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1.

Mrs. Wenda Booner war genervt.

Mr. Booner hatte darauf bestanden, dass sie sich diese unauffällige, nichtssagende, langweilige, kleine Kirche ansahen, in die sich kaum ein Tourist verirrte (was Mrs. Booners Überzeugung, dass dieses Bauwerk völlig uninteressant sein musste, nur noch bestätigte) und nun stapfte sie ziellos durch das Kirchenschiff und sehnte sich nach der Shoppingmeile, wo sie Gucci und Armani durch die Schaufenster bestaunen konnte. Kaufen konnte sie dort natürlich nichts. Wie es sich, ihrer Meinung nach, für eine vernünftige, amerikanische Ehefrau ziemte, kümmerte sie sich daheim um den Haushalt und sorgte dafür, dass Mr. Booner etwas Vernünftiges zu essen bekam, wenn er abends von seinem Job im Gebrauchtwagenhandel nach Hause kam. Das schränkte zwar die finanziellen Mittel etwas ein, aber für diese Italienreise hatte es ja schließlich auch gereicht.

»Wenn Sie nun bitte den Blick nach rechts lenken würden, wo Sie die wunderschöne Apsis dieser Kirche erblicken können. Die Mosaike aus dem zwölften Jahrhundert zeigen den Triumph des Kreuzes, wobei die zwölf abgebildeten Schafe als Symbole für die zwölf Apostel zu verstehen sind.«

Ihr Ehemann hatte sich einer kleinen Gruppe angeschlossen, die aufmerksam einer jungen, hübschen Italienerin lauschte, die in ihrem gebrochenen aber charmanten Englisch versuchte, den Rom-Touristen etwas Kultur zu vermitteln und dabei ausladende Gesten machte.

Wenda Booner hatte sich schnell gelangweilt und der starke Akzent des Mädchens ging ihr auf die Nerven. Englisch war doch nun nicht so schwierig - da konnte man es doch auch bitte vernünftig lernen.

Und was sollte dieser Quatsch mit den Schafen? Wenda war sich sicher, dass die junge Frau sich irrte. Die Apostel mit schmutzigen Wiederkäuern zu vergleichen, kam doch der Gotteslästerung gewiss ziemlich nah.

Wenda blieb vor einer schmalen Treppe stehen, neben der ein Schild angebracht war.

MITHRÄUM

Darunter zeigte ein Pfeil die Treppe hinab. Sie schaute sich um und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass die Touristengruppe sich noch keinen Zentimeter bewegt hatte und ihr Mann nach wie vor gebannt an den Lippen (und dem Ausschnitt) der jungen Touristenführerin hing. Mrs. Booner hatte ihre besten Jahre hinter sich und hätte in dem leichten Sommerkleid dieses Mädchens ausgesehen wie eine Presswurst, also konnte man Mr. Booner keinen Vorwurf aus seiner Faszination machen. Aber niemand zwang sie dazu, sich dieses Spektakel auch noch anzuschauen.

Sie ergriff mit ihren kurzen, dicken Fingern das dürre Geländer und machte sich an den Abstieg. Die Steinstufen waren uralt und uneben, aber sie erreichte unbeschadet den Fuß der Treppe und sah sich um. Vor ihr führte ein kurzer Tunnel, an dessen Wänden elektrische Leuchten durch lange Kabel miteinander verbunden waren, in ein Gewölbe, das nicht mehr war, als ein schmaler, muffiger Keller. In der Mitte des Raums ragte eine Stele auf, die Wendas Blick auf sich zog.Sie ging darauf zu und betrachtete gerade das gemeißelte Bild eines jungen Mannes, der einen Stier bezwang, als hinter ihr Schritte erklangen und zwei Männer sich zu ihr gesellten.

Der kleinere der beiden hielt einen Reiseführer in der Hand und lächelte ihr freundlich zu. Der Größere schien sie nicht wahrzunehmen und sah sich stattdessen mit offenkundigem Interesse die Wände und Decke des Gewölbes an. Der Kleinere stellte sich neben sie und betrachtete das antike Kunstwerk. Er hatte in etwa Wendas Körpergröße, die mit ihren 165 Zentimetern gewiss keine Modellmaße besaß. Über seinen Gürtel wölbte sich ein Bauchansatz und sein Gesicht war rundlich, was durch die ebenfalls runden Brillengläser noch betont wurde. Das Haar trug er raspelkurz und seine Geheimratsecken waren bereits unaufhaltsam auf dem Vormarsch, obwohl der Mann nicht älter als 35 sein konnte. Attraktiv war er gewiss nicht, aber sein offener, neugieriger Blick und der lässige Gang, machten ihn auf gewisse Weise interessant. Graue Augen blitzten Wenda vergnügt an und als der Mann sprach, konnte man eine große Lücke in der oberen Zahnreihe ausmachen. Irgendwie machte ihn das noch charmanter.

