Читать книгу Der letzte Schluck Corona - Nina Schindler - Страница 12
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ch bin im Ruhestand. Ich habe ein kleines Haus draußen am Stadtrand, einen schönen großen Garten. Eigentlich hatte ich mir immer vorgestellt, zur Abrundung unter den Bäumen am Zaun zum Nachbargrundstück eine Skulptur aufzustellen. Ein Einhorn zum Beispiel. Als Gegenstück sozusagen zu dem hübschen Monument meiner Nachbarin. Die Witwe hat ihrem verstorbenen Mann ein lebensgroßes Denkmal gesetzt. Er ist verschollen, der große Geografie-Professor. Von einer seiner Reisen ins Innere Afrikas nicht zurückgekehrt. Im Tanganjikasee ertrunken, so sagt man. Schließlich blieb seiner Gemahlin nichts anderes übrig, als ihn für tot erklären zu lassen.
Das Einhorn, von dem ich träume, habe ich bis jetzt nicht bekommen. Das einzige Stück Kunst, was ich stattdessen gekriegt habe, ist die Nase von General Paul Emil von Lettow-Vorbeck. Der Erwerb war nicht ganz legal. Die Nase fehlt jetzt auf dem Denkmal für ›Unsere Kolonien‹. Nun liegt dieses Organ des Weltkriegs-Helden vor mir auf dem Küchentisch. Ich öffne eine Flasche Windhoek Lager und proste ihm zu.
»Völkermörder«, sage ich.
Der General antwortet nicht. Wahrscheinlich spricht er nicht durch die Nase. Oder er schmollt, weil es das falsche Bier ist. Windhoek liegt in Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Dort hat er keine Völker ermordet. Und die Bundesrepublik hat sich inzwischen entschuldigt für alles, was wir dort früher einmal angerichtet haben. Dort ist die Welt jetzt fast wieder in Ordnung. Namibia hat den fünfthöchsten Bierkonsum pro Kopf der Bevölkerung, und das Bier wird noch immer nach dem deutschen Reinheitsgebot von 1516 gebraut.
Es läutet an der Haustür. Ich lege schnell die Nase in den Kühlschrank und öffne. Draußen steht meine Nachbarin. Sie heißt Stella. Aber im Gegensatz zu Stella Artois gehört sie zum Glück nicht dem US-Brauereigiganten Anheuser-Busch, sondern sie gehört niemandem. Sie ist freie Künstlerin. Bildhauerin. Sehr erfolgreich übrigens. Und sehr frei, seit sie Witwe ist. Sie sieht bezaubernd aus. Schwarz steht ihr.
»Komm doch herein«, sage ich.
Eigentlich ist sie nur gekommen, um zu fragen, ob ich ihr etwas Salz geben kann. Die Läden haben schon zu. Aber jetzt sitzen wir zusammen im Wohnzimmer. Sie erzählt vom tragischen Tod ihres Mannes in Afrika.
»Er hat doch gewusst, dass er sich nicht in tiefe Gewässer begeben soll«, sagt Stella.
»Das sieht man nicht immer. Manche Seen sind sehr flach«, sage ich. »Das Steinhuder Meer zum Beispiel. Vielleicht hat er nicht gewusst …«
Sie schüttelt den Kopf. »Es war ein Schiffsunglück. Und er konnte eben nicht schwimmen. Und der Tanganjikasee ist nicht flach. Der ist 1.470 m tief.«
»Schlecht für Nichtschwimmer«, sage ich. War das zu respektlos? Nein, wahrscheinlich nicht. Stella lächelt.
Der See ist nicht nur sehr tief, sondern auch sehr groß. 673 km lang. Hier hatte General Lettow-Vorbeck in Deutsch-Ostafrika seinen Krieg angefangen. »Weißt du eigentlich, dass der Tanganjikasee bis zum Ersten Weltkrieg zur Hälfte zu Deutsch-Ostafrika gehört hat?«, frage ich.
»Ach, tatsächlich?«
»Und in Deutsch-Ostafrika begann der Erste Weltkrieg mit einer Seeschlacht auf dem Tanganjikasee. Am 23. August 1914 war das.
