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Vier

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Mittwoch, 02. Mai, 10 Uhr 15

„Miau …“

Ähnlich wie eine thailändische Statue saß die kleine Siamkatze auf einem der vier Küchenstühle und bewegte ihren Schwanz rhythmisch von rechts nach links. Ihre himmelblauen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. In der Hoffnung, vielleicht auch eine Kleinigkeit der Leckereien, die sich dort auf der Anrichte befanden, abstauben zu können.

Christin, kurz Chris genannt, hatte gerade den frisch gebackenen Marmorkuchen in eine Folie gehüllt und mit blauem und weißem Geschenkband hübsch verpackt.

„Und? Wie findest du es, Sarami?“

„Brrrrrr …“, schnurrte sie anerkennend.

Chris stellte den Kuchen zur Seite und blickte sanft und dabei lächelnd auf ihren Stubentiger herab.

„Sie müssen sich noch etwas gedulden, junge Dame.“

Chris öffnete die Tür zum Kühlschrank, nahm zwei Becher Sahne heraus und füllte den Inhalt in einen Messbecher. Nun tänzelte Sarami unruhig auf dem Stuhl hin und her. Chris stellte den Mixer an und schon wenige Augenblicke später hatte die Sahne eine feste Konsistenz angenommen. Um sicherzugehen, dass geschmacklich alles in Ordnung war, holte sie einen Löffel aus der Schublade und probierte.

„Mhhhhh …“

Das war zu viel für den Siamesen. Theatralisch ließ sie eine Reihe der unterschiedlichsten Tonfolgen erklingen und hatte mit ihrem energischen Getue auch schnell Erfolg.

„Schon gut, schon gut!“, gab Chris auf und füllte eine Esslöffelportion in Saramis Napf. Die Katze sprang vom Stuhl, hastete zu ihrem Futterplatz und ließ die Zunge vor- und zurückschnellen, sodass die Sahne in Nullkommanichts verputzt war. Zufrieden verließ sie die Küche, sprang auf ihren Kratzbaum im Wohnzimmer und fing an, sich ausgiebig zu putzen.

Chris hatte unterdessen die fertige Sahne in eine Dose umgefüllt und zusammen mit dem Kuchen in ihrem grünen Einkaufskorb verstaut. Sie räumte noch schnell das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und folgte Sarami in den hellen, freundlichen Raum, wo sie nach ihrer Jacke und den Autoschlüsseln griff. Die Katze war immer noch mit der Fellpflege beschäftigt und schaute nur kurz auf, als Chris im Begriff war, die Wohnung zu verlassen.

„So, Süße, du hältst hier die Stellung. Ich bin gleich wieder da. In Ordnung?“

„Mauuu …“, antwortete Sarami prompt. Es war typisch für diese Rasse, immer das letzte Wort zu haben. Lächelnd ging Chris zu ihr, nahm den Kopf der Katze zwischen ihre Hände und legte die Stirn sanft auf die ihre. Sie liebte dieses Tier über alles und hätte nicht gewusst, wie sie die letzten Monate ohne ihre kleine Sarami hätte überstehen sollen. Das Gespür, gepaart mit dem Instinkt, einfach da zu sein, wenn es ihr schlecht ging, schien allgegenwärtig. Auch in den letzten Tagen, in denen Chris endlich die Kraft gefunden hatte, Tobias‘ Sachen auszusortieren, gab Sarami ihr Halt und brachte sie hin und wieder sogar zum Lachen. Eigentlich hatte sie sich so viel vorgenommen, wollte die Wohnung komplett verändern. Aber wie so oft brachte sie es nicht übers Herz, auch die letzte Erinnerung an ihren verstorbenen Verlobten zu beseitigen.

Ein sanfter Kopfstoß der Katze riss sie aus ihren Gedanken und Chris erinnerte sich wieder daran, was sie eigentlich gerade vorhatte. Nik hatte heute Geburtstag und sie wollte es sich auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen, ihn mit einem selbstgebackenen Kuchen zu überraschen. Für sie war er einer der letzten verbliebenden Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Abgesehen natürlich von Anni, ihrer besten Freundin, und Maximilian, seinem Sohn. Schon früh hatte sich der Tierarzt ihrer angenommen und Gott weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte es diesen Mann nicht gegeben.

Deshalb hatte sie sich auch in diesem Jahr die Mühe gemacht, den Kuchen nach Tante Hannas Rezept zu backen. Sie wusste, wie sehr er ihn mochte. Chris straffte sich und ging zurück in die Küche, um den Korb zu holen. Sie überprüfte noch kurz, ob auch alles gut verpackt war, und verließ die Wohnung.

Bereits zehn Minuten später bog der rote Kleinwagen von der langen Zufahrt auf den großen geschotterten Parkplatz vor der Kleintierpraxis ein. Nahezu alle Stellplätze waren besetzt, doch Chris erspähte noch eine freie Stelle direkt neben einem Monster von einem Auto. Einem silberfarbenen Dodge RAM. Zwei parallel laufende, mattschwarze Streifen zierten die Motorhaube und ließen den Wagen noch bulliger erscheinen.

Dagegen wirkt meiner wie das reinste Spielzeugauto“, dachte sie und parkte ein. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und ging zum Kofferraum, als ihr das Kennzeichen des Ungetüms ins Auge fiel. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, denn anhand der Buchstaben und Ziffern konnte es sich nur um Niks neuen Truck handeln.

„Nette Kiste, Dr. Berger.“ Sie schnalzte mit der Zunge und ging zum Praxiseingang.

Die Tür stand offen und Chris schlug lautes Hundegebell entgegen. Sie hatte bereits einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz wiedererkannt und wusste, dass der hiesige Golden Retriever Club anwesend war.

Das bedeutete Großkampftag für alle Beteiligten. Das Erstellen und Auswerten der Röntgenbilder von Hüfte und Ellbogen der jungen Hunde nahm immer sehr viel Zeit in Anspruch. Für die Züchter ging es um viel. Wurden ihre großen Erwartungen bestätigt oder mussten sie Hunde von der Zucht ausschließen? Chris nahm sich vor, nicht lange zu stören, und ging in Richtung der Anmeldung. Eine dunkelhaarige, konzentriert dreinblickende junge Frau saß dahinter und war gerade damit beschäftigt, einzelne Laborergebnisse in den Computer einzutragen. Sie blickte auf und als sie Chris erkannte, machte sich ein Grinsen in ihrem Gesicht breit, das ein kleines Piercing in der Oberlippe zum Glitzern brachte.

„Sonnenschein!! Was machst du denn hier? Was machen die Malerarbeiten?“

Chris hielt ihr den Korb entgegen und lächelte sie an.

„Nervennahrung. Ich sehe schon, was hier los ist, deshalb will ich nur schnell gratulieren und bin dann auch schon wieder verschwunden.“

„Kuchen! Damit retten Sie mir den Vormittag, Frau Bachmann.“

„Das dachte ich mir. Waren wir heute Morgen mal wieder spät dran?“

„Kennst mich doch! Ich schlafe halt gerne.“

„Klar, das wird sich wohl auch nie ändern, oder?“

Was wohl der Wahrheit entsprach. Bereits in der Berufsschule hatte Anni immer eine Notfallreserve in ihrem Rucksack, um das aufkommende Hungergefühl im Unterricht bekämpfen zu können. Entspannte Frühstückszeiten waren halt nie so ihr Ding. Chris hatte sich immer schon gewundert, wie man es schaffen konnte, bei dem Schokoladen-Konsum eine solche Figur beizubehalten. Anni hatte ihre veterinärmedizinische Karriere in einer Praxis im Ruhrgebiet gestartet und die ersten Jahre auch dort gearbeitet, bevor sie vor gut zwei Jahren bei Dr. Berger gelandet war. Das war kurz nach Tobias‘ tödlichem Unfall gewesen. Chris hatte eine sehr lange Auszeit gebraucht und hatte es bis heute nicht geschafft, ihre Vollzeitstelle hier wieder aufzunehmen. In der Acrylmalerei fand sie die innere Ruhe, die sie benötigte, um wieder einigermaßen mit dem Leben klarzukommen. Und sie war gar nicht schlecht darin. Von dem Verkauf einiger Bilder und den wenigen Stunden, die sie in der Praxis aushalf, konnte sie sich gut über Wasser halten. Auch hier hingen einige ihrer Werke, für die Sarami posierte, an den Wänden. Und auch auf Annis Unterstützung und Hilfe konnte sie sich von Anfang an verlassen und so wurden die beiden im Laufe der Zeit zu besten Freundinnen.

„Aber Spaß beiseite. Wenn du noch etwas Zeit hast, dann bleib doch. Wir könnten dann gemeinsam einen Kaffee trinken. So lang wird es wohl nicht mehr dauern“, riss Anni sie aus den Gedanken, als in diesem Augenblick ein Retriever an ihnen vorbeihastete, seinen Besitzer im Schlepptau. Das Tier hatte eindeutig genug von diesen Räumlichkeiten und stürmte forsch nach vorne, um an die frische Luft zu gelangen.

