Читать книгу Noch einmal davon gekommen - Nikolaus Klammer - Страница 13
ОглавлениеMEINE FEHLER
Weil wir schon bei meinen Missgeschicken sind, ein weiteres Beispiel für meine Unbelehrbarkeit: Mit der unausweichlichen Regelmäßigkeit des Dezember-Tauwetters stellt sich bei mir nach all der üppigen Feiertagsvöllerei zu Weihnachten spätestens am Nachmittag von Stephani der dringende Wunsch und feste Entschluss ein, nie mehr in meinem Leben etwas zu essen.
Ich beginne dann, meine Spirituosenvorräte nach den übers Jahr verschmähten Kräuterlikören zu durchforsten, die ganz hinten im Schrank verstauben. Leider hält diese Spontan-Magersucht nur bis zum Abend, an dem ich alle Jahre wieder einen Vernichtungsfeldzug gegen die übrig gebliebenen Plätzchen (auf schwäbisch „Loibla“ genannt), Schokokugeln, Weihnachtsmänner, Marzipankartoffeln und Lebkuchen führe, was mir – ich will es weder beschönigen noch näher ausführen – das eine oder andere Problem mit der Verdauung und jedes Mal eine mehr als unruhige Nacht beschert. Obwohl mir das vorher bewusst ist, tappe ich immer wieder in die Falle und leide bis Silvester wie ein Hund. Da bin ich dann wieder so weit hergestellt, dass ich das fette Käsefondue und den Sekt überlebe.
Wenn wir schon beim Essen sind: Ich weiß, dass Spinat heiß ist. Das Wasser in ihm speichert die Kochhitze und wenn das Gemüse auch noch gemeinsam mit Schafkäse in einem Filoteig im Ofen briet (Spanakopita, wir Gräkophilen nennen es auch gerne σπανακόπιτα), ist es noch heißer. Wie gesagt, mir ist diese Tatsache bekannt, da habe ich im Physikunterricht mal aufgepasst. Trotzdem verbrenne ich mir dabei grundsätzlich den Mund und immer frage ich mich, wie mir das erneut passieren konnte. Nebenbei: So heiß zu essen, wie es gekocht wurde, ist zwar äußerst schmerzhaft, eine verbrannte Zunge hat aber den Vorteil, dass der dazu genossene Retsina plötzlich nicht mehr nach Harz schmeckt und auch schlechter Ouzo eine milde Note bekommt.
Das Gleiche passiert mir auch mit Kaffee und anderen heißen Getränken. Ich will das nicht weiter ausführen, denn ich denke, die Richtung wird deutlich. Ich lerne nicht aus meinen Fehlern.{13} Ich weiß nicht, wie oft ich mich schon vergeblich an meinem E-Mail-Konto anzumelden versuchte, weil ich mich bei dem Passwort verschrieben hatte. Eigentlich passiert das jeden Tag mehrmals und häufig gelingt es mir erst auf den dritten oder vierten Versuch, mein Postfach mit der richtigen Buchstabenkombination zu öffnen (Sie ist übrigens so einfach, dass sich ein IT-Sicherheitsfachmann die Haare raufen würde).
Diese Unaufmerksamkeiten kosten mich schätzungsweise täglich 30 Sekunden, in denen ich mich vergeblich abmühe, ein Wort auf der Tastatur einzugeben. Da ich das E-Mail-Konto seit etwa fünfzehn Jahren nutze, habe ich statistisch gesehen wegen meiner ständigen Vertipper bereits zwei ganze Tage (ca. 47,3 Stunden) meines Lebens nur damit verschwendet, mich beim Anmelden zu verschreiben. Ich möchte diese Zeit dermaleinst auf meinen Aufenthalt im Fegefeuer angerechnet bekommen{14}.
Ähnlich geht es mir natürlich, wenn ich mich an meinem Blog „Aber ein Traum“ anmelden will, auch beim PIN meines Handys und dem der EC-Karte, die deswegen beide schon gesperrt wurden. Ich bin nicht so dement, dass ich die Zeichen vergessen würde - ich vertippe mich nur hartnäckig, immer und immer wieder.
Damit sind wir beim Kern des Problems:
Es ist vollkommene Blindheit für meine Fehler, die mich zwingt, sie immer wieder von neuem zu begehen. Jedes Weihnachten wieder überfresse ich mich, verbrenne ich mir morgens am Kaffee den Mund, verknöpfe ich mich am Hemd und versuche, im Supermarkt beim Ausgang reinzugehen. Der Beispiele sind Legion.