An dem Tag hatte der deutsche Dampfer Hedwig von Wissmann nach längerer Suche das größte belgische Schiff, den Dampfer Alexandre Delcommune, gefunden und durch Beschuss schwer beschädigt. Die Hedwig von Wissmann hatte eine kleine Kanone, die Alexandre Delcommune nicht.«
»Verrückt!«, sagt Stella.
Ja, da sind wir einer Meinung. Aber von der Nase in meinem Kühlschrank erzähle ich ihr nichts.
Auf der Kongo-Konferenz 1884 war vereinbart worden, dass die Kolonien im Kriegsfall neutral bleiben sollten. Der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika hat sich auch daran gehalten. Nur Paul von Lettow-Vorbeck hat sich nicht daran gehalten. Er hat nicht nur den kleinen belgischen Dampfer, sondern auch die Engländer in Britisch-Ostafrika angegriffen und damit einen Krieg ausgelöst, bei dem am Ende ein paar hunderttausend Afrikaner ums Leben gekommen sind. Ein paar hundert Weiße auch.
Als Stella gegangen ist, stelle ich den General zur Rede. Ich streite mit ihm. »Weißt du was?«, sage ich. »Man hätte dir mehr abschlagen sollen als nur die Nase. Und zwar rechtzeitig. Jetzt ist es längst zu spät.«
Dabei habe ich ihm die Nase nicht einmal selbst abgeschlagen. Ich habe sie für zwei Kisten Bier bekommen. Eigentlich wollten die Studenten fünf Kisten dafür haben; ich konnte sie auf zwei Kisten Astra herunterhandeln.
Der General wirkt wieder einmal unbeirrbar. Ich erkläre ihm, dass er ein Nichts sei. Abgewrackt, von seinen Freunden und Anhängern vergessen. Nicht einmal mehr als Denkmal geduldet. Er gibt sich unbeugsam. Unbelehrbar. Da beschließe ich, dass seine Nase vom Kühlschrank in das Eisfach umziehen muss.
»Sorry«, sage ich, »aber das muss sein.«
Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht zu viel allein bin. Manchmal frage ich mich auch, ob ich vielleicht zu viel trinke. Aber das stimmt nicht. Es ist ja nur Bier, was ich trinke. Da kann nicht viel passieren.
Heute habe ich allerdings ganz gegen meine Gewohnheit doch einen Schluck zu viel getrunken. In meinem Stammlokal war das. Und da muss ich im Überschwang meines Frohsinns doch glatt an meiner Einfahrt vorbeigefahren sein. Jedenfalls bin ich im Garten meiner Nachbarin gelandet. Aber es war ja dunkel, und so habe ich es nicht gleich bemerkt. Bekannte Strecken fährt man ja nahezu ohne nachzudenken. Nur dass da, wo es bei mir geradeaus geht, die Auffahrt bei Stella eine leichte Rechtskurve macht. Und wenn man stattdessen geradeaus fährt …
Nun ja, was soll ich darum herumreden. Wenn man geradeaus fährt, dann steht da dieses Denkmal für den verschollenen Geografen. Ich hab noch gebremst, aber das war wohl zu spät. Jedenfalls bin ich voll gegen das Denkmal gekracht, und die Steinsplitter sind durch die Gegend geflogen. Ich hab mich instinktiv geduckt und mir ist gar nichts passiert. Selbst die Frontscheibe ist heil geblieben. Und da habe ich gesehen: Das Denkmal war ist nicht aus Marmor, wie ich gedacht hatte, sondern lediglich aus Gips, zumindest die äußere Schicht. Und darunter befand sich der Körper des verschollenen Forschungsreisenden, der jetzt, wo er seiner stützenden Hülle beraubt war, schlaff in sich zusammensackte.
»Oh!«, sagt meine Nachbarin. Sie hat den Krach gehört und ist nun herbeigeeilt.
»Das tut mir leid«, sage ich. »Das ist natürlich alles meine Schuld. Ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen.«
Sie lacht. »Du bist betrunken!«, sagt sie.
