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Fünf

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Freitag, 04. Mai, 10 Uhr 20

Sein Chauffeur bahnte sich den Weg durch ein Heer von wartenden Reportern und öffnete ihm die hintere Tür der Limousine. Blitzlichtgewitter brach über ihn herein. Er liebte diese Art von Aufmerksamkeit und stieg langsam und elegant aus dem Wagen. Sogleich wurden ein Dutzend Mikrofone wurden auf ihn gerichtet.

„Herr Mazzoni! Könnten Sie uns eine kurze Stellungnahme geben?“, fragte eine Reporterin.

„Die Stadt ist Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung. Was war der entscheidende Auslöser, dass Sie sich gerade für dieses Projekt entschieden haben?“, ein anderer. Er lächelte in die Menge und knöpfte sein Jackett zu.

„Kinder sind unsere Zukunft. Ich hatte das unverschämte Glück, einen perfekten Start ins Leben zu bekommen. Dafür danke ich Gott jeden Tag.“ Er war in seiner Rolle angekommen. Ein angesehener Geschäftsmann dieser Stadt, mit dem ambitionierten Ziel, auch in der Politik weiter Fuß zu fassen. Und sein Name war im Bundestag schon längst kein unbeschriebenes Blatt mehr.

„Die Fusion mit Amnitec ist so gut wie abgeschlossen“, rief ein Reporter von der Frankfurter Allgemeinen. „Eine Menge Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Ihr Vorgehen ist dabei nicht ganz unumstritten.“ Der Mann trat jetzt in den Vordergrund. „Herr Mazzoni. Haben Sie den Spielplatz nur errichten lassen, um die aufgebrachten Stimmen der Bürger zum Schweigen zu bringen?“ Er hielt ihm das Mikro direkt ins Gesicht, gespannt auf eine Reaktion.

Langsam trat er einen Schritt vor und suchte den direkten Augenkontakt. Mit Entzücken stellte er fest, dass die Hand des Reporters leicht zu beben begann und der Mann schluckte.

„Dass Amnitec in wirtschaftliche Schieflage geraten ist, hat der bisherige Vorstand zu verantworten. Nicht ich. Und so leid es mir tut. Um die Firma wieder in sicheres Fahrwasser zu geleiten, werden Entlassungen nicht zu vermeiden sein. Immerhin trage ich auch eine gewisse Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern meines Unternehmens. Das hat aber nichts mit der Entscheidung zu tun, die finanziellen Mittel für den Bau des Spielplatzes bereitzustellen. Das können Sie mir glauben. Die Kids dort leben in einem sozial schwachen Gebiet. Ich wollte ihren Alltag nur ein wenig freundlicher gestalten. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.“

Das Stimmengewirr nahm wieder Fahrt auf, während ihn Joseph, sein Chauffeur, gegen die aufgebrachte Meute abschirmte.

„Machen Sie Platz und lassen Sie uns durch“, blaffte er in die Runde. Die Fragen erloschen abrupt, als sich die Glastüren zum Eingangsbereich des riesigen Bürogebäudes schlossen.

„Menschen lassen sich so leicht manipulieren. Ein, zwei bedachte Worte und sie fressen einem aus der Hand. Nicht wahr?“

„Sie waren überzeugend wie immer, Sir“, pflichtete ihm Joseph bei und drückte den Knopf zum Aufzug.

„Ich weiß. Aber dieser Möchtegernreporter von der Zeitung liegt mir schwer im Magen. Ich würde zu gern wissen, wie er an diese Informationen gelangen konnte. Ein offizielles Statement wurde weder von mir noch von Amnitec selbst veröffentlicht. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass der Kerl keine Ruhe geben wird. Jemand sollte ihm einen Denkzettel verpassen. Wenn herauskommt, dass ich in den letzten Jahren einige Leute manipuliert habe, um nach und nach an Amitecs Aufträge zu kommen, dann habe ich ein Problem.“

„Soll ich mich darum kümmern?“

„Alles zu seiner Zeit. Ich werde mich der Angelegenheit erst einmal selbst annehmen. Ich kenne da jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldig ist.“

„Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Danke, Joseph. Fürs Erste nicht. Seien Sie nur pünktlich gegen 16 Uhr wieder hier.“

„Sehr wohl. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Der Lift stoppte in der obersten Etage. Die Türen glitten auf und gaben den Blick frei auf ein lichtdurchflutetes, teuer eingerichtetes Büro. Mit bodentiefem Fensterglas und einem opulenten, aus dunklem Holz gefertigten Schreibtisch, der so platziert davor stand, dass man zu jeder Zeit eine freie Sicht auf die Skyline Frankfurts genießen konnte. Rechts daneben stand ein weißer Betonsockel, auf dem eine schwarze Statue thronte. Zwei fest umschlungene Körper, die auf ewig miteinander verbunden schienen. An der gegenüberliegenden Wand hingen zwei überdimensional große, sehr bunte Gemälde, die auf den Normalsterblichen mit Sicherheit keine besonders hohe Wirkung ausgeübt hätten. Wahllose Pinselstriche, ohne jede Bedeutung. „ Chaos in der Ruhe“ stand unter einem der Bilder geschrieben. Eine durchaus zutreffende Floskel. Jedenfalls auf seinen bemerkenswert erfolgreichen Lebensstil bezogen. Er spürte das Vibrieren seines Handys in der Innentasche, zog es hervor und nahm das Gespräch entgegen.

„Guten Morgen“, sagte er sanft und ohne Umschweife.

„Die Party steigt heute Abend. Ich hoffe doch, du wirst anwesend sein?“

„Um nichts in der Welt werde ich mir das Ereignis entgehen lassen.“ Er hob einen Mundwinkel, während er zufrieden auf die Dächer schaute.