Schauen wir uns doch diesen Text an: Beim Abtippen und Überarbeiten für das Buch, dass Sie jetzt in Händen halten, habe ich sicherlich zwanzig Tipp- und auch ein paar Rechtschreibfehler übersehen, überflüssige Wörter und Wortwiederholungen stehen lassen und sie trotz eingeschalteter Autokorrektur des Schreibprogramms nicht gefunden. Ich bin selbstverständlich vollkommen überzeugt, diesmal den perfekten Text getippt zu haben. Also wird er so veröffentlicht. Den ersten Fehler werde ich direkt nach der Publizierung entdecken und ich muss den Artikel anschließend wieder und wieder überarbeiten, über manche Artikel gehe ich schon zum dreißigsten Mal drüber. Aber dann haben schon alle Interessierten den Text gelesen und sich über meine Rechtschreibschwächen lustig gemacht.
Es heißt, wenn man sich in einer Sache auskennt, mache man nicht weniger Fehler, sondern andere. Bei mir kommen zu den alten noch die neuen hinzu; die Fehlermenge insgesamt steigt. Psychologisch interessant: Die Fehler der anderen hingegen, die finde ich sofort. Ich habe noch nie einen Text oder ein Buch gelesen, in dem ich keine Syntax- oder Semantikaussetzer fand – sie springen mir förmlich ins Gesicht und verderben mir manchmal sogar die Lektüre. Meine eigenen Fehler jedoch, die verbergen sich mir jedoch vollkommen und wie Sisyphos schleppe ich sie jeden Tag den Berg empor, um sie am Abend wieder vor meiner Hütte zu finden.
Für das Wort „Sisyphos“ habe ich gerade drei Anläufe gebraucht, bis ich es richtig hatte. Ich habe es auch bei der Wiederholung im vorigen Satz nicht fehlerfrei geschrieben.
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VEGETARIER UND ANDERE BEVORMUNDUNGEN
Auf der Banderole des Glases mit eingelegten Peperoni, das ich eben erwarb, steht allen Ernstes: „Vorsicht! Produkt könnte aus naturgegebenen Gründen scharf sein!“, auf der Tiefkühlpizza: „Plastikfolie vor dem Backen entfernen“, auf dem Joghurt lese ich: „Könnte Spuren von Nüssen und Getreide enthalten“, auf der Limoflasche: „Vor dem Öffnen nicht schütteln“, auf Balkonblumen: „Nicht essbar“. Man teilt mir mit, dass der Konsum von 2 Kilo Pfefferminzbonbons abführend wirken kann und der Genuss von heißem Kaffee nicht gerade schlaffördernd ist und zu Verbrennungen führen kann (Ja, ja, ich weiß, das ist jetzt ein schlechtes Beispiel, aber ich meine ja nur.).
Herrschaften, für wie dämlich halten uns eigentlich die Lebensmittelhersteller oder die Politiker, die diese zwingen, solche Warnhinweise zu drucken? Nicht, dass ich dem Sozialdarwinismus zuneige: Aber ich finde, wer seine aufgewärmte Pizza mit Folie zu sich nimmt, seine Geranien als Salat anmacht und Tee nicht bei 100° C, sondern mit kaltem Wasser aufbrüht, ist selbst schuld an seinem Jammer.
Doch ich wollte etwas anderes erzählen: Im heißen Sommer des Jahres 1983 - dieser war übrigens ein „Jahrhundertsommer“ - entschied sich Herr Klammerle aus Gewissensgründen, nicht nur den Wehrdienst zu verweigern, was am Ende dahin führte, dass er den deutschen Staat verklagte, sondern auch, auf den Konsum von Fleisch zu verzichten und sich von nun an von Pizza Margarita (ohne Folie), schnöden Käsebroten und Haferflocken mit Milch zu ernähren. Zusätzlich ließ er sich einen Ohrring stechen, zog löchrige Jeans an, setzte eine kreisrunde Brille auf und ließ sich die Haare wachsen (obwohl, das hatte er auch schon vorher gemacht). Danach war er der Meinung, er habe sich jetzt genug von der Elterngeneration abgehoben, dabei speziell den Vater herausgefordert, der sich auch als strammer Weltkriegsteilnehmer und Schweinsbraten-Liebhaber postwendend von seinem Sohn lossagte, von dem der Vater mutmaßte, er wäre jetzt schwul geworden und würde als nächstes ins Kloster gehen. Wie einfach war es damals in der guten, alten Zeit noch, seinen alten Herrn zu schockieren, es genügte bereits eine zerrissene Jeans oder ein Loch im Ohr. Da müssen sich meine Söhne heute schon mehr anstrengen. Es gelingt eher mir, sie vor den Kopf zu stoßen, als umgekehrt.
Ich schweife mal wieder ab.
