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DAS MORGENGRAUEN


In jeder Alltagswoche zwingt mich mein Brotberuf, morgens vor 06:00 Uhr aufzustehen.

„Was?“, wird nun vielleicht einer der beiden Fans des weltberühmten Autors und Kolumnisten Nikolaus M. Klammer überrascht ausrufen: „Mein Lieblingsschriftsteller kann von seiner Literatur nicht leben? Das hätte ich nie gedacht; so eine Schande. Wie krank ist denn diese Welt?!“

Ja, mein lieber Freund, ich stimme dir gerne zu und gestehe es dir hier im Vertrauen - sozusagen von Angesicht zu Angesicht - denn sonst liest ja dieses Büchlein niemand: So ist das. Von der Feder zu leben ist so ertragreich wie der Versuch, einen Ochsen zu melken. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen:

Der Versuch, vom Schreiben zu leben, ist zwar nicht die schnellste Art zu verhungern, aber es ist doch noch immer die zuverlässigste.

Zudem gehen die meisten Verleger, Leser (und Anhänger der Piratenpartei) davon aus, dass der Autor überhaupt nur aus reinem Idealismus und Menschenfreundlichkeit schreibt und daher froh und dankbar sein sollte, wenn er seine Werke und schlauen Gedanken ohne freche Honorarforderungen verschenken kann. Eine Frechheit des Autors, dafür auch noch Geld zu verlangen!

„Was?“, werden alle anderen ausrufen, die mich nicht kennen und denen du, lieber Fan, fassungslos von meinem frühen Aufstehen erzählst: „Die überempfindliche Heulsuse Klammer jammert uns wegen seines traurigen Loses die Ohren voll, weil er tatsächlich ein paarmal in der Woche vor 06:00 Uhr aufstehen muss? Das hätte ich nie von ihm gedacht! Von dem lese ich keine Texte mehr, da muss ich mich nur aufregen.“

Halt,sage ich, ihr habt ja recht!

Eigentlich kann ich froh sein, wenn mich in meinem langweiligen Brotberuf überhaupt jemand dafür bezahlt, dass ich einige Stunden herumstehe, klug daher rede und durch Handauflegen Computer repariere. Da werde ich mein müdes Haupt auch einmal vom warmen Kissen und den Körper aus den Pfühlen erheben können, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Ja, ihr habt alle recht, all ihr Frühdienstler und Nachtwächter, ihr braven Bauern, Arbeiter und Angestellte, Beamte und Köche, die ihr niedergedrückt von der Woche Last wohlverdiente (und kostenfreie) Entspannung in meiner Literatur sucht. Ihr alle, die ihr jeden Tag und oft auch am Wochenende klaglos vor den Hühnern aufsteht, um im Schweiße eures Angesichts euren kärglichen Lebensunterhalt zu verdienen - ihr alle habt meinen Respekt. Ich klage mal wieder auf hohem Niveau; das kann ich wirklich gut. Selbstmitleid ist meine persönlichste Regung, das sollte inzwischen bekannt sein.

Aber ich bin eben auch Künstler und mir ist es deshalb einfach nicht in die Wiege gelegt, in die Gene geschrieben oder durch die Erziehung aufgeprägt worden, morgens vor der Frühmesse schon wach zu sein. Die Stunde des Dichters ist der späte Abend, es ist die Nacht. Sie allein hat Erbarmen mit ihm, hüllt ihn ein in einen wärmenden Mantel der Ruhe und der Besinnung. Daher richtet er auch seine Hymnen an den leuchtenden Sonnenuntergang, an die funkelnden Sterne am schwarzen Firmament, an die mürrischen Barkeeper hinter den Theken seiner Lieblingskneipen - und nicht an die stumpfe, allzu kalte Morgendämmerung, nicht an die öligen Regentropfen aus grauen Nebelwolken und die mürrischen Busfahrer hinter den Lenkrädern der Linie 601.