»Wunderschön, nicht wahr? Die Stele des Mithras. Einfach faszinierend«, sagte er an Wenda gewandt. Solch einen britischen Akzent kannte sie bislang nur aus dem Fernsehen. In Georgia gab es keine Engländer - zumindest keine, die mit einer pummeligen Hausfrau in roten Shorts Tee getrunken und Shortbread geknabbert hätten, und so war Wenda hoffnungslos unvorbereitet auf die anrollende Charmeoffensive.

»Sie sind Amerikanerin?«

»Ähm ... ja. Aus Augusta, Georgia«, antwortete sie in breitem Südstaatenakzent. »Woher wissen sie das?«

»Ich habe sie oben mit diesem älteren Herrn sprechen hören. Sie reisen mit ihrem Vater?«

Einen Moment lang schaute Wenda noch verdutzter drein als sonst. Dann fiel der Groschen. Sie kicherte.

»Sie meinen Mr. Booner? Ach, du meine Güte, das ist mein Ehemann. Er ist erst achtundvierzig.«

Der Engländer blickte erstaunt drein.

»Da beneide ich Sie wirklich! Das muss Liebe sein, die über solch einen Altersunterschied hinweg besteht.«

Wenda errötete heftig.

»Aber ich bin doch nur acht Monate jünger als mein Mann. Wir waren in der Highschool im selben Jahrgang.«

Der Engländer betrachtete sie mit einem verschmitzten Lächeln, das Wenda leicht anrüchig erschien. Nicht, dass ihr das nicht geschmeichelt hätte.

»Also, ich möchte einer verheirateten Frau wie Ihnen keineswegs zu nahe treten, aber Sie erinnern mich an Diana, die Göttin der Jagd. Diese feinen Gesichtszüge, die weiße Haut ... Wissen sie eigentlich, wer dieser Bursche hier ist?«

Wendas verzückter Blick richtete sich nur kurz auf das marmorne Bild, bevor sie den Kopf schüttelte und wieder die grauen Augen vor sich fixierte.

Die Göttin Diana ... du meine Güte ...

»Bei diesem recht spärlich bekleideten Gesellen handelt es sich um Mithras, einen alten römischen Gott, der seinen Ursprung im noch älteren, altiranischen Glauben hat. Hier erlegt er gerade den Stier - übrigens auch in vielen anderen Kulturen ein beliebtes Opfertier - um die Welt zu erneuern. Aus dem Blut und dem Sperma des Stiers regeneriert sich alles Leben ...«

Wendas Gesicht wurde heiß. Der Brite hatte das S-Wort gesagt! Und jetzt sah er sie mit diesem lüsternen Blick an. Wenda war in ihrem bisherigen Leben nicht mit vielen lüsternen Blicken konfrontiert worden, weshalb sie dieser Augenblick wohl ganz besonders verstörte. Nicht auf unangenehme Art und Weise musste sie sich eingestehen.

»WENDA! WENDAAA!«, hallte es durch das Gewölbe. Nur einer konnte die Rücksichtslosigkeit besitzen, im Hause Gottes so zu brüllen. Wenda verdrehte die Augen.

»Das ist Mr. Booner. Es tut mir leid, aber ich muss gehen.«

Bevor er die ganze verdammte Kirche zusammen brüllt, dachte sie im Stillen.

»Das ist wirklich sehr schade«, säuselte der Engländer und sah ihr mit einem Blick hinterher, den Wenda nur als »schmachtend« interpretieren konnte. Ein seliges Lächeln zog sich über ihr Gesicht, als sie langsam die Stufen erklomm. Ein netter junger Mann. Wirklich sehr nett.

»Die Göttin Diana?! Was genau stimmt nicht mit dir?« Silas Bancroft verzog angewiedert das Gesicht, als er versuchte, die dicke, schlecht gekleidete Touristin mit einer Abbildung der römischen Göttin der Jagd zu vergleichen. Es war in etwa so, als versuche man, aus einem kurzbeinigen Schweinchen ein Topmodel zu machen. Sein Gehirn wehrte sich vehement gegen das Bild der pummeligen Amerikanerin, die auf einem Eisbärenfell für das Cover der Vogue posierte, aber es war, als würde man versuchen, nicht an rosa Elefanten zu denken.

»Hast du gesehen, wie rot die geworden ist, als ich das Bullensperma erwähnte? Herrlich! Ich hätte ewig so weitermachen können.« Napier grinste frech vor sich hin, während er im Reiseführer den Grundriss der Kirche und der darunter befindlichen Gewölbe studierte.

»Alles klar. Da hinten. Das ist der Altar. De Santi hat gesagt, dort sollen wir zuerst nachsehen. Andere Möglichkeiten gibt es ja auch kaum«, sagte Napier und stopfte den Reiseführer unliebsam in die hintere Tasche seiner Jeans.

»Silas, den optischen Scanner bitte.« Napier streckte die Hand aus, in der kurz darauf mit lautem Klatschen ein handflächengroßes, schwarzes Rechteck landete. Sein Daumen betätigte den Schieber und ein Glasstreifen schob sich an einem Ende heraus.

»Es ist eine Lupe, Napier. Wir sind hier nicht auf der Enterprise«, kommentierte Silas trocken und ging mit langen Schritten auf die hintere Wand der Kammer zu.