„Es wird viel Aufsehen geben.“

„Wahrscheinlich, ja.“

„Ich …“

Er hörte einen kurzen Seufzer. „Du hast Zweifel?“

„Nein. Nicht, was uns betrifft.“

„Aber?“

„Es ist nur … was ist, wenn alles auffliegt, noch bevor es begonnen hat? Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Erik betrifft. Außerdem …“ Wieder eine kleine Pause. „Es wäre mir einfach lieber, wenn du jemanden mit etwas mehr Erfahrung für diesen Job eingeteilt hättest.“

Er lachte leise auf. „Du machst dir zu viele Gedanken. Ich dulde keine Fehler, das weißt du. Bereits morgen beginnt für dich ein neues Leben. Du wirst sehen.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Mir geht es ebenso.“

„Ich würde mich nur besser fühlen, wenn wir bereits alles hinter uns hätten.“

„Sei nicht ungeduldig. Schon morgen um diese Zeit komme ich dich holen, versprochen.“

„Dann sehen wir uns heute nicht mehr?“

Er hörte die Enttäuschung gepaart mit Nervosität in der Stimme.

„Nun, vielleicht lasse ich mich ja doch noch umstimmen und komme auf ein Tänzchen vorbei. Wer weiß das schon.“

„Ich will dich zu nichts überreden, was du nicht möchtest. Verzeih mir, wenn ich dich bedrängt haben sollte.“

„Es gibt nichts zu verzeihen. Wenn ich Lust auf das Spielchen habe, dann tue ich das aus freien Stücken.“ Seine Stimme wurde sinnlicher. „Du bist stark und ich vertraue dir. Aber wenn du dich besser fühlst, werde ich kommen.“

„Womit habe ich dich nur verdient?“

„Du wirst noch genügend Zeit haben, das herauszufinden. Aber jetzt habe ich noch etwas zu erledigen. Und du musst dich vorbereiten. Ich denk an dich. Immer. Und ich rufe dich an, wenn die Zeit reif dazu ist.“

„Danke. Das bedeutet mir sehr viel.“

„Du bedeutest mir sehr viel. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Freitag, 04. Mai, 20 Uhr 11

Chris eilte über den Parkplatz hinüber zum Praxiseingang, dessen Türen in einem ehemaligen Scheunentor eingefasst waren. Sie mühte sich mit einer Hand und ihrem Schlüsselbund ab. Unter dem anderen Arm trug sie eine große Schüssel mit dem von Anni gewünschten Nudelsalat. Sie hatte sich etwas verspätet und das stank ihr gewaltig. Denn Unpünktlichkeit war eigentlich überhaupt nicht ihr Ding. Vor der Tür angekommen fand sie endlich den richtigen Schlüssel, der sich aber zwischen zwei weiteren verkeilt hatte.

„Komm schon …“, murrte sie genervt und schüttelte den Bund so lang hin und her, bis sich der von den anderen löste. „Mann!“

Chris drückte ihn in das Schloss, als sich die Eingangstür wie von selber öffnete. Anni stand im Türrahmen und trocknete sich gerade die Hände mit einem Geschirrtuch ab.

„Alles in Ordnung?“

„Tut mir leid. Ich hab mich etwas verspätet.“

„Jetzt bist du da und das ist alles, was zählt.“

Sie machte einen Satz nach vorne und zog Chris so fest an sich, dass sie fast die Schüssel hätte fallen lassen.

„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte sie ihr ins Ohr und verpasste ihr in ihrer gut gelaunten Art einen Boxhieb auf den Oberarm.

„Aua! Spinnst du? Das tat weh.“

„Du wirst es überleben“, spottete sie. „Geh doch schon mal nach hinten. Der Boss ist schon im Garten und lässt die Kohlen heiß laufen. Ich komme mit dem Geschirr sofort nach.“

„Und die anderen beiden?“

„Auch gleich so weit. Patrick versorgt noch schnell einen unserer neusten Stationsgäste und Julia hilft ihm.“

„Ach so. Soll ich schon mal etwas mit nach hinten nehmen?“

„Mhhhh … Mal überlegen …“ Anni tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

„Du bist da, der Nudelsalat natürlich. Nö. Alles bestens!“

„Sehr witzig, Fräulein Winter.“ Chris drehte sich um und ging in Richtung des kleinen Gartentores, das direkt an das Ende des Gebäudes angrenzte. Der Kies unter ihren Füßen gab bei jedem ihrer Schritte nach und ließ ein rasselndes Geräusch ertönen.

Am Zaun angekommen drehte sich Chris um und drückte das Tor mit ihrem Hinterteil schwungvoll auf. Grundsätzlich war es so gut wie nie verschlossen. Dafür gab es auch keinen Grund, denn das ganze Anwesen lag so weit abseits von der Straße, dass sich nur Patientenbesitzer oder Freunde und Bekannte der Bergers hierhin verirrten. Sie ging den schmalen Trampelpfad entlang und achtete dabei akribisch genau darauf, wo sie hintrat, um nicht ins Straucheln zu geraten. Der Weg war übersät mit kleinen Wurzeln und anderen Hölzern, die von den umliegenden Obstbäumen stammten. An ihrem Lieblingsbaum angekommen gönnte sich Chris einen Augenblick der Ruhe und schwelgte in Gedanken. Hier hatte sie schon als Kind viele schöne und unbeschwerte Stunden zusammen mit Maximilian und Tobi verbringen dürfen. Sie würde niemals den Tag vergessen, an dem Nik und sein kleiner Sohn in ihr Leben getreten waren.