Zählen wir doch einmal: Wie viele Maler malten denn die Morgensonne? Was zählt ein Claude Monet gegen gefühlte tausend Abendstimmungen von Caspar David Friedrich? Wie viele Lyriker beschrieben rosa Wolkenfinger, die sich in den Morgenhimmel krallen? Und wie viele Lieder an die Nacht wurden dagegen gereimt? „Warte nur, balde ruhst du auch.“ Wie viele musikalische Morgenstimmungen gibt es? Ah, da meldet sich einer: „Der Zarathustra von Strauß und der Grieg'sche Peer Gynt“, höre ich. Brav, da hat aber einer seine Hausaufgaben gemacht.

Erstens: Diese zwei Beispiele stehen so einsam gegen all die Abend- und Gute-Nacht-Lieder, Serenaden und kleinen Nachtmusiken, dass sie wohl kaum ins Gewicht fallen und wahrscheinlich eh nur geträumte Phantasien des Komponisten sind, der sie spät am Abend zu Noten machte. Zweitens: Meine Argumentation ist zu gut, um sie mir von der Wahrheit kaputt machen zu lassen. Setzen!

Zusammengefasst: Ich bin einfach nicht dafür geboren, vor 08:00 Uhr aufzustehen! Ich möchte richtig verstanden werden. Ich bin kein Oblomov, ich verschlafe nicht den ganzen Vormittag. Ich kann sogar hervorragend vor meiner verdienten Mittagsruhe arbeiten - aber nicht, wenn ich mich zu früh in den grauen, im Winter schwarzen, Tag kämpfen muss. Dann kann ich nicht denken, kaum zwei zusammenhängende Sätze formulieren, jemandem zuhören oder konzentriert arbeiten, gar mit Menschen reden, ohne ihnen Beleidigungen oder Gegenstände ins Gesicht zu werfen. Gut, dass diesen Menschenkontakt bei meiner Arbeit niemand von mir verlangt, denn morgens herrscht bei mir Ausnahmezustand. Wenn ich mich nicht am Griff meiner Kaffeetasse festhalten kann, rutsche ich langsam vom Stuhl.

Gemach! Bevor alle Werktätigen mit Früh- und Nachtschichten von Neuem über mich herfallen – ich kann bereits den einen oder anderen bösen Kommentar auf der Zunge schmecken: Ich erwähnte bereits, dass ich auf höchstem Niveau jammere. Der Herr hat den Menschen und insbesondere Nikolaus M. Klammer nicht dazu geschaffen, um diese Uhrzeit aufzustehen. Schließlich geht auch die Sonne erst später auf. Vor sieben Uhr aufstehen: Das ist eine unmenschliche Tortour, ein Verbrechen an der Menschheit, das gesetzlich verboten gehört.

Denn mein gequälter Leib schleppt sich nach dem unbarmherzigen Weckerklingeln einem Zombie gleich ins Bad, während meine Seele noch im Bett liegt und von heiteren, leichten Dingen träumt. Erst, wenn mein seelenloser Körper sich vor dem Spiegel stehend oberflächlich wäscht und mechanisch die Zähne schrubbt, werde ich langsam wach und mein Geist kommt hinter mir her aus den warmen Pfühlen ins Bad getrottet. Dort finde ich mich und eine Laune. Selten ist es eine gute, denn der Verfall, der mir aus dem Spiegel mit von Zahnpasta verschmierten Lippen eine Grimasse zieht, schreitet hurtig voran und die Zahl der grauen Haare steigt täglich progressiv an. Selbst wenn ich mich noch für eine schnelle Dusche mit „revitalisierenden Algenextrakten“ und „Hair-Energizer“ (wird wahrscheinlich Här-Einischeißer ausgesprochen) entscheide, bringt das keine Jugendlichkeit zurück.