Silas Bancroft kannte Napier seit fünfundzwanzig Jahren und schon auf dem Internat waren ihm seine Macken und Albernheiten auf die Nerven gegangen. Allerdings war er der Einzige gewesen, der Silas nicht mit Hohn oder Verachtung entgegentrat. Ganz im Gegensatz zum Rest seiner Klasse. Zu Prügeleien kam es nie. Das hätte die teuren Kaschmirpullover oder die gebügelten Seitenscheitel beschädigen können. Reiche Jungs, die einen Grund haben, auf jemanden wegen seiner Herkunft herabzusehen, lassen sich viel subtilere Dinge einfallen. Tote Mäuse unter seinem Kissen waren schnell zur Gewohnheit geworden (einmal war es sogar ein Eichhörnchen. Gott allein wusste, wo sie das aufgetrieben hatten) und Silas musste seine Bettwäsche dreimal öfter wechseln, als die anderen Jungen in seinem Schlafsaal.

Beliebt war auch das Spiel, ihn beim Frühstück abzulenken, während jemand den Salzstreuer über seinem Teller leerte. Mehr als einmal ging er mit leerem Magen zum Unterricht.

Napier war der Einzige, den die Geschichte der Familie Bancroft weder störte, noch sonderlich interessierte. Vielleicht lag es daran, dass er eines dieser Kinder war, die weder zu den Coolen gehörten, noch interessant genug zum Ärgern waren. Napier war der Klassenclown, der alles veralbern und, trotz seiner kurzen Beine, schnell genug rennen konnte, um keins auf die Nase zu bekommen. Er hatte es sich schnell zur Aufgabe gemacht, an dem großen, schlaksigen Jungen mit dem kalten Blick zu kleben, wie eine Klette. Den Grund dafür kannte er wohl nur selbst.

»Ich habe keine Kameras entdeckt. Wir können anfangen«, sagte Silas mit einem letzten prüfenden Blick an die Decke. Napier kniete vor dem Altar nieder und begann die Oberfläche mit Lupe und Fingerspitzen zu untersuchen, während Silas eine Taschenlampe hervorzog, um die Seiten abzutasten. In den nächsten zehn Minuten störte sie niemand. Es war August, die Römer waren in Scharen ans Meer gefahren und da somit viele Läden geschlossen waren, verirrten sich bei der brütenden Hitze kaum Touristen in das Stadtinnere.

Geduldig und immer mit einem Ohr auf Schritte lauschend, prüften sie jeden Zentimeter des Steins, bis Silas murmelte: »Hier könnte etwas sein. Bin mir nicht sicher. Ist schlecht zu erkennen.«

Napier kam rüber und ging in die Hocke. Sein Gesicht näherte sich der Oberfläche, bis seine Nasenspitze fast den Stein berührte, der von Silas beleuchtet wurde. Ein feiner Riss, feiner als ein Haar, war gerade eben zu erkennen, wenn man das Licht im richtigen Winkel hielt.

Napier staunte: »Das ist ein Meisterwerk. So exakt ... es sieht fast so aus, als hätten die damals mit Lasern gearbeitet.« Mit den Fingerspitzen folgte er der Linie und schon bald erkannten sie das Viereck, dass von Unbekannten in den Altar eingelassen worden war. Mit seinem Taschenmesser versuchte Napier, vorsichtig an einer Stelle den Riss zu erweitern, scheiterte jedoch.

»Es ist fast so, als sei das Gestein verschmolzen. Wir müssen tief in die Trickkiste greifen, um das aufzukriegen. Aber bis heute Nacht wird mir was einfallen.«

»De Santi sagte ausdrücklich, der Altar dürfe nicht beschädigt werden und niemand dürfe merken, dass etwas fehlt, also halte dich mit Sprengsätzen, Schlaghammer und Co. etwas zurück, ja?«

»Ich hatte sowieso an etwas anderes gedacht. Ich falle schließlich nicht immer gleich mit der Tür ins Haus«, erwiderte Napier schmollend. Silas schien immer noch sauer zu sein, weil Napier bei ihrem letzten Auftrag etwas zu großzügig mit der Menge an Plastiksprengstoff umgegangen war, was dazu geführt hatte, dass ein ganzes Pariser Stadtviertel in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden war und Silas nur knapp entkommen konnte. Er hatte es um Haaresbreite zurück zum Van geschafft und die beiden hatten sich ohne die Beute aus dem Staub gemacht. Das machte ihren damaligen Auftraggeber zwar nicht besonders glücklich, aber das war nicht weiter schlimm. Drei Tage später wurde dieser vor einer seiner Villen wegen schwerer Steuerhinterziehung festgenommen. Da waren zwei kleine Diebe, die einen Auftrag vermasselt hatten, seine geringste Sorge.

Napier schoss schnell noch ein paar Fotos vom Gewölbe, bevor sie sich wieder zur Treppe begaben. Ihm blieben noch sechs Stunden, um sich etwas Brauchbares einfallen zu lassen, das seinen besten Freund, wenn möglich, nicht in Lebensgefahr brachte.

Samruk - Alte Schwüre

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