20 Jahre zuvor

Heute war der erste Schultag und Chris wurde der Platz neben Maximilian zugeteilt. Jeder Schüler durfte sich nun vorstellen und etwas über sich und seine Familie erzählen. Irgendwann war auch ihr Tisch an der Reihe. Max nannte seinen Namen. Er erzählte über seine Hobbys und fügte voller Stolz hinzu, dass sein Papa der hiesige Tierarzt war. Auf die Frage hin, was sein Vater den ganzen lieben langen Tag so erlebte, ratterte Max eine Reihe der lustigsten Geschichten herunter.

Chris hing an seinen Lippen, war geradezu fasziniert von seinen Ausführungen und wünschte sich auch so einen Papa. Nun war sie an der Reihe. Sie nannte ihren Namen, ihr Alter und die Lehrerin fragte, ob sie auch etwas über ihre Eltern erzählen wolle.

„Meistens verbringe ich die Zeit bei meiner Tante, da meine Eltern tagsüber oft schlafen.“

„Dann müssen deine Eltern aber einen harten Beruf haben, wenn sie nachts arbeiten. Sind deine Eltern vielleicht auch Ärzte? Bestimmt arbeiten sie im Krankenhaus, richtig?“, forschte sie weiter nach.

„Nein.“ Chris schüttelte entschlossen den Kopf. „Tante Doris sagt immer, dass sie von Berufswegen Alkoholiker sind.“

„Was soll denn das für ein Beruf sein?“, ätzte ein Mädchen aus der hinteren Reihe. Die Lehrerin war fassungslos und rang um Selbstbeherrschung. Ihr dummes Gesicht würde sich auf ewig in Chris‘ Gedanken einbrennen. Da sie nicht wusste, wie sie mit der peinlichen Situation umgehen sollte, entschied sie kurzerhand, nicht näher darauf einzugehen, und nahm den nächsten Schüler an die Reihe. Chris war unendlich wütend und traurig zugleich. Sie sollte erst sehr viel später verstehen, was ihre Worte bedeutet hatten. Sie merkte nicht einmal, dass Max voller Neugier ihren Ausführungen gelauscht hatte. Nie zuvor hatte er von so einem Beruf gehört und konnte es kaum erwarten, mehr darüber zu erfahren.

„Ist bestimmt richtig wichtig, was deine Eltern machen“, flüsterte er ihr ins Ohr, und sie fühlte sich gleich besser. Nach Schulschluss verließen sie gemeinsam das Gebäude. Nik stand bereits auf dem Schulhof und wartete auf seinen Jüngsten.

„Schau, Chris. Da hinten. Das ist mein Papa. Los, ich zeig ihn dir.“

„Ich muss aber nach Hause …“

„Ach, komm schon. Nur ganz kurz.“

Im Nachhinein war sie einfach nur dankbar für seine Hartnäckigkeit, denn sonst wäre ihr Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Max watschelte voran, wobei der übergroße Tornister auf seinen Schultern hin und her schaukelte.

„Hallo, Papa!“

„Na, wie war der erste Tag?“

„Gut.“

„Und du hast schon jemanden kennengelernt, wie ich sehe.“

Chris war Max gefolgt und hatte zu ihnen aufgeschlossen. Voller Respekt blickte sie zu dem großen Mann hinauf. Er war schlank und durchtrainiert, hatte dunkelbraunes, glänzendes Haar und in seinen Augen lag ein warmherziger Blick.

„Ja. Stell dir vor, ihre Eltern haben einen total wichtigen Beruf. Die müssen immer nachts arbeiten.“

„Aha. Und was genau machen deine Eltern?“

„Die sind ... ähm … bei den ... ähm … Allo… Allo…“ Er drehte sich zu ihr um. „Wie heißt das noch mal?“

„Alkoholikern.“ Auch den konsternierten Gesichtsausdruck ihres späteren Mentors würde Chris niemals vergessen.

Nach einer kurzen Pause räusperte er sich und fragte: „Wirst du nicht abgeholt?“

„Nein. Aber es ist nicht weit. Ich laufe immer.“

„Tja. Heute nicht. Du kannst mit uns fahren.“

„Ich darf aber nicht mit Fremden mitgehen. Hat mir meine Tante beigebracht. Und sie wäre bestimmt sehr böse auf mich, wenn ich mich nicht daran halte.“

„Womit du absolut recht hast.“ Nik ging vor ihr in die Hocke und hielt ihr seine rechte Hand hin.

„Da die Knalltüte da versäumt hat, uns miteinander bekannt zu machen, hole ich das jetzt nach.“

„Ey! Selber Knalltüte!“

„Ich bin Nikolas. Und wer bist du?“, fragte er sanft.

„Ich heiße Christin, aber du darfst mich Chris nennen“, gab sie frech zurück.

„Nett, dich kennenzulernen, Chris.“ Er schüttelte ihre kleine Hand.

„Na ja. Und die Knalltüte da kennst du ja bereits.“

„Boah, Papa! Du bist so peinlich!“

„So! Und nun sind wir nicht mehr fremd und du kannst mit uns fahren. Oder was meinst du?“ Nik stand wieder auf und lächelte auf sie herab.

„Ich glaube, das stimmt wohl.“

„Na, dann los!“

Sie gingen gemeinsam zu seinem Auto hinüber. Nik öffnete die hintere Tür seines VW Busses.

„Die Herrschaften, darf ich bitten!“

Max sprang als Erster hinein, gefolgt von Chris. Sie hatte bis dahin noch nie in einem so großen Auto gesessen.

„Dein Papa ist lustig!“, flüsterte sie Max ins Ohr und musste kichern. Nik stieg vorne ein und schaute in den Rückspiegel.