„Bis nächste Woche, Frau Winter“, verabschiedete sich der Mann hastig und war auch schon verschwunden.

„Siehst du. Wir sind heute von der schnellen Truppe“, bemerkte Anni beiläufig, als plötzlich eine tiefe Stimme durch den Flur donnerte.

„Anni! Sind die beiden letzten Aufnahmen von Dorian und Doolittle schon entwickelt?“

„Ja, Chef! Entwickelt und bereits auf Ihrem Server.“

„Und wann genau wolltest du mir das mitteilen?“

„Ähm …, also eigentlich direkt, nachdem ich Ihnen Herrn Richter in Behandlung Zwei geschickt und noch bevor ich das Rezept für Frau Becker geschrieben hätte.“

„Sehr witzig, Anni.“ Eine Tür wurde wieder zugestoßen.

Anni stützte ihren Kopf auf dem linken Arm ab und grinste Chris in ihrer typisch lockeren Art an.

„Was ist denn mit dem los?“

„Oh. Das geht schon den ganzen Tag so. Prinz Charming himself.“

„Und gibt es einen Grund für seine schlechte Laune?“

Anni schnaubte verächtlich. „Derselbe wie immer. Er hat dunkelbraune, lange Haare und ist mit ihm verheiratet.“

„Aha. Daher weht der Wind. Sag mal, wo steckt eigentlich Julia?“

„Die ist mit Patrick beim alten Pröpper und …“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Parkplatz, als ein alter, schwarzer Range Rover mit Vollbremsung vor der Tür zum Stehen kam.

„… wenn man vom Teufel spricht“, vollendete sie den Satz.

Quietschend öffnete sich die Wagentür und begleitet von fluchenden Schimpfwörtern stieg der junge Assistenzarzt aus. Mit voller Wucht knallte er die Autotür zu, hastete in den Flur und nickte den beiden kurz zu.

„Also ehrlich, Anni. Nik muss sich wirklich langsam mal um die Bremsen kümmern. Das Ding ist lebensgefährlich!!“

„Und trotzdem hast du überlebt. Patrick, du bist mein persönlicher Held“, spottete sie, denn sie wusste, dass er unter Stress gerne mal zu Übertreibungen neigte, weshalb sie ihn nie wirklich ernst nehmen konnte. Wobei sie für seine heutige schlechte Laune durchaus Verständnis zeigte.

Bereits in der Früh hatte es eine Auseinandersetzung zwischen ihm und ihrem Chef gegeben. Es ging wie immer um dasselbe. Patrick wollte mehr Verantwortung und damit eigenständiger arbeiten. Und Nik kümmerte sich am liebsten um alles selbst. Es lag nicht daran, dass er kein Vertrauen zu seinem Assistenzarzt besaß. Vielmehr konnte Nik einfach nicht loslassen. Das hier war sein Baby, über das er niemals die Kontrolle, wenn auch nur ansatzweise, abgeben konnte. Dazu kam, dass Nik im Augenblick schwere Zeiten durchlebte, was allen Anwesenden bewusst war.

Aber heute Morgen war er einfach zu weit gegangen. Patrick gegenüber hatte er einzelne Bemerkungen fallen lassen, die ihn zutiefst gekränkt hatten. Diesmal würde es noch einige Stunden brauchen, bis sich die Wogen wieder geglättet hätten.

„Sag mal, hast du nicht was vergessen?“, fragte Anni, und Patrick musterte sie mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck.

„Falls du Julia meinst, die hab ich zum Duschen nach Hause gebracht.“

„Hääähh …?“

„Willst du die Kurzform oder die lange Version?“

„Kurzform reicht völlig.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Also, ich ziehe an Kalb, Julia an mir, Kalb gibt nach und na ja ... wer im Scheißhaufen gelandet ist, könnt ihr euch ja denken.“

Chris verzog das Gesicht. „Die Entschuldigung lass ich gelten. Dann bleib ich hier und helf euch solange.“

„Auf gar keinen Fall!“, protestierte Anni. „Du hast zu tun und soweit ich weiß, davon eine Menge. Wie weit bist du eigentlich mit der Umgestaltung deiner vier Wände?“

Chris vermied es, ihrem Blick zu begegnen, und schaute verlegen zu Boden. „Es geht voran“, antwortete sie leichthin.

„Wie viel Patienten haben wir noch?“, unterbrach sie Patrick barsch.

„Noch sechs. Und alle warten nur darauf, von Ihnen persönlich behandelt zu werden, Dr. Weimer.“ Sie rollte mit den Augen und hoffte, er würde sich endlich ein wenig entspannen und wieder verschwinden.

„Na, wunderbar, was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht?“

Verärgert über diesen überflüssigen Kommentar setzte Anni zur Verteidigung an.

„Du fährst über eine Stunde in der Gegend rum, nimmst noch Julia mit, obwohl du sonst auch allein unterwegs bist, lässt uns mit einer vollen Hütte zurück und fragst auch noch so blöd, was wir hier gemacht haben?“

Völlig erschrocken über diese Reaktion ruderte Patrick sofort zurück.

„Tut mir leid. Es war 'ne Scheißgeburt und ich … ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Julia auch einmal in die Welt der Großtiere einzuführen. Außerdem mache ich es ihm eh n…“ Er wiegelte ab und schüttelte den Kopf. „Vergiss es einfach. Ich hab´s wirklich nicht so gemeint.“

„Schon gut. Entschuldigung akzeptiert“, gab sie nach. Patrick war die Situation nun sehr unangenehm. Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, deshalb schaute er noch schnell in der Wartezimmerliste nach, wer der Nächste war, und setzte sich in Bewegung.

„Kann ich in die Eins?“

„Klar, hab ich gerade aufgeräumt.“

„Danke. Lieb von dir“, sagte er und verschwand.

„Was, bitte schön, war das denn?“, begann Chris, als eine ältere Dame durch die Tür herein kam.

„Oh, Mann. Heute nerven aber auch wirklich alle. Ich erkläre dir gleich alles.“ Sie schaute auf und lächelte ihr entgegen. „Guten Morgen, Frau Kuhlisch. Geht es Ihrem Hündchen etwa schlechter?“

Völlig außer Atem blieb die kleine, rundliche Frau an der Anmeldung stehen und musste sich erst mal sammeln.

„Entschuldigen Sie, meine Liebe, dass ich Sie noch mal belästigen muss“, sagte sie und holte tief Luft. „Aber ich habe doch glatt vergessen, das Diätfutter für meinen Flocki mitzunehmen. Haben Sie vielleicht noch eine Tüte da?“

„Klar doch. Für Sie immer, Frau Kuhlisch“, antwortete Anni und zwinkerte der alten Dame zu.

„Ich hol es Ihnen schnell. Einen Zwei-Kilo-Beutel wie immer?“

„Ja, bitte. Das ist wirklich nett von Ihnen.“

Erst jetzt bemerkte sie, dass auch Chris an der Anmeldung lehnte und sie freundlich ansah.

„Ach, hallo, Frau Bachmann. Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Wie geht es Ihnen?“

„Prima. Danke“, erwiderte Chris, auch wenn das gelogen war. „Ich bin heute in privater Mission hier“, erklärte sie weiter und holte den Kuchen aus dem Korb. Inzwischen war Anni wieder zurück und legte den Beutel mit dem Trockenfutter auf die Ablage.

„Das ist aber wirklich taktlos von mir. Ich wünsche Ihnen alles Liebe zum Geburtstag, Frau Winter.“

Anni blieb wie angewurzelt stehen und bedachte Chris mit einem überraschten Blick.

„Nein, nein, Frau Kuhlisch. Der Kuchen ist für den Chef. Er hat heute seinen Ehrentag.“

„Aha“, sagte sie erleichtert und fügte hinzu. „Zweiundfünfzig, richtig? Da wird mir allerdings einiges klar.“

Ratlose Gesichter.

„Wie meinen Sie das?“, hakte Anni neugierig nach.

„Na ja, sagen wir mal so. Ihr Chef ist in letzter Zeit nicht so auf der Höhe, oder?“

„Das ist Ihnen aufgefallen?“

„Ja klar, ist doch nicht zu übersehen.“ Sie hob ihren wulstigen Zeigefinger in die Höhe und sah aus, als imitiere sie gerade den Lehrer von Max und Moritz.