Ich bin also Vegetarier und vor dreißig Jahren war das noch etwas provozierend Außergewöhnliches, Sektiererhaftes, vor allem in bayerischer Provinz: In den gutbürgerlichen Gaststätten gab es nur ein Gericht ohne Fleisch – Kässpätzle – und manchmal schüttete man mir dort aus Mitleid fette Fleischsauce über die Nudeln oder servierte mir einen Krautsalat dazu, in dem nur ganz wenig Speck war; Tofu und Ähnliches konnte man nur im Reformhaus oder beim einzigen Biohändler der Stadt erwerben und sie hatten für einen armen Studenten unerschwingliche Preise.
Da hat sich in der Zwischenzeit doch einiges getan. Heute ist jeder Vegetarier oder findet es doch irgendwie toll, Brokkoli und Dinkelburger zu essen. Die Speisekarten sind vielfältiger geworden - nun ja, nicht im Allgäu, dort gibt es weiterhin nur Kässpatzen. Biosupermärkte findet man in jedem Gewerbegebiet und auch die anderen Lebensmittelhändler haben eine gewisse Auswahl an Fleischlosem zu bieten. In den meisten Kantinen findet sich zumindest am Freitag ein Gericht für den Gemüsefreund. Wer sich heute absetzen will, der sollte sich schon laktosefrei, vegan oder mit Rohkost ernähren, der Durchschnitts-„Lakto-Vegetabile“, der wie ich Eier, Milch, Käse oder gar mal eine Meeresfrucht genießt, wird abschätzig als angepasstes Weichei eingestuft{15}. Auch mein Ohrring kann gegen die Tattoos, Nasen-, Augenbrauen- und Intimpiercings, Snakebites und „Fleshtunnels“ genannte Ohrläppchenschläuche, in denen ein Dreijähriger schaukeln könnte, schon längst nicht mehr anstinken und meine Brille ist so etwas von voll „Siebziger“. Kann es sein, dass es die Gelassenheit der Elterngeneration ist, die die Jugend zu immer größerem Blödsinn verleitet? Steht nicht schon in der Bibel: „Die Väter genießen die Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“
Ich schweife wieder ab.
Sogar die hohe Politik hat im heißen Sommer des Jahres 2013 die Zeichen der Zeit erkannt und es wurde von den Grünen der „Veggie-Day“ (Nein, ich rege mich jetzt nicht über das grunddämliche Wort „Veggie“, Wädschie ausgesprochen, auf. Obwohl …) gefordert, also ein Tag in der Woche, an dem es in den Kantinen fleischlose Kost gibt. Ob die Forderung Sinn macht – schließlich gibt es das bereits in den meisten Kantinen dieses Landes – sei einmal dahin gestellt; der politische Gegner jedoch war froh, dass der im Sommerloch verschollene und von der Kanzlerin vollkommen ignorierte und daher auch lahmste Wahlkampf aller Zeiten nun noch ein Thema bekam, bei dem jeder auch ohne Fachwissen mitreden und über das man sich herrlich aufregen konnte. Dies sei eine Bevormundung des mündigen Bürgers, war natürlich sogleich vom ewigen bayerischen Ministerpräsidenten zu hören. Und die Liberalen teilten mit, es widerspräche ihren Prinzipien, jemandem etwas zu verbieten. Der Staat dürfe in die persönlichen Entscheidungen der Leute nicht eingreifen. Geht es noch verlogener und heuchlerischer?
Und da schließt sich der Kreis. Genau das macht Politik. Jeden Tag, immer: Sie bevormundet mich.
Ich warte auf den Tag, an dem ich lese:
„Vorsicht. Diese Schokolade ist aus naturgegebenen Gründen süß. Sie könnte Spuren von Nüssen, Meeresfrüchten und Sellerie enthalten. In erwärmtem Zustand kann sie ihre Finger verschmutzen und Flecken auf dem Sofa hinterlassen. Übermäßiger Genuss könnte Sie dick und krank machen, Pickel und Mitesser verursachen, einsam und abhängig machen und zu Verstopfung führen. Vor dem Essen ist die Verpackung an den Laschen zu öffnen und die Alufolie zu entfernen (siehe Anleitung. Abb. A und B). Brechen Sie die Schokolade nur an den vorgesehenen Vertiefungen zwischen den Riegeln auseinander (siehe Anleitung. Abb. C) und führen Sie sie vorsichtig zum Mund. Vermeiden Sie eine gleichzeitige Aufnahme von Flüssigkeiten und denken sie nach dem verantwortungsvollen Genuss (siehe Dosierungsanleitung) an die anschließende gründliche Zahnreinigung, auch der Zahnzwischenräume. Führen sie die Reste nach Material getrennt dem entsprechend gekennzeichneten Müllbehälter zu. Bewahren Sie Schokoladenreste an einem dunklen und kindersicheren Ort auf und wenden Sie sich bei Fragen an ihren Arzt oder Apotheker.“
Das wird der Tag sein, an dem ich wieder Fleisch essen und mit dem Rauchen beginnen werde - aus Prinzip.
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