„Sagst du mir noch, wo wir hinmüssen?“

„Ja. Die Straße rauf und dann rechts.“

„Alles klar. Los geht’s.“

Bereits wenige Minuten später parkte Nik den saphirblauen VW vor dem Haus, in dem Chris die meiste Zeit bei ihrer Tante Doris verbrachte. Inmitten einer heruntergekommenen Wohnsiedlung. Alle Häuser versprühten den gleichen ungepflegten Charme, der einer Müllhalde gleichkam. Der graue Außenputz bröckelte überall von den Wänden. In einzelnen Vorgärten, sofern man überhaupt davon sprechen konnte, standen alte, verrostete Campingmöbel. Umringt von umgefallenen oder zerschlagenen Bierflaschen. Definitiv nicht der passendste Ort für ein Kleinkind. Aber sie kannte nichts anderes. Es war das normale Leben. Ihr normales Leben.

Nik stieg aus und öffnete die Schiebetür, damit sie aussteigen konnte.

„Hier wohnst du also?“ Seine Miene war unergründlich.

„Ja. Meistens“, sagte sie zögerlich. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass er böse auf sie war. Aber warum bloß? War sie zu frech gewesen? Mit gesenktem Kopf hüpfte sie von der Rückbank.

„Danke fürs Nachhausebringen.“ Plötzlich hatte sie Angst, Maximilians Vater in die Augen zu blicken. Sie vergeudete keine Zeit und schlenderte davon.

„Hey! Warte mal.“

Erschrocken zuckte sie zusammen. Nik stand mit ausgestrecktem Arm an seinem Wagen und schaute sie über das Dach hinweg mit einem sanften Lächeln an.

„Du hast was vergessen.“ Mit der anderen Hand hielt er ihren bunten Tornister in die Höhe. Aber sie rührte sich nicht und blickte weiter zu Boden. Nik spürte, dass sich etwas in dem kleinen, blonden Mädchen verändert hatte. Er folgte ihr auf dem schmalen, betonierten Weg, an dem das Unkraut rechts und links schon längst die Oberhand gewonnen hatte. Vor ihr angekommen, verlagerte er sein Gewicht auf das rechte Knie und schaute in ihre traurigen Augen.

„Außerdem dachte ich, du wolltest uns deiner Tante vorstellen. Jetzt, da wir doch keine Fremden mehr für dich sind.“

Sein Lächeln wirkte ansteckend und mit einem Male war die Keckheit der kleinen Christin zurückgekehrt. Sie nickte begeistert und reckte sogleich ihren Arm in die Höhe, um an die richtige Türklingel zu gelangen. Als der Summer ertönte, drückte Chris die dreckige Haustür mit ihren kleinen Händen auf und sprang in den Hausflur.

„Max! Komm schon“, rief Nik seinem Sohn zu, der die Szene aus dem Seitenfenster des Busses beobachtet hatte. Schmollend stieg er aus und drückte die Schiebetür zu.

„Ich habe Hunger, Papa“, sagte er verstimmt.

„Sei nicht so unhöflich, alter Griesgram.“

„Ich habe noch Kekse!“, verkündete Chris stolz, und Max‘ Miene erhellte sich schlagartig.

Vor der Haustür im ersten Stock angekommen, öffnete eine hager wirkende Dame, etwa Mitte vierzig, die Tür. Der letzte Friseurbesuch lag schon mehrere Wochen zurück und war mehr als überfällig. Der graue Haaransatz stellte einen krassen Kontrast zum Rest der dunkelrot gefärbten Haare dar und ließ sie noch älter wirken, als sie in Wirklichkeit war. Erschrocken wich sie zurück.

„Hast du etwas angestellt?“

„Nein, nein. Alles in Ordnung. Mein Name ist Nikolas Berger. Das ist mein Sohn Maximilian. Die beiden gehen in die gleiche Klasse. Ich habe mich einfach gewundert, dass sie am ersten Tag niemand abholt, und hab sie mitgenommen.“

„Oh, vielen Dank. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten, als kleine Wiedergutmachung?“

„Wenn es keine Umstände macht, sehr gern.“

„Kommen Sie doch bitte rein.“

Nik war mit ihrer Tante in der Küche verschwunden, während sie mit Max im Wohnzimmer Mau-Mau spielte. Welche Dinge dort in der Küche genau besprochen wurden, sollte Chris nie erfahren. Es war ihr auch egal, aber sie vermutete, dass Tante Doris ihm einiges über ihre Lebenssituation erzählt hatte. Ihr Geld reichte kaum für sich selbst, geschweige denn für zwei. Nik hatte sich spontan bereit erklärt, sie künftig auch weiterhin von der Schule abzuholen, und es dauerte nicht lang und schon bald ging Chris bei den Bergers ein und aus.

Und mehr noch. Ihre Eltern scherten sich einen Dreck um ihre Tochter und als man bei Doris Krebs diagnostizierte, nahmen die Bergers, oder besser gesagt Nikolas, Chris ganz bei sich auf. Nicht dass sie mit Claudia irgendwelche Probleme gehabt hätte, aber ihre Beziehung beruhte doch eher auf gegenseitigem Respekt. Sie hatte ihre Einwände durchaus vorgebracht, allerdings Niks Entscheidung und damit auch das kleine blonde Mädchen mit der Zeit akzeptiert.

Tobias kam erst einige Zeit später dazu. Er war mit seinen Eltern aus dem Norden hierher ins Sauerland gezogen. Sie verstanden sich auf Anhieb und immer dann, wenn Nik Tante Hannah auf dem Hof zur Hand ging, durften alle mit. Fortan waren sie die „gemeine Hofbande“.

Eines Tages kam Max auf die Idee, einen bestimmten Baum als Ausguck zu benutzen. Er stieg hinauf, als plötzlich ein Ast unter seinen Füßen wegbrach. Beim Sturz hatte er sich den Arm gebrochen. Nik war gerade damit beschäftigt, einen neuen Holzpfahl in die Erde zu schlagen, als er von dem Geschrei seines Sohnes aufgeschreckt wurde. Er eilte herbei, begutachtete den Schaden und fuhr mit Max ins Krankenhaus.