»Nein, nicht wirklich. Das ist nur Bier. Drei Flaschen Köpi und drei Flaschen Flens. Oder vier. Aber man soll die Sachen natürlich nicht durcheinander trinken. Das war mein Fehler. Ich habe gewusst, dass man das nicht soll. – Und was machen wir jetzt?«
»Auffegen«, schlägt sie vor.
»Und mit ihm?« Ich deute auf den Toten. »Er stinkt«, füge ich hinzu.
»Er stinkt mir schon lang«, bestätigt Stella. Und dann erfahre ich, was für ein Schwein dieser Weltreisende gewesen ist.
»Ich kann dir helfen«, sage ich. »Ich weiß, wie wir die Leiche loswerden.«
»Wie denn?«
»Wir zerstückeln sie und entsorgen sie über die Restmülltonnen. Die sind ja bei den meisten Leuten nie ganz voll. Für einen Arm oder ein Bein ist immer noch Platz.« Die Müllabfuhr kommt nämlich am Freitag immer ganz früh. Man muss die Tonnen schon am Vorabend rausstellen, sonst werden sie gar nicht mitgenommen. »Und heute ist Donnerstag.«
Um es kurz zu machen: Ich habe meine Motorsäge geholt, und dann haben wir den Toten zerlegt und die einzelnen Stücke zusammen mit den Gipsbrocken auf die Tonnen in unserer Siedlung verteilt. Eine gute Stunde später stehen wir wieder in Stellas Einfahrt.
»Optisch ist da jetzt eine Lücke entstanden«, sage ich. »Da muss wieder irgendetwas hin. Eine andere Skulptur.«
»An was denkst du?«
»Ein Einhorn«, schlage ich vor.
Sie lacht, dann sagt sie: »Ja, ein Einhorn. Das wäre eine Möglichkeit. Oder wir stellen meinen ersten Mann dort hin.«
Ich stutze: »Deinen ersten Mann?«
»Ja, der steht doch zurzeit noch in der Kunsthalle in Hamburg. Der ›Denker ohne Feigenblatt‹. Den kennst du doch, oder?«
Ja, natürlich kenne ich den. Stella hat die Bronzeskulptur so gestaltet, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, dass der Denker nur an das denkt, was in dieser Plastik ohnehin zu groß ausgefallen ist, so dass man es mit einem Feigenblatt niemals verdecken könnte.
»Die Ausstellung schließt nächsten Monat«, sagte Stella. »Und dann kommt Knut wieder hierher zurück.«
»Und das war also dein erster Mann?« Ich hatte gar nicht gewusst, dass Stella früher schon einmal verheiratet gewesen war. »Was ist aus dem geworden?«
»Tot«, sagt sie.
Ich setze das Bierglas ab.
»Ja, der ist leider verstorben. Männer sind so empfindlich.«
»Wie – wie ist das passiert?«, frage ich.
»Erfroren. Im Winter, beim Schnee fegen. Ich hatte ihm gesagt, er sollte auf keinen Fall schon vor dem Frühstück Schnee fegen. Das ist ganz schlecht für den Kreislauf. Aber er hat ja nicht auf mich gehört. Ich habe ihn erst gar nicht vermisst, wir hatten ja getrennte Schlafzimmer. Aber als er dann gegen halb elf noch immer nicht zum Frühstück erschienen ist, da habe ich bei ihm oben nachgesehen. Da war er nicht. Er lag draußen auf dem Bürgersteig.«
»Wie furchtbar!« Manche Leute ziehen das Unglück einfach magisch an.
Stella nickt. »Ich habe ihn dann schnell reingeholt. Da draußen konnte er ja nicht einfach liegen bleiben.«
»Warum nicht? Es war doch ein Unfall.«
»Ja, natürlich. Aber er ist auf den Hinterkopf gefallen, und wer nicht gewusst hat, dass das ein Unfall gewesen ist, der hätte vielleicht denken können, dass jemand ihn erschlagen hat. Ich zum Beispiel. Da habe ich ihn lieber in die Plastik eingebaut. Zur Sicherheit, verstehst du?«
Ich nicke.
