brille mit dickem schwarzem Kunststoffgestell oder aus Holz zulegen, durch die jeder Dorftrottel sich einen intellektuellen Touch zu geben glaubt. Ich bin ja nicht Alexander Dobrindt; das habe ich nicht nötig. Meine Augen, die ich mir wahrscheinlich durch exzessives Computerspielen und heimliches Lesen unter der Bettdecke verdorben habe, wurden über die Jahre zu meinem Erstaunen nicht schlechter, ich blieb immer gleich kurzsichtig. Vor etwa fünf Jahren begannen dann allerdings die Probleme: Meine Augen fokussierten langsamer, ich konnte nicht mehr gleichzeitig lesen und fernsehen, im Café schreiben und dabei den Mädels hinterher sehen. Eine Weile hoffte ich, die neue Weitsichtigkeit würde die Kurzsichtigkeit regulieren. Aber dieses Glück hatte ich freilich nicht. Ich wurde zum „erstaunlichen Maulwurfmann“. Vor zwei Jahren traf ich deshalb einen folgenschweren Entschluss.

Deshalb bin ich jetzt im Besitz einer Lesebrille und einer Sonnen-Lesebrille und zweier Fernsicht-Sonnenbrillen und meiner normalen Brille in meiner Sehstärke und jener alten, vollkommen unmodischen Reservebrille. Aber nie finde ich die, die ich gerade brauche; wenn ich überhaupt eine entdecke. Meist stolpert der erstaunliche Maulwurfmann allein durch Zufall über eine. Lachen Sie nicht; suchen Sie mal Ihre Brille, wenn Sie kurzsichtig sind!

Dann hat sich meine normale Brille in Luft aufgelöst und ich konnte sie einfach nicht finden. Wahrscheinlich wurde sie in eine Parallelwelt versetzt oder befindet sich an Frau Klammerles geheimen Ort. Dort bewahrt sie einer Familiensage nach Dinge wie den wundervollen Totenkopffingerring von Sohn Nr. 2, meine geliebten, beschneiten Plastikweihnachtskugeln oder die verschollenen Batmancomics auf.

Ich trug eine Weile die alte Reserve, bis ich mir eine neue kaufte, die ich dann in meinem letzten Urlaub mitsamt meiner Nase und meiner Stirn zerschlug{12} (siehe Titelbild). Jetzt bin ich wieder zu meiner alten, offenbar unzerstörbaren Harry-Potter-Brille zurück gekehrt – ich bin mal wieder der „erstaunliche Maulwurf-Eulen-Mann“. Und deswegen stand ich gestern im Supermarkt und versuchte vergebens das kryptische Kleingedruckte auf einer Müslipackung zu lesen (Sohn Nr. 1 mag keine Rosinen). Meine Arme sind viel zu kurz für die Einkaufszettel meiner Frau.

PS. Frau Klammerle wollte übrigens „Karotten-Bio“; die brachte ich selbstredend nicht mit. Deshalb muss ich jetzt noch einmal los. Wo habe ich nochmal meine Reservebrille hingelegt ...?

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Noch einmal davon gekommen

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