Sie und Tobi blieben zurück und fühlten sich hundeelend. Daran konnte auch Hannahs heißer Kakao mit Sahne nichts ändern. Bald schon waren Vater und Sohn wieder zurück und Max präsentierte stolz seinen Gips, auf dem sie sich als Erste verewigte. Die nachträgliche Standpauke kam zwar spät, aber sie kam, und seither hatte niemand von ihnen auch nur einen Fuß auf einen dieser Bäume gesetzt.

Das war nun gut zwanzig Jahre her, doch ihre Freundschaft hatte bis heute Bestand. Zumindest zu Max. Ihre Gefühle und Zuneigung zu Tobias hatten sich erst viel später eingestellt. Mit der flachen Hand gab sie der Rinde noch einen Klaps und wandte sich um, ohne jedoch den Weg fortzusetzen.

Nik stand gut zehn Meter entfernt von ihr am Grill und stocherte gedankenversunken in der Glut umher. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Bier, aus der er hin und wieder einen Schluck trank. Den grünen OP-Kasack hatte er gegen ein frisches Shirt und eine graue Kapuzenjacke mit der weißen Aufschrift Abercrombie & Fitch eingetauscht. Es war ein Weihnachtsgeschenk seines Sohnes und Chris mochte diesen Hoody sehr an ihm. Bei dem Gedanken verstand sie endlich, wie allein er sich in den letzten Wochen gefühlt haben musste. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie eigentlich vorgehabt, unter irgendeinem Vorwand nicht hier sein zu müssen. Doch jetzt, als sie sah, wie verloren er wirkte, kam es ihr gut und richtig vor, der Einladung gefolgt zu sein.

Was war nur aus diesem immerwährend glücklichen und positiv denkenden Menschen geworden? Wieder überkam sie das schlechte Gewissen, nur an ihre Probleme gedacht zu haben, und war sofort sauer auf sich und ihren verdammten Egoismus. Anni hatte recht. Die Ablenkung konnte ihm nur guttun. Und ihr wohl auch, zumindest hoffte sie das.

Nik nahm einen letzten Schluck und stellte die leere Flasche auf den kleinen Tisch direkt neben dem Grill ab. Dann drehte er sich mit dem Rücken zu ihr, stopfte seine Hände in die Jeans und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Chris beschloss, ihr kleines Versteck aufzugeben und sich zu zeigen. Sie ging den kleinen unauffälligen Weg weiter hinüber zur Terrasse.

Dieser Teil des Gartens erschien immer sehr gepflegt, wenngleich die Beete schon bessere Tage gesehen hatten. Sie nahm sich vor, in der kommenden Woche einfach neue Blumen zu pflanzen und den Rest vom Unkraut zu befreien. An dem großen Tisch angekommen stellte sie den Nudelsalat in der Mitte ab. Etwas abseits, mehr im Schatten gelegen, entdeckte sie einen Kasten mit gemischten Getränken. Sie nahm für sich ein Radler und eine weitere Flasche Bier für Nik heraus. Dann drehte sie sich wieder zu ihm um und ihr Herz fühlte sich schwerer denn je an. Nik stand unverändert da und hatte immer noch keine Notiz von ihr genommen. Sie ging zu ihm hinüber und reichte ihm die Flasche.

„Salut!“, sagte sie und hielt ihm ihre Flasche entgegen. „Auf dich.“

„Danke.“ Er lächelte sie freundlich an und ließ seine Flasche gegen ihre gleiten, sodass ein klangvolles Geräusch entstand. Minutenlang standen sie nebeneinander und schauten über die Wiesen und Wälder seines riesigen Anwesens. Bis auf das gelegentliche Knistern der Holzkohle und den aufgebrachten Gesang einer Amsel war rund um den Hof kaum etwas anderes zu hören.

„Ich hab ehrlich gesagt gar nicht mit dir gerechnet“, unterbrach er plötzlich die Stille und betrachtete sie eindringlich.

„Ich wurde genötigt“, überspielte sie die Bemerkung und fügte noch hinzu. „Ich hoffe doch, du hast trotzdem noch etwas Essbares für mich eingeplant?“

„So viel du willst.“

Er wandte sich wieder von ihr ab und seine Miene wurde ernster.

„Chris?“

„Mhh?“

„Ich wollte dich etwas fragen.“

„Schieß los.“

„Könntest du dir vorstellen, wieder mehr für mich zu arbeiten? Anni würde sich über etwas mehr Unterstützung bestimmt sehr freuen. Ich im Übrigen auch.“

„Das kommt jetzt sehr überraschend. Ich ...“

„Du musst das nicht sofort entscheiden. Es ist nur so …“ Er schaute sie wieder an. „Ich denke einfach, Tobias hätte nicht gewollt, dass du aufhörst zu leben. Es ist an der Zeit, loszulassen. Findest du nicht?“

Chris hielt inne, schlug die Arme übereinander und schaute ihn vorwurfsvoll an.

„Sag mal, nimmst du dir deine Ratschläge manchmal auch selber zu Herzen?“ Sie klang schroffer als eigentlich beabsichtigt, aber er tat es schon wieder. Er stellte seine eigenen Probleme und Bedürfnisse zurück, nur um für sie da zu sein. Damit sie sich besser fühlte. Das machte sie wütend, obwohl dafür ja eigentlich kein Grund bestand. Er meinte es nur gut. Er meinte es immer gut. Aber diesmal sollte er keine Chance bekommen, von sich abzulenken. Chris hatte sich fest vorgenommen, ihn heute aus der Reserve zu locken, aber als sie seinem erschrockenen Gesichtsausdruck begegnete, wurde sie wieder sanfter.