»Wir könnten seine Bronze hier an der Auffahrt aufbauen. Als Ersatz für das alte Gipsmonument. Das wäre sozusagen die Minimallösung. Aber dabei müssen wir es nicht belassen. Wenn wir eine etwas größere Lösung anstreben, dann käme vielleicht dein Einhorn ins Spiel …«
»Das wäre großartig«, sagte ich.
»Großartig schon. Aber nicht ideal.«
»Sondern?«
Stella schloss die Augen. Sie schien zu überlegen. »Ideal ist es«, sagte sie schließlich, »wenn wir überhaupt kein Denkmal aufstellen. Wenn wir stattdessen einfach den Zaun wegreißen und die beiden Grundstücke vereinen. Dann brauchen wir nur noch eine einzige Auffahrt, und der Hang mit den beiden Häusern im Hintergrund würde zu einem großartigen Gesamtkunstwerk verschmelzen …«
»Unsere beiden Grundstücke?« Ich begreife nicht, was Stella meint, aber sie setzt mich sofort ins Bild.
»Ja, die beiden Grundstücke.« Sie nickt eifrig. »Und unsere beiden Leben. Du bist ledig und ich bin Witwe. Du bist zwar schon 67, aber doch ein attraktiver Mann mit einer praktischen Begabung und mit ungewöhnlichen Ideen. Und das ist es, was eine Künstlerin braucht. Keinen reichen Langweiler, sondern eine echte Muse, und heute ist mir bewusst geworden, was alles in dir steckt. Wir sollten heiraten.«
»Meinst du wirklich?« Das kommt für mich jetzt etwas überraschend. Sie ist schließlich an die 30 Jahre jünger als ich.
»Ja, das meine ich.«
Stella hat noch eine angefangene Kiste Corona in der Küche. Die werden wir jetzt nach getaner Arbeit gemeinsam leeren. Sie sagt: »Kein anderes Bier sorgt zum Feierabend für dieses relaxte Gefühl von Strand und Sonne …«
Ja, das stimmt. Wenn man genug davon trinkt. Aber das Bier ist zu warm. »Hast du Eiswürfel?«, frage ich.
Nein, hat sie nicht. Ich laufe schnell rüber und hole welche aus meinem Gefrierfach. Eigentlich tut man natürlich keine Eiswürfel ins Bier, aber dieser Sommer ist wirklich unnatürlich heiß, und was will man machen, wenn das Corona warm ist? Warm schmeckt es einfach nicht.
Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und plaudern. Ich erzähle ihr meine Lebensgeschichte. Das dauert nicht lange. Ich habe nicht allzu viel erlebt. Ich bin pensionierter Beamter, mein Vater war bei der Bundeswehr; ich habe den Kriegsdienst verweigert. Ich wüsste nicht, was ich sonst noch erzählen sollte, aber ich brauche mir keine große Mühe zu geben. Stella erzählt und erzählt.
»Oh!«, sagt sie plötzlich und hält inne. Sie hat den Eiswürfel mit Lettow-Vorbecks Nase erwischt.
»Entschuldigung«, sage ich. »Das ist nur die Nase von General Lettow-Vorbeck …« Ich weiß nicht weiter.
Sie starrt mich an. »Na, dann Prost!«, sagt sie »Und ›Heia Safari!‹« Kein Zweifel, sie weiß jedenfalls, wer der General gewesen ist. »Du bist der ungewöhnlichste Beamte, dem ich je begegnet bin«, fügt sie hinzu.
»Das mag wohl sein«, sage ich. Dabei weiß sie noch gar nicht, dass ich bei der Kriminalpolizei gearbeitet habe. Jetzt erzähle ich es ihr.
»Es stört mich nicht«, sagt sie ohne zu zögern. »Aber meine Vergangenheit …«
»Die stört mich auch nicht.« Von mir aus können wir heiraten. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht in einem ihrer Kunstwerke lande.