„Neulich hat er mich dreimal innerhalb von 10 Minuten nach dem Entwurmungsstatus meines Hundes gefragt. Überhaupt nicht bei der Sache, der Mann. Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid, denn das hab ich mit meinem Heinzi, Gott hab ihn selig, auch schon durchgemacht. Ist für Männer halt eine schlimme Sache, so eine … ähm, wie sagt man doch gleich … Midlife Crisis?“

„Also von der Seite haben wir das noch gar nicht betrachtet, oder Chrissi?“

„Absolut nicht. Nein.“

„Und es wird schlimmer, meine Liebe. Erst sind sie ständig schlecht gelaunt und unkonzentriert. Irgendwann legen sie sich dann ein neues Spielzeug zu. Stellen Sie sich vor, plötzlich meinte mein Mann, er müsse unbedingt auch so ein Internet-Dings haben. Dabei hatte er von Computern so viel Ahnung wie mein Hündchen vom Kartenspielen.“

Chris und Anni nickten knapp und drehten ihre Köpfe zur gleichen Zeit in Richtung Parkplatz, wo ihre Blicke den neuen Dodge fanden, der in der Sonne glänzte. Anni konnte nicht mehr an sich halten und prustete los vor Lachen und die Tränen kullerten ihr über die Wangen.

„Sie sind wirklich 'ne Marke, Frau Kuhlisch.“

Die Frau verstand zwar nicht, was so komisch an ihrer Ausführung gewesen sein sollte, ließ sich aber von der Heiterkeit anstecken. Plötzlich wurde es dunkel hinter Anni.

„Er steht hinter mir, oder?“, fragte sie und rang immer noch sichtlich nach Luft.

„Mhhh … tut er und ist ganz versessen darauf zu erfahren, warum hier nicht gearbeitet wird und die Damen so viel Spaß haben.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Dr. Nikolas Berger, meist Nik genannt, einfach nur da und bedachte die drei mit einem auffordernden Blick. Wie üblich trug der gut 1,90 Meter große Mann legere Jeans, einen grünen OP-Kasack und darunter ein eng anliegendes, weißes Langarmshirt, welches seine muskulösen Arme perfekt zur Geltung brachte. Der moderne Kurzhaarschnitt sowie der akkurat gestutzte Drei-Tage-Bart machten das Bild eines attraktiven Mannes perfekt, auch wenn die mittlerweile ergrauten Haare dem früheren Dunkelbraun den Rang abgelaufen hatten.

Chris musterte ihn von der Seite und erkannte sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Seine braunen Augen, die sonst so freundlich dreinblickten und damit Lebensfreude pur verströmten, wirkten heute leer und ausdruckslos. Adern und Venen, die über seine kräftigen Unterarme verliefen, traten besonders stark hervor. Chris vermutete, dass er, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, mindestens sechs bis acht Pfund an Gewicht verloren hatte. Sein ganzes Auftreten wirkte angestrengt und gespielt. Wie so oft, wenn es ihm nicht gut ging. Sie machte sich eine Notiz an sich selber, ihn am Wochenende zu sich zum Essen einzuladen.

„Meinen herzlichsten Glückwunsch, Dr. Berger“, preschte die alte Dame voran, in der Hoffnung, die Situation retten zu können. „Wissen Sie, wir drei haben uns lediglich über Männer und ihre Spielzeuge unterhalten.“

Sofort kicherte Anni wieder drauflos und vergrub sich unterm Schreibtisch.

„Spielzeuge?“, wiederholte er und hob dabei eine Augenbraue.

„Ja, genau. Das ist ja so ein Thema für sich und ich würde Ihnen das auch gerne weiter erläutern, aber leider muss ich mich jetzt auch von Ihnen verabschieden. Ich bin noch mit den Damen von unserem Canasta-Club zum Tee verabredet. Schreiben Sie das Futter bitte auf, Frau Winter? Ich begleiche die Rechnung dann nächste Woche. Haben Sie noch einen schönen Tag.“

Anni hob einen Daumen und bedeutete der Frau, dass sie verstanden hatte.

„Hey, Boss, Happy Birthday!“, beglückwünschte ihn nun auch Chris, kam um die Anmeldung herum und drückte ihn fest an sich. „Wünsch dir alles Gute, Nik.“

„Danke, lieb von dir.“ Er löste langsam die Umarmung.

„Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst irgendwie angespannt.“

„Alles bestens.“ Sein Blick erspähte den Marmorkuchen und er hob einen Mundwinkel. „Ich hoffe doch, nach Tante Hannas Rezept?“

„Aber natürlich!“, antwortete sie und tat dabei so, als wäre sie empört über diese Frage. „Für unseren Lieblingschef nur das Beste.“

„Also, soweit mir bekannt ist, habt ihr ja auch nur einen. Oder ist mir da was entgangen?“ Seine Haltung blieb unverändert.

„Nein. Genauso ist es. Und deshalb müssen wir Sie ja auch pflegen“, fügte Anni frech hinzu und verspürte sogleich einen leichten Klaps auf dem Hinterkopf.

„Aua! Verdammt, das tat weh. Das nennt man aktives Mobbing am Arbeitsplatz.“ Natürlich tat es gar nicht weh, dennoch rieb sie sich übertrieben mit der rechten Hand über ihren Schopf. „Was wollten Sie eigentlich hier vorne?“

„Ich suche die Bestelllisten.“ Er beugte sich vor, um in der Ablage danach zu suchen.

„Na, die werden Sie hier aber nicht finden“, bemerkte Anni, ohne ihn dabei anzusehen.

„Sondern?“ Er ließ genervt den Kopf nach vorne fallen und hatte keine Lust darauf, seiner Helferin jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen. Wieder ein Stimmungswandel, den man so von ihm nicht gewohnt war.

„Na, in Ihrem Büro. Da, wo sie immer liegen. Zweiter Stapel von links, oben drauf. Soll ich sie holen?“

„Nein, nicht nötig. Ich kümmere mich noch eben um unseren Mr. Snuggles. Danach mach ich die Bestellung. Patrick soll bitte weiterbehandeln. Und sag ihm, dass ich ihn später noch sprechen will.“ Er richtete sich wieder auf. „Danke noch mal, Chris. Wir sehen uns Freitag?“, sagte er und begegnete ihrem fragenden Blick.

„Was ist Freitag? Braucht ihr meine Hilfe?“

„Ah, sorry, Chef, bin noch nicht dazugekommen, es ihr zu sagen.“

„Na, dann besprecht das noch mal. Mach´s gut, Kleine.“ Er drückte sich von der Ablage ab, lächelte ihr freundlich zu und verließ die Anmeldung in Richtung eines der drei Behandlungsräume.

Sie hörten eine Tür ins Schloss fallen und waren wieder allein.

„Der Boss hat uns alle am Freitagabend eingeladen“, begann Anni. „Nichts Wildes, nur ein bisschen was vom Grill, ein, zwei Bier zusammen trinken, und das war´s. Das Wetter soll ja etwas besser werden.“

Die Heiterkeit, die kurz zuvor noch geherrscht hatte, war plötzlich wie weggefegt. Anni blickte angespannt auf ihre Finger.

„Anni? Was ist los? So schlecht drauf hab ich ihn nicht mehr erlebt, seit … seit …“

„Seit Maximilian weggegangen ist“, beendete Anni den Satz. „Am Montag gab sich Madame Pompadour mal wieder die Ehre. Kein guten Morgen, kein auf Wiedersehen. Rannte gleich in sein Büro und machte ihn mal wieder rund.“ Der sorgenvolle Tonfall in ihrer Stimme gefiel Chris überhaupt nicht.

„Diesmal war es echt schlimm, Chris. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten, den Streit von unseren Kunden fernzuhalten. Man hat zwar nicht viel mitbekommen, aber das Wort Scheidung war allgegenwärtig. Seitdem ist er wie ausgewechselt und deshalb glaube ich, es würde ihm guttun, wenn wir Freitag einfach alle da sind. Du kommst doch?“

In einer Geste des Unbehagens rollte Chris die Schultern und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

„Ich kann noch nicht sagen, ob ich es schaffen werde“, log sie bereits zum zweiten Male an diesem Vormittag.

„Verdammt, Chris, ich weiß auch, was für ein Tag Freitag ist. Mensch, gib dir einen Ruck, du kannst dich nicht ewig vergraben!“ Über den anklagenden Ton hätte sich Chris normalerweise sehr geärgert, aber komischerweise konnte sie ihrer Freundin einfach nicht böse sein. Sie hatte ja recht.

„Ich weiß.“

„Fräulein … Ich kann Sie auch abholen und hierher schleifen!“

„Ich versuch´s, okay?“

„Noch was … Bringst du einen Nudelsalat mit?“ Annis Stimme war nun wieder sanfter und Chris einfach überwältigt von ihrer Fähigkeit, eine schier aussichtslose Situation in etwas Positives, etwas Gutes zu verwandeln. Sie spürte die Wärme in ihrem Herzen und wusste in diesem Moment, dass sie nie allein war.