„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht so anfahren. Du hast ja recht. Aber ich bin noch nicht so weit. Im Übrigen …“ Sie bemerkte erst jetzt, wie angespannt sie innerlich war. Ihr ganzer Körper schien vor Unsicherheit zu vibrieren. Sie löste sich etwas von ihm, trat ein Stück zur Seite und überlegte, wie sie am besten anfangen sollte, ohne ihn zu verärgern.

„Ich glaube einfach, jetzt wäre mal der ideale Zeitpunkt, über dich zu sprechen. Darüber, was in letzter Zeit mit dir los ist.“ Sie wandte sich langsam zu ihm um und wartete auf eine Reaktion. Er hob eine Augenbraue.

„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ach bitte, Nik. Du hast wirklich viele Talente. Schauspielerei gehört nicht dazu.“

„Touché!“ Er hielt sich eine Hand vor die Brust und wirkte belustigt. „Ich dachte wirklich, ich hätte es drauf.“ Er machte einen Schmollmund, aber seine Heiterkeit erreichte seine Augen nicht. Sie wusste, was er vorhatte. Nämlich von seiner eigenen Unsicherheit abzulenken.

„Bitte, tu das nicht.“

„Was?“

„Hör auf, dich immer verstellen zu wollen. Du läufst schon seit einiger Zeit neben der Spur. Und außerdem …“, sie blickte wieder verlegen zur Seite, „... weiß ich ohnehin schon längst Bescheid. Anni hat mir gesagt, dass du Streit mit Claudia hattest. Schon wieder.“

Ein Muskel in seinem Kiefer fing gefährlich an zu zucken und Chris hatte Angst, zu weit gegangen zu sein.

„Konnte ich mir ja denken, dass da jemand seinen Mund wieder nicht halten konnte“, presste er hervor.

„Das ist nicht fair von dir. Sie macht sich auch nur Sorgen, genau wie wir alle. Wir wollen dir doch nur helfen. Aber du lässt seit Wochen keinen an dich heran. Es ist, als wenn du zwischen zwei Welten pendelst.“

„Ich weiß …“ Er atmete tief durch.

„Bitte, sei nicht wütend auf Anni.“

„Bin ich ja nicht.“

„Dann rede endlich mit mir. Wie schlimm ist es diesmal?“ Chris ließ ihn jetzt nicht mehr aus den Augen.

„Ich gehe davon aus, dass unsere Ehe beendet ist.“

Er wandte sich von ihr ab und trank einen weiteren großen Schluck von seinem Bier. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, ein Aufblitzen in seinem Augenwinkel ausgemacht zu haben, war sich aber nicht sicher.

„Weiß Max schon davon?“

„Nein, und dabei will ich es auch erst mal belassen. Noch ist nichts entschieden.“

„Meinst du nicht, er hat ein Recht darauf, es zu erfahren?“

„Dafür bleibt noch genug Zeit. Können wir vielleicht wieder über etwas anderes reden?“

Hilfesuchend wandte er sich zu ihr um. Chris merkte, dass er sich unwohl in seiner Haut fühlte. Er war es einfach nicht gewohnt, dass ihn jemand so derart bedrängte, um Einblick in seine Gefühlslage zu bekommen, aber etwas in ihr sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war, ihn zu erreichen.

„Nik, ich versteh es nur nicht. Du und Claudia, ihr wirktet schon lange nicht mehr wie ein glückliches Paar. Es schien dir bis vor Kurzem noch nicht einmal etwas auszumachen, dass sie sich eine eigene Wohnung genommen hat. Was hat sich verändert?“

Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorne fallen.

„Du gibst nicht auf, oder?“

„Nein.“

„Na schön. Es stimmt. Viel Gemeinsames hat uns wirklich nicht mehr miteinander verbunden. Aber es stimmt nicht, dass es mir nichts ausgemacht hat, als sie fortgegangen ist. Ich habe es nur irgendwie ... na ja … einfach hingenommen und mir höchstwahrscheinlich auch selber etwas vorgemacht. Letzte Woche wurde mir die Stille im Haus dann einfach zu viel. Ich hatte das Gefühl, vor Einsamkeit zu ersticken. Stundenlang habe ich auf den Sandsack eingeschlagen, aber es half nicht. Dann beschloss ich, mich ins Auto zu setzen und zu ihr zu fahren. Ich wollte einfach mal wieder vernünftig mit ihr reden. Sie bitten, wieder nach Hause zu kommen. Job hin oder her.“ Mühsam öffnete er seine Augen und blickte gequält auf sein Bier.

„Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung hatte ich mir genau zurechtgelegt, was ich ihr alles sagen wollte. Alles, was ich ihr schon viel früher hätte sagen sollen. Verdammt, ich habe einen Großteil meines Lebens mit dieser Frau verbracht. Das wollte ich nicht einfach so wegwerfen.“

„Verständlich. Euch nur noch getrennt zu sehen, ist auch für mich ein komisches Gefühl. Aber es geht dir schon einige Zeit sehr schlecht. Du weißt doch, dass du auch mal zu mir hättest kommen können?“

„Um genau was zu tun? Dir mit meinem Gejammer die Abende zu verderben?“

„Ich dachte, genau dafür ist Familie da“, gab sie kleinlaut zurück und schaute verstohlen zu Boden. Nik seufzte und zog sie unvermittelt in seine Arme.