Auch der weitere Ablauf des Tagesbeginns folgt einer festen Zen-Regel: Ich tappe an den Briefkasten und nehme die Zeitung, trage sie in die Küche und schmeiße den Kaffeevollautomaten (siehe weiter unten) an. Dann schleppe ich mich zum Radio und öffne den Sender meines Vertrauens.

Da ich grundsätzlich - und am Morgen insbesondere - auf das waidwunde Gewinsel von Helene Fischer, des Grafen, von Xavier Naidoo et. al. und auf das Beste aus den 80ern und die Hits der 90er verzichten kann, ist die Frequenz auf den einzigen Rocksender eingestellt, der Bayern beschallt. Da die Songauswahl der Rockantenne eng begrenzt ist - wahrscheinlich können sie sich nicht so viele Lieder leisten -, singen meist Jon Bon Jovi oder Die toten Hosen, was ich morgens gerade noch hinnehmen kann. Ich packe also meinen Pott Kaffee, kühle ihn großzügig mit Milch, vergesse dann aber meist umzurühren und verbrenne mir den Mund (auch davon noch später). Mühsam versuche ich die Schlagzeilen der Zeitung zu verstehen. Mist, ich brauche jetzt wirklich bald eine Lesebrille. Die Laune bessert sich nicht. Da hilft mir auch das zum einhundertsten Mal gespielte Hotel California nicht.

Und dann wird in die letzten Takte des Liedes gequatscht und der Ärger geht los: Warum müssen Radiomoderatoren - insbesondere Morgenshow-Moderatoren - immer so hysterisch gute Laune haben? Da wird ein Sparwitz nach dem anderen gerissen und künstlich darüber gelacht. Und damit der trübe Morgenverstand des Hörers auch mitbekommt, dass das lustig sein sollte, wird das Ganze noch wie beim Mainzer Karneval mit einem Tröt-Geräusch oder einer Fanfare untermalt. Und so kichert man sich durch die Moderation und durch den Wetterbericht und wirft sich bei den Verkehrsmeldungen fast weg, unterbrochen von den immer gleichen Werbe-Jingles, in denen mir noch hysterischere, kurz vor der Einweisung in eine Anstalt stehende Menschen jeden Morgen aufs Neue versichern, wie lecker die Spätzle von Settele sind, wie günstig mich eine Autofinanzierung kommt und welche Nummer die Telefonauskunft hat - dazwischen singen mal wieder Boston „What a feeling“, obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, außer aufsteigendem Zorn noch überhaupt nichts fühle ...

Ist es denn so schwer zu begreifen, dass ich das am Morgen alles nicht brauche? Können denn die Moderatoren (Barny! Eisprinzessin! Ha, ha, ha ha, ha! Das Wetter, ha ha! Klingeling, wer ist denn da dran? Ha, ha, ha! Trööt!) nicht auf mich Rücksicht nehmen und wenigstens vor Acht Uhr nicht wie klinische Fälle in der manischen Phase plappern, sondern auch einfach mal so schlecht gelaunt sein wie ich? Ich habe mir sogar ein Internetradio mit 50.000 Sendern zugelegt. Dadurch wurde nichts besser: Jetzt kann ich aber die Morgenhysteriker in allen Sprachen der Welt empfangen - am schlimmsten sind die Japaner ...

Warum gibt es kein Morgenmuffelradio, in dem jemand mit übler Stimmung halb schlafwandlerisch ein paar Informationen ins Mikro murmelt und dann Leonard Cohen oder The Cure jammern lässt oder – noch besser - ohne Gequatsche die besten Morgenblues-Titel spielt? Das würde mir morgens wirklich auf die Beine helfen ...

Vielleicht sollte ich selbst solch eine Radiostation gründen: Morgenmuffel 92,4, das Programm für die NichtAusgeschlafenen, mit der Schlechte-Laune-Garantie für den ganzen Tag, Staumeldungen und den traurigsten Rockballaden - werbefrei und ohne Gewinnspiele.

„First we take your morning, than we take your day…“


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Noch einmal davon gekommen

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