„Einfach nur Nudelsalat?“

Geschmeidig wie eine Katze war Anni aufgesprungen und hatte bereits Stellung neben ihr bezogen. Sie legte eine Hand auf ihre Schulter und mit der anderen berührte sie sanft ihre Wange.

„Es ist in Ordnung, wieder am Leben teilzunehmen, und ja, einfach nur Nudelsalat. Ich werde es nicht schaffen, einen zu machen.“

„Schon gut. Ich bin da. Ist zwanzig Uhr in Ordnung?“ Mit einem verlegenen Lächeln wollte sie sich schon abwenden, als sich ein Mann mit einem Rottweiler der Anmeldung näherte.

„Guten Morgen, die Damen.“

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Anni freundlich und besetzte wieder den Platz vor dem Computer.

„Ich bin gerade hergezogen und auf der Suche nach einem Tierarzt. Dr. Berger wurde mir wärmstens empfohlen.“

„Haben Sie einen Termin?“

„Leider nein. Ich hatte gehofft, ich könne einfach warten. Spike hat einen nervösen Magen und gestern Abend ist ihm der Mülleimer zum Opfer gefallen. Das Ergebnis hat er mir heute Morgen im Wohnzimmer präsentiert.“

„So ein Schlingel“, bemerkte Chris, ging vor dem schwarzen Hund in die Hocke und kraulte ohne Furcht seine Ohren. Der angsteinflößende Hund genoss die Streicheleinheit sichtlich und legte den Kopf zur Seite.

„Ich denke, da können wir was machen. Haben Sie denn etwas Zeit mitgebracht?“

„Selbstverständlich. Wäre es wohl möglich, dass Dr. Berger sich den Hund persönlich anschaut? Ich habe gehört, er kann besonders gut mit … na ja … sogenannten Kampfhunden.“

„Bestimmt. Ich frag ihn gleich. Nehmen Sie doch bitte schon mal im Wartezimmer Platz. In der Zwischenzeit wäre es nett von Ihnen, mir das Anmeldeformular auszufüllen. Wenn Sie fertig sind, einfach hier vorne ablegen.“

„Gern. Vielen Dank.“ Der Mann nickte ihnen knapp zu und zog den schweren Hund mit sich ins Wartezimmer.

„Der Typ ist irgendwie unheimlich, findest du nicht?“

„Was meinst du? Ich fand ihn eigentlich ganz nett“, antwortete Anni.

„Hast du bemerkt, wie angespannt der Rotti auf jede seiner Bewegungen reagiert hat? Und diese blauen Augen … richtig angsteinflößend.“

„Ich glaube, du siehst zu viele Horrorfilme.“

„Wie dem auch sei. Ich muss los. Wir sehen uns Freitag.“ Chris war schon fast am Ausgang, als sie sich noch mal umdrehte und die linke Hand hob. „Quäl dich langsam.“

„Du dich auch.“

Mittwoch, 02. Mai, 11 Uhr 04

Mr. Snuggles lag seelenruhig auf dem Behandlungstisch und schnurrte. Wie immer ließ er die Nachsorge seiner Bisswunden in einer heroischen Ruhe über sich ergehen. Er war der heimliche Star der Praxis. Alle liebten diesen Kater. Freundlich und immer gut gelaunt. So präsentierte er sich meistens dem Menschen gegenüber. Er hatte nur ein Problem. Er konnte einfach keinem Artgenossen aus dem Wege gehen. Kerben an Ohren und Nase zeugten von unzähligen Revierkämpfen, in denen er zuletzt vermutlich oft den Kürzeren gezogen hatte. Und auch diesmal hatte es ihn übel erwischt. Sein Hinterteil war übersät von unzähligen Schrammen und Bissen. Die Rasur reichte vom Schwanzansatz bis hinunter zum Kniegelenk des linken Beines.

Nik begutachtete vorsichtig die tieferen Löcher, die er mit stark verdünntem Wasserstoffperoxyd durchspülte. Dieser Teil der Behandlung war alles andere als angenehm. Ähnlich wie bei einer chemischen Reaktion schäumte die Flüssigkeit auf und es knisterte gefährlich. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Wunde mit Bakterien verunreinigt war. Der Kater hob beleidigt den Kopf und kommentierte das Vorgehen mit einem Maunzen.

„Sorry, Kumpel, das kann ich dir leider nicht ersparen.“ Nik wiederholte diese Prozedur so lange, bis keine aufschäumende Aktivität mehr zu erkennen war. Dann legte er dem getigerten Gefährten ein weiteres Leckerli vor die Nase und kraulte ihm den Kopf. Mr. Snuggles verspeiste die Knuspertasche mit großem Appetit und schnurrte weiter. „Im Allgemeinen wird man im Alter doch erfahrener und ruhiger. Zumindest sagt man so.“

„Haha. Ich denke, darauf können wir bei unserem Snuggles lange warten. Der wird niemals daraus lernen“, erwiderte Karl Richter, der Besitzer des Katers, und lächelte amüsiert.

„Keine Sorge. Auch das kriegen wir wieder hin. Antibiotisch ist er noch bis morgen versorgt.“ Nik blickte kurz auf. „Ein Schmerzmittel und einen Entzündungshemmer sollten Sie ihm trotzdem noch ein paar Tage geben. Haben Sie noch Metacam zu Hause?“ Ein Schmerzmittel mit entzündungshemmender Wirkung.

„Ich glaube nicht. Bei der letzten Keilerei haben wir alles aufgebraucht.“

„Dann gebe ich Ihnen vorsichtshalber noch eine Flasche mit. Normalerweise würde eine kleine Packung reichen.“ Wieder kraulte er den Kater hinter den Ohren. „Aber in diesem speziellen Fall nehmen wir lieber gleich die große Packung. Nur für alle Fälle“, sagte er und stellte die Transportbox zurück auf den Tisch.

Mr. Snuggles erhob sich und schlenderte hinein. Er ließ sich auf die rechte Seite fallen und fing an, sich ausgiebig zu belecken, ohne dabei das Schnurren einzustellen.

„In ein paar Tagen ist er wieder der Alte“, sagte Nik, stand auf und ging hinüber zu dem weißen Apothekerschrank. Er öffnete ihn, hielt sich an der Schranktür fest und starrte in das Innere. Die einzelnen Regale waren nach Wirkungsgruppen unterteilt. Es gab Medikamente für Herz und Kreislauf, für Schilddrüsenerkrankungen, zur Bekämpfung von Würmern und anderen Parasiten und natürlich zur Schmerz- und Wundbehandlung. Er holte eine lilafarbene Packung aus dem obersten Regal und betrachtete diese gedankenversunken. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich Nik rührte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Berger?“ Die Antwort ließ auf sich warten. Es herrschte nur Schweigen. Karl Richter ging vorsichtig auf seinen Tierarzt zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, alles okay?“

Aufgeschreckt blickte ihn Nik über seine Schulter an.

„Ähm, ja. Natürlich. Ich habe mir nur gerade Gedanken über die Dosierung gemacht.“

„Auf den Bahamas?“ Der alte Mann hob eine Augenbraue.

„Mhhh?“

„Entschuldigen Sie, Dr. Berger, aber Sie waren gerade so weit weg, dass Sie vermutlich noch nicht einmal mitbekommen hätten, wenn Ihre Superchemikalie da drüben explodiert wäre.“

Nik lächelte verlegen. „Tut mir leid. Ich war wohl nicht ganz bei der Sache. Bitte entschuldigen Sie.“

„Wie auch immer. Jedenfalls sehen Sie bescheiden aus, mein Junge. Ganz sicher, dass Ihnen nichts fehlt?“

„Nichts weiter, außer Schlafmangel.“

„Sie sollten ein wenig besser auf sich achtgeben. Immerhin sind Sie auch nicht mehr der Jüngste.“

Treffer, versenkt.“ „Eine Weisheit des Alters?“

„Nur ein gut gemeinter Rat, mein Junge. Glauben Sie mir. Es bringt nichts, ständig über den Sinn des Lebens nachzudenken und warum manche Dinge so laufen, wie sie eben laufen. Sich auch mal Zeit für sich zu nehmen, das ist der Schlüssel zum Glück, lassen Sie sich das von einem alten Mann gesagt sein.“

„Ich werde es beherzigen, danke.“ Nik legte das Schmerzmittel auf die Transportbox und hielt ihm seine rechte Hand entgegen.

„Nicht dafür.“ Karl Richter ergriff sie seinerseits.

„Ich möchte Snuggles in zwei Tagen noch einmal sehen, wenn das geht?“

„Natürlich. Ich mache gleich vorne einen neuen Termin aus. Vielen Dank, Dr. Berger.“

Nik lächelte. „Nicht dafür.“

Wenige Minuten später trat Nik durch die Tür seines Büros und ließ diese sanft hinter sich ins Schloss fallen. Nur für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, lehnte sich zurück und stützte seinen Kopf an der Tür ab. In diesem Moment genoss er die Ruhe und Stille. Selbst die entfernten Stimmen der sich verabschiedenden Patientenbesitzer vernahm er, wenn überhaupt, nur am Rande.

