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»Jeder möchte in seinem Leben einen Mord begehen,

sozusagen, um etwas von der Last abzuwälzen, von all diesen Morden in seinem Kopf, die er nie zu begehen wagte.« - Edgar Allan Poe

I

ch gucke mir morgens in der Zeitung immer als erstes die Todesanzeigen an. Und wenn ich nicht dabei bin, dann stehe ich auf.« Mit solchen und ähnlichen Sprüchen erfreute Harm Schnieders gern seine Mitmenschen. Ihm ging’s halt am besten, wenn’s ihm schlecht ging, denn dann – davon war er überzeugt – hatte er oft die originellsten Einfälle.

Düstere Visionen allerdings. Makabre Vorstellungen. Schwarze Rachegedanken, gegen wen oder was auch immer. Passend zur tristen Eintönigkeit seiner emsländischen Heimat, wo nicht

Getreidefelder und Wiesen mit darauf weidenden Tieren und idyllische Dörfer die Landschaft prägten, sondern die Mega-ställe der Agrarindustrie mit ihren weit mehr als dreißig Millionen Hähnchenmastplätzen, giftigen Biogasanlagen, überdüngten Feldern, überdimensionierten Schlachtbetrieben, in denen Menschen und Tiere litten und dem ewigen Gestank aus unzähligen Stallbauten.

Nun war es ja nicht so, dass er sich Unwohlsein und miese Laune herbeisehnte, nein, ganz im Gegenteil. Harm Schnieders hielt sich für einen grundsätzlich fröhlichen, positiv denkenden Menschen.

Aber – er war ja auch verheiratet! Mit Ilona Schnieders, geborene Sörensen.

Seit mehr als fünfzig Jahren.

Was sollte er machen?

Ilona liebte Heimatfilme, vor allem solche, die in Cornwall spielten oder in den österreichischen Bergen. Hauptsache weit weg vom Emsland.

Bunte Landschaftsbilder. Schnulzige Liebesgeschichten. Schlichte Handlungen. Einfache Dialoge. Und zum Schluss wird immer alles gut.

»Da kriege ich Pippi in die Augen«, schwärmte sie.

»Pfui Teufel, was für eine eklige Vorstellung!«, schnauzte Harm Schnieders. »Urin in den Augen! Ist doch widerlich!«

Wie hasste er solche TV-Schmonzetten!

»Sei doch nicht immer gleich so grantig, Harm«, blaffte Ilona. »Du könntest auch ruhig mal wieder etwas Nettes zu mir sagen, so wie früher.«

Schnieders wandte sich seiner Frau zu und tat, als ob er an ihr schnüffelte.

»Oh, ein neues Parfüm? Was ist das denn? Eau de cadavre?«

»Harm Schnieders, du bist ein unausstehliches Ekel«, schimpfte Ilona.

»Freundlich sein kann doch jeder, das ist keine Kunst«, grummelte der alte Mann, »aber eine gepflegte Miesepeterei, die will wirklich gelernt sein.«


Harm Schnieders wollte gerne ein Programmkino besuchen, um sich den Film Der Baader-Meinhof-Komplex über die Geschichte der RAF anzusehen. Er wunderte sich, dass Ilona mitkam. An der Kinokasse verlangte sie mit schriller Stimme: »Zweimal Baader-Meinhof, ganz hinten bitte!«

Das hörte sich an wie Zweimal Pommes Schranke und eine Currywurst, bitte!, dachte Harm Schnieders. Und er trat einen Schritt zur Seite, so als gehöre er nicht zu dieser Person.

Gern hätte er nach der Vorstellung noch mit jemandem über den geschichtsverfälschenden Aktionismus dieses Films gesprochen, doch Ilona faselte ununterbrochen über das gute Aussehen und die verführerische Männlichkeit des Andreas-Baader-Darstellers Moritz Bleibtreu.

Ein tiefergehendes Gespräch, wenn möglich vielleicht sogar bei einem fachgerecht gezapften Glas Pils – keine Chance! Und mit Ilona schon mal gar nicht!

Auf dem Nachhauseweg wies Ilona auf ein Straßenschild mit der Aufschrift Vorsicht! Langsam fahren! Es könnte auch dein Kind sein!

»Ist es nicht schön, wie die Menschen sich um ihre Kinder sorgen?«, säuselte Ilona.