„Bitte, Chris. So war das nicht gemeint. Es ist nur ...“, er drückte sie noch etwas fester an sich, „ich kann mich im Augenblick selber nicht leiden. Das hast du selber gerade gesagt. Ich will meinem Umfeld nicht noch mehr auf den Geist gehen, als ich es ohnehin schon tue.“

Sie löste sich ein wenig und ihre Miene wurde eine Spur sanfter. „Wer, wenn nicht ich sollte das besser nachvollziehen können.“ „Ich gehe meinem Umfeld schon viel länger auf die Nerven.“

„Meine Kleine. Was soll ich nur mit dir machen?“

„Ich hatte dich unterbrochen.“ Sie ließ sich fallen und zog Nik mit sich. Nun saßen beide im Schneidersitz auf dem Rasen. „Erzähl mir, was dann passiert ist.“

„Ich rief sie von unterwegs an, aber sie war nicht zu Hause. Also entschied ich, einfach vor dem Haus im Auto auf sie zu warten.“

Wieder machte er eine Pause und trank einen Schluck.

„Ich habe über eine Stunde gewartet, wollte schon wieder nach Hause. Dann tauchte sie auf. Diesen Typen im Schlepptau. Sie lachten, wirkten sehr vertraut miteinander und ich dachte, jemand reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte den Anblick kaum ertragen.“

„Aber das allein muss noch lange nichts zu bedeuten haben.“ Chris legte den Kopf schief. „Oder doch? Das war noch nicht alles, stimmt‘s?“

Er zuckte mit den Achseln. „Nein, im Großen und Ganzen war‘s das. Nur eine Sache will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“ Er trank einen weiteren Schluck und spürte, wie sie ihn weiter beobachtete.

„Er hat mich gesehen. Claudias Begleitung, meine ich. Hat mich direkt angeschaut, mich provokativ angegrient und mir zugenickt. Er wusste ganz genau, wer ich bin, und in diesem Moment hab ich begriffen, dass ich verloren habe.“

„Und du bist ausgestiegen und ihr habt euch wieder gestritten.“

„Nein. Dazu kam es gar nicht. Hab Gas gegeben und einen Teil meiner Reifen auf dem Asphalt gelassen. Höchstwahrscheinlich muss ich die beiden ganz schön erschreckt haben. Ich vermute, Claudia hat mein Kennzeichen gesehen und eins und eins zusammengezählt. Am nächsten Tag hat sie mich angerufen und mir die Hölle heißgemacht. Sie warf mir vor, ich würde ihr hinterherspionieren und ihr kaum Luft zum Atmen geben.“

„Und du glaubst, dass sie damit recht hat?“

„Nein, es war nur ein dummer Zufall. Ich denke, sie fühlte sich einfach nur ertappt. Anfang der Woche kam sie dann plötzlich zu mir und die Auseinandersetzung ging in Runde zwei. Das war der Streit, den Anni mitbekommen hat.“

„Hast du sie auf den Typen angesprochen?“

„Natürlich. Angeblich nur ein guter Bekannter, mit dem sie was trinken war.“

„Aber das glaubst du nicht?“

„Nein, Chris. Ich bin nicht naiv. Die Botschaft war unmissverständlich.“

„Und dennoch, Nik. Du kannst dir da nicht sicher sein. Versteh mich nicht falsch. Ich will sie keineswegs in Schutz nehmen, aber du solltest ihr noch eine Chance geben. Sprecht miteinander, am besten auf neutralem Gebiet. Ruf sie an und lad sie zu eurem Lieblings-Italiener ein.“ Sie gab ihm kurz Zeit, darüber nachzudenken. „Weißt du, ich hatte nie wirklich diese Beziehung zu ihr, wie wir beide sie haben. Aber trotzdem ist Claudia auch Bestandteil meines Lebens. Ergo habe ich auch ihr zu verdanken, dass aus mir ein normaler Mensch geworden ist.“ „Mehr oder weniger.“ „Ruf sie an, Nik.“

„Das ist nicht nötig. Claudia kommt später noch vorbei … Dann sehen wir weiter.“ Wieder wandte er sich hilfesuchend zu ihr um. „Bitte, Chris, lass es gut sein. Wenigstens für die nächsten Stunden. Ich muss mal eine Pause einlegen.“

„Also schön.“ Sie legte eine Hand auf seiner Schulter ab. „Danke, dass du dich mir anvertraut hast“, sagte sie nun sichtlich entspannter und lehnte ihren Kopf an seinen Oberarm. Nik drückte ihr einen innigen Kuss auf den Scheitel.

„Ich danke dir, dass du mich dazu genötigt hast.“

„Gern geschehen. Nur eins noch.“

„Mhhh?“

„Glaub ja nicht, dass unser Gespräch damit schon beendet ist. Du bekommst nur ein bisschen Zeit zum Verschnaufen, verstanden?“

„Verstanden. Und jetzt lass uns dafür sorgen, dass wir gleich etwas Essbares auf die Teller bekommen.“ Er erhob sich und zog Chris mit sich auf die Beine.

„Ich helf dir, warte.“ Chris schlenderte zurück zum Terrassentisch und griff nach dem Servierteller, als sie hinter sich Annis Stimme hörte.

„Die Party kann losgehen! Sind die ersten Würstchen schon fertig? Ich habe einen Bärenhunger.“

„Oh, mal was ganz Neues“, antwortete Chris, schaute über ihre Schulter und sah, dass sich auch Patrick und Julia dazugesellt hatten.

„Hey, regelmäßige Mahlzeiten sind sehr wichtig.“

„Wo sie recht hat …“, pflichtete Nik ihr bei. Er hielt seine flache Hand über den Grillrost, um die Hitze der Kohlen besser einschätzen zu können.

„Ich denke, wir können was drauflegen. Chris, bring bitte noch die Zange mit.“

Er richtete sich auf und sah überrascht, dass sie bereits wieder vor ihm stand. Allerdings hatte sie keine Zange in der Hand, sondern hielt ihm eine gelbe Geschenkbox mit einer schwarzen Schleife darauf hin.