Er fühlte sich schon seit einiger Zeit nicht wirklich gut, was auf keinen Fall etwas mit seiner körperlichen Verfassung zu tun hatte. Zwar feierte er heute seinen immerhin schon zweiundfünfzigsten Geburtstag, trotzdem legte er nach wie vor viel Wert auf seinen Körper und gesunde Ernährung. Beinahe jeden verdammten Abend verbrachte Nik so viel Zeit in seinem Kraftraum, dass es ihm oft selber wie eine Droge vorkam. Früher hatte er stets darauf geachtet, es mit dem Training nicht zu übertreiben, damit auch seine Familie nicht zu kurz kam. Aber jetzt brauchte er auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Im Grunde genommen war es im Augenblick, neben seiner Arbeit natürlich, der einzige Ausgleich, der ihm noch geblieben war. „Traurig genug.“

Der Grund für seine ständige schlechte Laune und der damit verbundenden Reizbarkeit war ein anderer. Es gab Tage, da fiel es ihm besonders schwer, der nette, souveräne Veterinärmediziner und Chef zu sein, der er ja eigentlich war und auch immer sein wollte. Er wirkte oft abwesend und in sich gekehrt, genauso wie gerade eben. Und heute schien es ein besonders beschissener Tag zu werden. Dieser blödsinnige Streit mit seinem Assistenzarzt war ihm sichtlich an die Nieren gegangen. Er hatte Dinge von sich gegeben, die ihm im Nachhinein sehr leid getan hatten. Er musste sich dringend dafür entschuldigen.

Nik atmete einmal tief durch und öffnete wieder die Augen. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, der am Ende des Zimmers direkt unter dem Fenster seinen Platz gefunden hatte. Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung, zog den großen, dunklen Bürostuhl heran und blätterte den Hefter mit der Bestellliste durch. Er drehte sich zu dem Regal an der Wand und suchte sich die passenden Kataloge der Pharmafirmen zusammen, bei denen er dringend Nachschub für seine Apotheke ordern musste. Insgesamt vier Ordner legte er auf die Schreibtischunterlage und ließ sich auf dem schweren Stuhl nieder. Nik zog den ersten Katalog vom Stapel und streifte dabei einen der beiden schwarzen Bilderrahmen am Rande des Tisches, wodurch dieser umkippte und auf dem Boden zerschellte.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er seinen Kopf nach vorne sacken und umklammerte mit beiden Händen seinen Nacken.

„Happy Birthday, du Trottel“, murmelte er und wischte die Listen mit einer aggressiven Handbewegung vom Tisch. Unruhig flogen die losen Blätter durch den Raum, bevor sie wild verstreut ihren Bestimmungsort auf dem Boden fanden.

Das Gesicht in den Händen vergraben verharrte Nik minutenlang in dieser Position, bevor er sich dazu in der Lage fühlte, das angerichtete Chaos wieder zu beseitigen. Langsam straffte er seinen Körper und stemmte sich aus seinem Stuhl. Sorgfältig hob er ein Blatt nach dem anderen wieder auf, stapelte diese aufeinander und steckte die gesamte Bestellliste zurück in den Hefter. Erneut ging er in die Hocke und zog mit der rechten Hand ein Foto aus vergangenen, glücklicheren Tagen aus den Scherben. Gedankenversunken zeichnete Nik mit seinem Zeigefinger die Silhouette eines kleinen Jungen nach und verzog seine Lippen zu einem Schmunzeln, welches seine Grübchen zur Geltung brachte. Sein kleiner Sohn Maximilian war mittlerweile längst erwachsen und zum Teil in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Unter normalen Umständen wäre er darüber mehr als stolz gewesen, jedoch war die Situation hier eine andere. Nach dem Studium zog es Max in die Staaten, um weitere Erfahrungen als Veterinärmediziner sammeln zu können. Zumindest hatte er das damals behauptet. Nik wusste allerdings, dass die Wahrheit eine andere war. Sein Sohn war einfach geflüchtet und trotz vieler gemeinsamer Gesprächen konnte Nik nichts dagegen tun. Im Grunde genommen hatte er sogar Verständnis für die Entscheidung gezeigt, doch das änderte nichts daran, dass er seinen Sohn so sehr vermisste.

Nik merkte, wie die innerliche Wut wieder hochkochte und mit aller Macht an die Oberfläche drängte, als sein Blick auch die dritte Person auf dem Bild erfasste. Er konnte es nicht mehr verbergen, ihr eine gewisse Mitschuld an dem Dilemma zu geben. Seine Frau Claudia schlang innig und verliebt ihre Arme um seine Hüften und schien der Welt damals zeigen zu wollen, wie glücklich ihre kleine Familie doch war. Nur was ist danach bloß geschehen? Nik verstand es eigentlich immer noch nicht. Irgendwann hatte er wohl einfach den Anschluss an den schnellen und luxuriösen Lebenswandel seiner Noch-Ehefrau verloren.

Zum ersten Mal in den vielen Jahren hatte er sie freigeben wollen und das Wort „Scheidung“ in den Mund genommen. Der letzte Streit zwischen ihnen zeigte bis dato unerreichte Dimensionen und Nik musste sich eingestehen, dass eine weitere gemeinsame Zukunft eher unwahrscheinlich schien. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt. Manchmal wünschte er sich, diese Erbschaft damals nie angenommen zu haben.

Völlig überraschend hatte ihn seine Großtante als Alleinerbe eingesetzt, und wie sich später herausstellte, sollte die alte Dame ihm nicht nur diese Hofanlage, sondern auch eine beträchtliche Summe an Ersparnissen hinterlassen haben. Nik hatte zu der Zeit an einen Sparstrumpf unterm Kopfkissen gedacht. Doch wie sich wenig später gezeigt hatte, passte die Summe in keinen Strumpf der Welt. Die alte Dame hatte im Laufe ihres Lebens mehrere Hunderttausend Euro zur Seite gelegt.

Im ersten Moment ein großer Schock, den Nik erst mal verdauen musste. Warum nur hatte sie nie auch nur ein Sterbenswörtchen über das Vermögen verloren? Der Hof war marode und man hätte ihn schon viel früher wieder sanieren können. Was hatte sich Tante Hannah nur dabei gedacht? Zwei Tage nach der Trauerfeier durchforstete Nik ein paar Unterlagen in der alten Wohnstube. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf den alten Wohnzimmerschrank aus massiver Eiche, hinüber zu dem braunen Sofa, das schon bessere Tage gesehen hatte. Zu guter Letzt auf die gegenüberliegende Wand, an der sich in unregelmäßigen Abständen verschiedenste Bilder, in unterschiedlichen Größen und Formen eingerahmt, präsentierten.

Und er verstand. Tante Hannah hielt an den unzähligen schönen Erinnerungen aus vergangenen Tagen fest. Sie wollte keine Veränderung. Alles sollte so bleiben, wie es war. Das war ihr wichtiger als alles Geld der Welt. Und wie sich zeigte, sollte sie recht behalten.

Wenn er damals auch nur annähernd geahnt hätte, welche Veränderungen mit so viel Geld einhergehen würden, er hätte es mit Sicherheit nicht angenommen. Ein sorgenfreies, glückliches Leben, das hätte es wohl für jeden anderen Menschen bedeutet. Für ihn war es eher der Anfang vom Ende seines glücklichen Lebens. Gemeinsam hatten er und seine Frau beschlossen, die Wohnung in der Hemeraner Innenstadt aufzugeben und wenige Kilometer weiter auf den Hof zu ziehen.

Ein Großteil der Ersparnisse ging für die längst überfälligen Renovierungsarbeiten an Stall und Wohnhaus drauf, ein weiterer für die Planung und Umsetzung einer neuen, moderneren Praxis im Nebengebäude. Bei der Einrichtung der privaten vier Wände hatte Claudia als gelernte Innenarchitektin freie Hand. Sie besaß schon immer den besseren Geschmack und legte viel Wert aufs Detail. Um Geld einzusparen, stemmte Nik beinahe den gesamten Umbau der Praxisräume allein. Ab und an kam Max dazu und half, wo er nur konnte. Claudia hingegen zeigte wenig Verständnis für seinen Einsatz. Zu oft hatte sie auf ihren Mann verzichtet, ihre Wünsche und Ziele immer wieder zurückgesteckt.

Heute war ihm das bewusst und das schlechte Gewissen allgegenwärtig. Jedoch zu dem Zeitpunkt glaubte er fest daran, das Richtige zu tun. Sicherheit für die Zukunft und damit verbunden ein sorgenfreies Leben für sich und seine Familie, genau das war es, was ihn immer wieder antrieb.