»Im Prinzip schon«, entgegnete Harm Schnieders, »aber nicht mit so einem total bescheuerten Satz! Es könnte auch mein Kind sein! Was soll das denn heißen? Fremde Kinder zu überfahren ist also nicht so schlimm, oder was?«

»Apropos überfahren: Die Beerdigung von Frau Schlüter ist am Dienstag«, sagte Ilona.

»Nein, erst am Freitag«, korrigierte Harm Schnieders.

»Ach, geht’s ihr schon wieder besser?«, freute sich Ilona.

»Hoffnungslos, es ist absolut hoffnungslos«, murmelte Harm Schnieders in seinen fusseligen Bart hinein.

Wenn sie doch wenigstens ab und zu mal die Klappe halten würde!

Und während er sie so von der Seite betrachtete, kam ihm in den Sinn, dass die Mopeds im Emsland wirklich besser frisiert sind als die Frauen.

Ab Mitte September gab’s bei den Discountern schon wieder Stollen und Spekulatius zu kaufen. Das war der gnadenlose Beginn des alljährlichen Weihnachtsterrors. Dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Weihnachtmarkthändler wieder die Glühweinbecher mit ihrer dürren Plörre füllten und völlig überteuert an Horden hysterisch grölender Gestalten mit roten Weihnachtsmützen auf dem Kopf verhökerten. Und, wie sollte es auch anders sein: Ilona liebte natürlich Weihnachtsmärkte. Papenburg, Bourtange, Leer, Osnabrück, Oldenburg, Münster – sie schleppte ihren schwer leidenden Ehemann auf jeden erreichbaren Weihnachtsmarkt der Umgebung, wobei sie immer wieder ihr Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, dass Schnieders absolut kein Verständnis für althergebrachte Traditionen aufzubringen in der Lage sei.

Tja! Bier hatte sehr viel mit Traditionen zu tun! Aber doch nicht dieser blöde Glühwein! Lächerlich!

Fragte man Harm Schnieders, was er von Weihnachtsmärkten hielt, dann sagte er voller Verachtung in der Stimme: »Weihnachtsmärkte sind das Wacken des Spießbürgers!«

Schon seit längerer Zeit hatte Harm Schnieders seinen Bierkonsum unaufhaltsam gesteigert.

»Wenn ich bis zehn Uhr nicht im Bett bin, gehe ich nach Hause«, brummte er manchmal vor sich hin und hockte dann doch bis spät in die Nacht hinein an irgendwelchen Theken herum, um ein Bier nach dem anderen in sich hinein zu schütten, was er für wesentlich sinnvoller erachtete, als teures Geld für die klebrige Brühe auf den Weihnachtsmärkten auszu-

geben.

Es ist einfach unwahr, wenn die Leute behaupten, Alkohol und Vergnügen seien untrennbar miteinander verbunden.

Ich kann sehr gut Bier trinken, ohne fröhlich zu sein, dachte er.

Man muss auch einmal über seinen Schatten trinken können. Aber eine Lösung seiner Probleme war das sicher nicht, das wusste er sehr genau.

Immer radikalere Szenarien spielten sich in seiner Vorstellung ab. Aber auch Zweifel quälten ihn. Immerhin hatte Ilona ihm im Laufe der Jahre so manchen Ärger und etliche Unannehmlichkeiten vom Hals gehalten.

Wie sagt das alte Sprichwort doch so treffend? Die emsländische Hausfrau ersetzt den Hofhund. Aber er würde es auch allein schaffen, davon war er fest überzeugt.

Und gibt es nicht ein Recht auf Unversöhnlichkeit?

Als Kind vom Lande kannte Harm Schnieders sich recht gut mit Pflanzen aus: Goldregen, Oleander, Rizinussamen, Engelstrompeten, Fingerhut, Cerbera odollam … ach, es war nicht leicht!

Wenn alles klappt, höre ich mit dem Saufen auf, das verspreche ich, dachte Schnieders. Ganz bestimmt! Höchstens mal ein Bier. Oder vielleicht zwei … mal gucken!

Am 28. Februar 2020 erschien in der Ems-Zeitung folgende Traueranzeige:

»Nach einem überaus harten und qualvollen Leben hat Herr Harm Schnieders, geboren am 25. April 1948, am 23. Februar 2020 nun endlich seine wohlverdiente Ruhe gefunden.

Die Beerdigung seiner Frau Ilona Schnieders, geborene Sörensen, findet am 4. März 2020 auf dem Papenburger Hauptfriedhof statt.«

Der letzte Schluck Corona

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