Er merkte nicht einmal, wie sich seine Frau immer mehr von ihm entfernte. Designermode, Dinnerpartys und damit verbunden neue Freunde aus der Welt der Erfolgreichen bestimmten fortan ihren Tagesablauf. Hin und wieder begleitete er sie auf die eine oder andere Veranstaltung, allerdings bereitete ihm das ständige und oberflächliche Gerede über Aktien, Wirtschaft und Politik jedes Mal Kopfschmerzen. Meist zog er sich zurück an die nächste Bar, bestellte ein Bier und beobachtete die Gäste.

Es kam, wie es kommen musste. Die Spannungen zwischen ihnen nahmen zu und Max blieb auf der Strecke. Wie sehr sein Sohn darunter litt, in den Augen seiner Mutter den falschen Weg eingeschlagen und damit auch seine große berufliche Zukunft weggeworfen zu haben, erkannte Nik leider zu spät. Ein erfolgreicher Anwalt, das war es, was Claudia sich für ihn wünschte.

Irgendwann wurde der Druck einfach zu groß und Max zog es nach Boston. Das war nun fast ein Jahr her und zum ersten Mal seit Ewigkeiten sollte Nik seinen Geburtstag nun allein verbringen. Ganz allein, denn auch Claudia wohnte schon seit geraumer Zeit nicht mehr hier. Sie hatte ein Apartment in Münster angemietet. Berufliche Gründe hatte sie vorgeschoben, aber es sollte einfach nur der endgültige Schritt für die räumliche Trennung bedeuten.

Das Vibrieren seines Smartphones riss Nik aus seinen Gedanken. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und legte das Foto hinein. Später würde er einfach einen neuen Rahmen kaufen.

Er trat ein Stück zur Seite und spähte durch das Fenster. Auf der angrenzenden Weide spitzte ein brauner Wallach seine Ohren, als er sich der Aufmerksamkeit des Tierarztes sicher war, und begrüßte ihn mit einer kopfnickenden Geste. Mit der rechten Hand öffnete Nik die Terrassentür und ging ein Stück hinaus. Er spürte die laue Frühlingssonne auf seiner Haut. Das Wetter wurde langsam besser. Der Regen hatte in der Nacht aufgehört und die Temperaturen waren angestiegen.

Eigentlich perfekte Bedingungen für einen ersten Ausflug mit dem Bike“, dachte er. Sein Mountainbike, eine weitere Leidenschaft, der er allerdings weitaus weniger nachging. Meist nur in den Sommermonaten und auch nur dann, wenn es die Zeit erlaubte. Zu dumm, dass seine neuste Errungenschaft noch nicht bei dem Händler seines Vertrauens eingetroffen war. Nach reiflicher Überlegung und einigen Probefahrten hatte er sich für eine 29er Variante entschieden. Die größeren Räder ermöglichten ihm ein wesentlich laufruhigeres Fahrvergnügen im Gelände. Zwar war er in Kurven damit nicht mehr ganz so spritzig unterwegs, aber da er sowieso immer eher der Marathon- und weniger der Downhilltyp gewesen war, störte ihn das kaum.

„Guten Morgen, alter Knabe!“ Vergnügt schüttelte Sir William, kurz Will genannt, seine prächtige Mähne, wodurch einzelne Haare wild in alle Himmelsrichtungen abstanden.

Ein Lächeln umspielte Niks Mundwinkel und er widmete sich wieder dem Handy. Er gab einen vierstelligen Code ein, um das Gerät zu entsperren. Sofort erschien das Hauptmenü. Er tippte auf den WhatsApp-Button und in der Chatliste sah Nik, dass bereits drei neue Nachrichten eingegangen waren. Die erste Mitteilung stammte von einem Kollegen aus dem Nachbarort.

Alles Gute zum Geburtstag, du alter Sack. Lust, den Tag bei einem Bier ausklingen zu lassen? Melde dich einfach. Gruß Sascha.

Mit einer kurzen Antwort bedankte er sich für die Geburtstagsgrüße und suchte im Chatverlauf die nächste Nachricht. Als er den Absender erkannte, öffnete er diese voller Vorfreude.

Hey Dad, Happy Birthday und viele Grüße aus Boston. Hoffe, bei euch ist alles Ok! Denk an dich, sprechen uns. Max“.

Zu gern hätte er mal wieder die Stimme seines Sohnes gehört, aber wahrscheinlich hatte er dort einfach zu viel um die Ohren. Seine Stimmung sank gleich wieder gegen Null, als er die letzte Mitteilung öffnete und den Text las.

Ich wünsch dir alles Gute. P.S. Lass uns bitte noch mal reden! Passt dir Freitagabend? Ich habe deinen Lieblingswein gekauft. Gruß C.“

Was soll das denn noch bringen?“ Gedankenversunken griff er nach dem Kaffeebecher auf der Fensterbank, den er bereits heute früh hier abgestellt und mal wieder vergessen hatte. Nik nahm einen großen Schluck aus der Tasse und verzog angewidert das Gesicht. Kalter Kaffee, er hasste kalten Kaffee, und gerade jetzt konnte er ein bisschen Koffein gut gebrauchen. Schnellen Schrittes eilte er zurück zur Tür und öffnete diese nur so weit, dass er ein Stück hindurchschauen konnte.

„Anni!“

„Sir, ja, Sir!“, konterte die Stimme seiner Helferin aus einem der Behandlungszimmer am anderen Ende des Flures.

„Sag mal, haben wir noch etwas von dem schwarzen Heißgetränk in der Küche? Du weißt schon, das mit viel Koffein! Ich könnt noch 'ne Tasse vertragen.“

„Gerade aufgesetzt. Bringe ich Ihnen gleich, Sir!“

Nik verdrehte die Augen und machte sich wieder an die Bestelllisten. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür und ohne ein Herein abzuwarten, betrat Anni das Büro mit einem Tablett in der Hand.

„Zimmerservice!“, verkündete sie mit einem übertrieben fröhlichen Tonfall und stellte eine Tasse herrlich duftenden Kaffee und einen Teller mit Kuchen auf dem Schreibtisch ab, bevor ihr Blick auf den zerstörten Bilderrahmen fiel.

„Was ist denn hier passiert?“

„Danke, aber Kaffee reicht völlig“, knurrte er, ohne weiter darauf einzugehen oder den Blick von den Unterlagen zu nehmen. Empört stemmte Anni ihre Fäuste in die Hüften und baute sich direkt neben ihm auf.

„Na, wir sind ja heute wieder gut drauf. Ist ja nicht so, als wenn der Kuchen gleich Beine bekommt und vom Teller springt!“, motzte sie drauflos. „Und außerdem, haben Sie mal in den Spiegel geschaut? Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“

Niks Kiefermuskulatur begann zu zucken und Anni verstand das Warnsignal sofort. Denn sie wusste nur zu gut, wann sie ihrem Chef gehörig auf die Nerven ging.

Oh, Scheiße“, dachte sie, blieb aber trotzdem, nach außen hin unbeeindruckt, in ihrer angestammten Haltung stehen.

Nik holte tief Luft.

„Weiß nicht, gestern, vorgestern? Kann mich nicht genau erinnern.“

Er hoffte, seine Helferin würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und das Interesse an ihm verlieren. Doch wie so oft wurde er eines Besseren belehrt. Anni beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf der Tischkante ab und schaute ihn provozierend an.

„Sie können mir glauben, Herr Doktor. So ein kleines Stück Kuchen wird Sie nicht gleich umbringen! Im Übrigen wäre keinem von uns geholfen, wenn Sie uns hier irgendwann mal umkippen. Ich habe nämlich keine Lust, mich schon wieder nach einem neuen Job umschauen zu müssen.“

„Du klingst schon wie meine Mutter.“

„Und womit? Mit Recht! Also?“

„Mann, du gibst ja doch keine Ruhe.“ Nik gab nach und steckte sich ein großes Stück in den Mund. „Zufrieden?“, presste er hervor und spuckte dabei unbeabsichtigt einige Kuchenkrümel durch den Raum.

Vergnügt nahm sie es zur Kenntnis.

„Fürs Erste. Hat auch gar nicht wehgetan, oder?“

„Womit hab ich dich und deine große Klappe eigentlich verdient?“

Zum ersten Mal schaute Nik zu ihr auf.

„Tja, das wird wohl auf ewig Ihr Geheimnis bleiben.“

„Ich gebe es auf. Ist Julia endlich zurück?“

„Jep! Und riecht wieder wie ein Frühlingsmorgen. Ich bereite mit ihr gerade den OP vor.“

„Wieso?“

„Das Tierheim hat gerade angerufen. Bei der heutigen Fangaktion waren sie wohl sehr erfolgreich. Sie bringen uns noch 6 Wildkatzen. Aber Frau Hornberg rechnet damit, dass die meisten Tiere wohl Kater sind.“

„Na, wunderbar … dann haben wir den Geruch wieder tagelang in der Hütte. Denk bloß daran, die Fenster aufzumachen.“

„Aber natürlich, Herr Kommandant. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn wir so weit sind. Und übrigens … den Kuchen schön aufessen, ja?“ Sie zwinkerte ihm zu und wollte den Raum gerade verlassen.

„Anni?“

„Jaaah?“

„Danke!“

Verblüfft drehte sie sich um und hob eine Augenbraue. Er hatte sich ihr nun zugewandt und lächelte sie freundlich an.

„Ich mein‘s ernst. Ihr macht einen tollen Job. Ich vergesse das nur manchmal zu erwähnen.“

Nun ließ auch Anni ihre Maskerade fallen und lächelte zurück.

„Gern geschehen.“

Eine kleine letzte Retourkutsche konnte sie sich dennoch nicht verkneifen. Sie ging zurück zum Tisch und stöberte akribisch in den Unterlagen herum.

„Suchst du was Bestimmtes?“

„Ähm, ja, den Rotstift. Wenn man schon mal ein Lob von Ihnen bekommt, dann sollte man das doch mit Datum und Uhrzeit im Kalender festhalten, oder?“

Nun hob Nik eine Augenbraue.

„So schlimm?“

„Manchmal sind Sie schon kaum zu ertragen“, erklärte sie und fügte hinzu. „Aber andererseits, ich würde die Auseinandersetzungen mit Ihnen echt vermissen. Nicht auszudenken, wie langweilig der Alltag wäre, wenn Sie immer nur gut gelaunt durch diese Räume schreiten würden.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder sanfter. „Sie sind wirklich in Ordnung. Aber kriegen Sie Ihre Probleme in den Griff. Selbst unsere Kunden haben gemerkt, dass Sie sich verändert haben.“

Es klopfte an der Tür und beide schauten auf.

„Ja!“

Langsam drückte Julia die Klinke herunter und steckte unsicher den Kopf hindurch.

„Tut mir leid, dass ich stören muss, Dr. Berger …“ Sie hielt inne.

„Tja, mit der Ruhe ist das heute so eine Sache“, bemerkte Nik. Er streckte seine Beine aus, verschränkte die Arme hinterm Kopf und musterte Anni grinsend von der Seite. Diese verstand die Provokation auf der Stelle, ignorierte ihn aber völlig.

„Was ist los, Julia?“

„Ähm, also …“ Die Auszubildende schaute auf den Boden und suchte nach den richtigen Worten.

„Ich bin immer noch ganz Ohr.“

„Ja, also, ich habe Frau Becker und ihren Tyson noch hereingelassen. Ich weiß ja, dass wir eigentlich geschlossen haben, aber der Boxer hatte wohl wieder einen epileptischen Anfall und sie schien sehr besorgt. Ich habe sie in den 2. Behandlungsraum geschickt und ich hoffe, das war okay für Sie?“ Julia wartete mit weit aufgerissenen Augen auf eine Reaktion. Als diese ausblieb, setzte sie fort. „Dann wollte ich Anni noch fragen, was ich mit dem Rottweiler machen soll.“

„Ach, verdammt. Den hab ich ja total vergessen.“ Sie verlagerte ihr Gewicht in Niks Richtung. „Ein Neukunde, der auf Empfehlung gekommen ist. Er würde gerne von Ihnen behandelt werden.“

Nik ließ den Kopf nach vorne fallen und seufzte. Wieder ein Stimmungswandel? Julia reagierte unbeholfen.

„Ähm, ich kann aber auch Patrick Bescheid geben, falls Sie keine Zeit haben und …“

„Julia!“ Erschrocken schaute sie auf und Nik merkte erst jetzt, wie angespannt das junge Mädchen war, was nicht zuletzt an seiner Person lag. Dass man es ihm zurzeit kaum recht machen konnte, damit konnte Anni umgehen. Aber Julia war fast noch ein Kind und schien oft sehr unter seiner schlechte Laune zu leiden.

„Hol mal Luft! Es ist alles in Ordnung, wirklich“, munterte er sie auf. „Geh zu Patrick und sag ihm, er soll sich um die Kastration kümmern. Und wir beide, Fräulein Winter, verarzten zuerst Tyson und kümmern uns dann um den Rotti. Den könnt ihr schon mal in die Drei setzen.“

„Und der Kuchen?“

„Muss wohl warten.“

„Na ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich werde das später einfach noch mal kontrollieren.“

„Natürlich wirst du das. Ich habe nichts anderes erwartet.“ Mit einem Ruck hievte sich Nik aus seinem Bürostuhl und beförderte seine Mädels mit einem gespielten Fußtritt aus der Tür.

„Verschwindet endlich!“

„Sir, ja, Sir!“

Mittwoch, 02. Mai, 15 Uhr 37

Mark bog auf den Parkplatz, der direkt an die Eissporthalle der Iserlohn Roosters angrenzte, und suchte einen Platz. Am besten in hinterster Reihe, um so unsichtbar wie möglich zu sein. Er war auf Nummer sicher gegangen und hatte seinen roten Ford Focus ST gegen diesen silberfarbenen Golf, den er für genau diese Situationen in einer Tiefgarage in der Iserlohner Innenstadt geparkt hatte, eingetauscht. Im Kofferraum befanden sich einige Utensilien. Unter anderem ein Trainingsanzug, den er schnell übergestreift hatte und eine verspiegelte Sonnenbrille, hinter der er sein Gesicht verstecken konnte. Um die Maskerade perfekt zu gestalten, stülpte er sich noch eine graue Mütze über den Kopf und betete zu Gott, dass er wirklich unerkannt blieb.

Angespannt stieg er aus dem Wagen und schaute sich langsam, aber genau um, konnte aber nichts Auffälliges erkennen. Er durchlebte gerade ein Déjà-vu. Gut zwei Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal hier hatten treffen müssen. Und schon damals war sie die Einzige gewesen, der er uneingeschränkt vertrauen konnte.

Mark setzte sich in Bewegung und joggte den Weg entlang des Hallenbades hinunter zum Rundweg des Seilersees. Er war früh dran. Also blieb ihm noch genügend Zeit, etwas für seine Fitness zu tun. Er nutzte die Gelegenheit und bog nach links ab. Der Weg um den See war nicht allzu lang. Wie üblich schaffte er drei Umrundungen, bevor er an einer kleinen Brücke eine Pause einlegte. Mit beiden Armen drückte er sich vom Geländer weg und dehnte seine Wadenmuskulatur, als sich eine weitere Läuferin dazugesellte und es ihm gleichtat. Ein kurzer Blick auf ihre langen Beine genügte und Mark wusste, dass sie es war.

„Mia. Danke, dass du gekommen bist“, sagte er, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Was ist passiert? Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich die Nachricht bekam.“ Sie legte ein Bein auf das Geländer und umfasste mit beiden Händen den Knöchel. „Also, warum so dringend und warum hier?“

„Ich wusste nicht, wie ich sonst allein mit dir in Kontakt hätte treten können. Es könnte sein, dass wir ein Problem bekommen, und ich kann sonst keinem mehr trauen.“ Mark reckte sich und verzog dabei angestrengt das Gesicht zu einer Grimasse.

„Geht es auch konkreter?“

„Ich vermute, ich bin aufgeflogen.“

„Was? Wie konnte das passieren? Und warum gerade jetzt?“ Sie bemühte sich weiterhin um Diskretion.

„Erst mal nur eine Vermutung. Allerdings habe ich mitbekommen, wie sich zwei der Securitys über eine undichte Stelle beim BKA unterhielten.“

„Bei uns? Das kann ich nicht glauben. Ich kenne mein Team seit Jahren. Für jeden Einzelnen lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Du solltest trotzdem vorsichtig sein, Mia.“

„Verflucht noch mal, wenn da was dran ist, dann ist dein Leben keinen Cent mehr wert. Ich ziehe dich ab, noch heute. Dein Auftrag ist beendet, Mark.“

„Nein. Noch nicht. Ansonsten wäre die ganze Arbeit der letzten Monate für die Tonne. Wir waren noch nie so dicht dran, ihm etwas zu beweisen. Das will ich nicht einfach so aufgeben.“

„Das ist mir egal. Dein Leben ist in Gefahr und ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn dir auch noch etwas passiert.“

„Freitagabend steigt irgendetwas Großes. Etwas, das wirklich Bedeutung für ihn hat, und ich soll dabei sein. Genauere Einzelheiten kenne ich noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir ihn endlich drankriegen könnten.“

„Was macht dich da so sicher? Bisher war deine Arbeit nicht gerade von Erfolg gekrönt.“ Sie wandte sich ab, legte das andere Bein auf das Geländer gegenüber.

„Habe ich dir jemals einen Grund gegeben, an mir zu zweifeln?“

„Nein. Trotzdem. Es ist glatter Selbstmord, wenn du weitermachst.“

„Das Risiko ist überschaubar, wenn du in der Nähe bleibst. Ich werde mich später noch einmal mit diesem Typen treffen. Konntest du anhand der Fotos schon etwas über ihn in Erfahrung bringen?“

„Vito ist dran. Bisher kann ich dir nur sagen, dass er mit Sicherheit eine falsche Identität angenommen hat. Augenscheinlich aber noch nicht sonderlich in Erscheinung getreten ist. Als ob er noch nie existiert hätte. Was mir im Übrigen zusätzliche Bauchschmerzen bereitet.“

„Vielleicht erfahre ich später Näheres. Bitte, Mia. Du musst mich weitermachen lassen. Das sind wir Damian schuldig.“ Er hörte, wie sie den Atem ausstieß.

„Also gut. Aber ich warne dich. Bei dem geringsten Zweifel breche ich alles ab, hörst du?“

„Verstanden.“

„Ich warte auf deine Nachricht. Sei bitte vorsichtig, Mark.“

„Sicher. Übrigens. Es war schön, dich mal wieder in natura zu sehen.“

„Ich für meinen Teil würde es begrüßen, wenn es so bliebe. Ich erwarte regelmäßige Nachrichten von dir“, sagte sie und setzte ihren Lauf in entgegengesetzter Richtung fort.

Mark war wieder allein. Trotz der ausgiebigen Dehnungen fühlte sich sein Nacken steif und verkrampft an. Sicherlich ein Tribut an die ständigen Anspannungen. Doch er war sich sicher, dem Ganzen bald schon ein Ende zu setzen. Mark schaute auf die Uhr und sein Herz schlug schneller. Er musste sich beeilen, um nicht zu spät am vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen. Das ungute Gefühl, dass diese Woche kein gutes Ende nehmen würde, schob er rasch beiseite. Er wollte das Schwein zur Strecke bringen, koste es, was es wolle. Er würde noch dafür büßen, dass er vor eben diesen zwei Jahren seinen Partner kaltblütig hatte umbringen lassen. „Dafür mach ich dich fertig, das schwöre ich dir.“

Aber für seine Rachegelüste blieb im Augenblick keine Zeit. Er musste noch zurück in die Tiefgarage, um die Autos wieder zu tauschen, und danach in seine Wohnung, um sich für alle Eventualitäten zu rüsten. Die frische Brise half ihm, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, und er lief zurück zum Parkplatz, vorbei am Saunabereich des Bades, vorbei an der Eissporthalle, direkt zu seinem Wagen. „Du hast lange genug auf der Sonnenseite des Lebens gestanden, du verdammter Bastard. Deine Glückssträhne erkläre ich hiermit für beendet.“

Mittwoch, 02. Mai, 21 Uhr 23

„Dann hätten wir ja alles geklärt. Ich hoffe nur, das war das letzte Mal, dass ich dich wegen dieser Sache ins Büro zitieren muss.“ Phil blickte über den Rand seiner Brille zu Tom hinauf und musterte ihn tadelnd. Mehr als einmal hatte er beide Augen zugedrückt und über die ständigen Verspätungen hinweggesehen, ganz zu schweigen von den Tagen, an denen sich Tom während der Schicht einfach vom Café entfernte. Er hatte durchaus Verständnis für die missliche Lage, in der Tom sich befand. Allerdings hatten die Fehlzeiten überhandgenommen und es war einfach an der Zeit, das seinem Mitarbeiter klarzumachen.

„Nein. Es wird nicht mehr vorkommen, Phil. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Gut. Dann verschwinde jetzt in den Feierabend. Übrigens will ich dich bis Montag hier nicht mehr sehen.“

„Aber …“

„Keine Diskussionen, Tom. Das war keine Bitte, sondern eine Anweisung. Du musst dir überlegen, wie es weitergehen soll. Privat, meine ich. Und was deine Schichten betrifft: Die hab ich schon anderweitig vergeben.“ Er nahm die Brille von der Nase und stieß den Atem aus. „Ich mag dich, Tom. Aber ich habe ein Geschäft zu führen und damit viel Verantwortung auch für meine Mitarbeiter. Bis vor Kurzem warst du einer meiner besten Leute und ich will, dass das wieder so wird. Also nutz die Zeit und denk drüber nach. Und jetzt raus hier.“

Tom zog leise die Tür hinter sich zu und sog langsam die Luft ein. Die Standpauke war weitaus weniger lautstark ausgefallen, als er es vermutet hatte. Im Gegenteil. Für die kurze Zwangspause war er Phil sogar dankbar. Auf dem Weg zum Personalraum begegnete er Lisa, die ihm seine Jacke hinhielt und ihn fragend anschaute.

„Alles in Ordnung? Ich meine, war es sehr schlimm?“

Er lachte auf. „Hey. Ich lebe noch und darf sogar wiederkommen. Also? Ja, ich denke, alles bestens!“

„Idiot. Schönen Feierabend.“ Sie lächelte und ging zurück an die Theke.

„Dir auch. Danke.“

Auf der hölzern eingefassten Veranda angekommen, knöpfte Tom sich die Jacke zu und genoss die frische Abendluft. Es schien fast so, als sei der wolkenverhangene Himmel nur für ihn an dieser Stelle aufgebrochen. Sozusagen das Licht am Ende des Tunnels. Plötzlich bewegte sich etwas am Ende seines Sichtfeldes und ließ ihn zusammenfahren.

„Ein schöner Abend heute, findest du nicht?“

Tom verengte die Augen, aber außer dem Aufleuchten eines Streichholzes und der darauf folgenden Zigarettenglut konnte er nichts weiter erkennen.

„Feierabend? Nicht sehr viel los heute, oder?“

„Hör‘n Sie, wer immer Sie auch sind. Ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung für Smalltalk. Also, schönen Abend noch.“

„Ein Pflegeheim ist bestimmt sehr teuer. Du siehst nicht aus, als könntest du dir das leisten.“

„Was?“ Entgeistert starrte er auf den Schatten, der sich nun ins Licht bewegte. „Wer zum Teufel sind Sie?“

Der Mann pustete blauen Zigarettendunst in die Luft und nahm die Kapuze vom Kopf.

„Erik?“

„Du erinnerst dich also.“

„Woher weißt du davon?“

„Ich habe mich etwas umgehört.“ Er zuckte mit den Schultern. „Lust, dir ein bisschen Geld dazuzuverdienen?“

„Wenn du damit irgendwelche krummen Dinger meinst … nein, danke.“

„Na, na. Wer wird denn gleich von schlimmen Dingen reden. Ich habe gehört, du fährst private Autorennen.“

„Früher mal. Jetzt nicht mehr.“

„Ich suche jemand, der einfach nur fahren kann. Du hast mit dem eigentlichen Job nichts zu tun. Der finanzielle Aspekt ist nicht der schlechteste.“

„Lass gut sein. Ich bin nicht interessiert.“

„Du hast uns gestern belauscht, nicht wahr? Das war nicht nett von dir.“

„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich habe niemanden belauscht und was mich betrifft, ist unser Gespräch hiermit beendet.“ Tom wandte sich zum Gehen, wurde aber unsanft an der Schulter zurückgehalten.

„Spinnst du? Lass mich sofort los!“

„Ich habe mir schon gedacht, dass du so reagieren würdest. Nach dem, wie Falk dich beschrieben hat. Trotzdem solltest du dir mein Angebot überlegen.“ Der durchdringende, finstere Blick ließ Tom unwillkürlich zurückschrecken und das, was er nun auf dem Handydisplay vor seinen Augen zu sehen bekam, konnte er kaum glauben. „Wäre doch schlimm, wenn ihr etwas zustoßen sollte? Es liegt in deiner Hand. Du hast Zeit bis morgen Mittag, dich zu entscheiden. Ich melde mich.“

Unfähig, sich bewegen zu können, starrte Tom immer noch auf die Stelle, wo vor wenigen Sekunden noch das Display seinen Blick kreuzte. Was war hier gerade passiert? Er brauchte einen Moment, um zu verstehen. Er wurde erpresst. Er. Aber warum nur? Er hatte keinen blassen Schimmer, worum es sich hier drehte. Und auf einmal war alles, was er liebte, in großer Gefahr. Falk. Er war der Einzige, der ihm alles erklären konnte. Allerdings hatte er das Café schon vor mehreren Stunden verlassen. Kurz entschlossen zog er sein Handy hervor und wählte Falks Nummer. Mailbox. „Scheiße.“

„Ruf mich sofort zurück, wenn du das abgehört hast.“ Tom legte auf. Was jetzt? „Nach Hause. Du musst nach Hause. Hoffentlich geht es ihr gut.“

Spur der Vergangenheit

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