„Was ist das?“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir deinen Geburtstag einfach so übergehen würden, oder?“, scherzte Patrick. „Wir wollten es dir eigentlich schon am Mittwoch geben, aber wir dachten, der Zeitpunkt wäre heute passender. Also, pack schon aus.“

Erstaunt nahm er das Geschenk entgegen, blickte aber etwas unsicher in die Runde.

„Während Sie auspacken, leg ich schon mal was auf den Grill, ja?“ Anni griff bereits nach dem ersten Stück Fleisch, wurde aber von Chris am Ärmel zurückgezogen.

„Iss ein Stück Brot und gib Ruhe“, mahnte sie, und gemeinsam beobachteten sie gespannt, wie Nik die Schleife öffnete und den Deckel von der Box ab nahm. Er griff hinein und holte ein rechteckiges Stück Papier heraus, welches er aufmerksam begutachtete. Wie vom Blitz getroffen hielt er inne und richtete seinen Blick in die Runde.

„Habt ihr den Verstand verloren?“

„Ähm, na ja … wir ... arbeiten … für … Sie? Also ja, ich denke, ganz dicht sind wir wirklich nicht, oder?“ Chris verpasste Anni einen Seitenhieb mit dem Ellbogen.

„Au, verdammt!“

„Wir hatten alle das Gefühl, ein Tapetenwechsel würde dir mal ganz guttun“, warf Patrick ein.

„Und als die Paarung für das Finale feststand, hat unser lieber Dr. Weimer seine Beziehungen spielen lassen und noch eine Karte für dich besorgt. Du fährst also zum Pokalfinale nach Berlin“, fügte Chris hinzu.

„Und ich fang an zu grillen.“

„Anni!“, schallte es im Chor.

„Was denn? Bin ich denn die Einzige, die hier vor Hunger umkommt?“

„Aber ich habe Notdienst.“

„… den ich für dich übernehme. Und du kannst deine neue Karre mal so richtig einfahren.“ Patrick verschränkte die Arme vor der Brust und genoss es sichtlich, seinen Chef so richtig sprachlos zu erleben.

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Er hielt seine Karte fest in beiden Händen und betrachtete diese immer noch eher ungläubig.

„Moment, bevor ich es vergesse …“ Patrick zog einen weiteren verpackten Gegenstand aus seiner Jacke.

„Damit du auch standesgemäß dort aufläufst. Nochmals alles Gute zum Geburtstag.“

Nik schüttelte den Kopf und öffnete eine Seite des Geschenkpapieres. Mit zwei Fingern zog er einen rot-blauen Fan-Schal des FC Bayern München heraus und hielt diesen etwas skeptisch in die Höhe.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“ Anni ließ die flache Hand gegen ihre Stirn prallen. „Sag mir nicht, dass du dieses Ding da gekauft hast. B für Borussia, nicht für Bayern. Ich glaub es einfach nicht, was für ein Holzkopf.“

Amüsiert warf Patrick seinen Kopf in den Nacken und fing herzhaft an zu lachen. In der anderen Hand baumelte ein schwarz-gelber Schal mit der Aufschrift „Dortmunder Jungs“. „Ein kleiner Scherz, den ich mir nicht verkneifen konnte. Das ist mein Schal.“

„Im Ernst? Ich wusste ja immer, dass du ein dunkles Geheimnis hast.“

„Ich hoffe wirklich, dass du einen tollen Tag hast, aber gewinnen werden leider nur die Bayern. Sorry, Chef.“

Nik zog einen Mundwinkel nach oben.

„Abwarten, mein Freund. Die Jungs haben noch nie verloren, wenn ich im Stadion war.“

„Irgendwann ist immer das erste Mal.“

„Und bevor die Herren sich noch die Köpfe einschlagen, wie wär‘s mit essen?“ Das erste Steak fiel auf den Grillrost und augenblicklich ertönte ein zischendes Geräusch. Triumphierend hob Anni die Grillzange in die Höhe.

„Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll. Das ... das ist wirklich der Hammer.“

„Schon okay. Hab einfach 'ne schöne Zeit.“ Chris zwinkerte ihm mit einem Auge zu.

„Danke. Wirklich. Dank an euch alle. Und damit meine ich nicht nur das hier“, sagte Nik und hielt die Eintrittskarte in die Höhe. Auch ohne weitere Ausführungen wussten alle, was gemeint war. Das war eben seine Art, sich bei ihnen für sein Verhalten der letzten Wochen zu entschuldigen. Ein Augenblick der Ruhe und Wärme legte sich über sie nieder und vergessen waren all die Spannungen, die sich zuletzt aufgebaut hatten.

„Gern geschehen, Chef. Über die Gehaltserhöhung sprechen wir dann später, ja?“

„Übertreib es nicht, Dr. Weimer. Und jetzt lasst uns essen.“

„Mir gehört das erste Stück Fleisch.“

„Oh, Anni.“

Freitag, 04. Mai, 22 Uhr 16

Angespannt ließ Tom seine Zeigefinger rhythmisch gegen das Lenkrad prallen, ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum ein Auge zugetan. Seiner Großmutter ging es zum Glück gut. Noch, denn er wusste, dass sie von da an unter ständiger Beobachtung standen.

Der Hausarzt hatte gute Arbeit geleistet und nach ihrem Gespräch sofort alle notwendigen Schritte eingeleitet, um schnellstmöglich den so dringend benötigten Platz in einem adäquaten Pflegeheim zu sichern. Dass man ihn bereits zwei Tage später vergeblich versucht hatte zu kontaktieren, hatte Tom überhaupt nicht gewusst. Wahrscheinlich hatte einer seiner dämlichen Kollegen die Nachricht einfach nicht weitergeleitet. Zum Glück gab er für solche Notfälle immer auch die Nummer seiner Nachbarn, Heinz und Gerda, an. Die beiden waren Gold wert und mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Sie hatten sich gekümmert und Granny bereits am Nachmittag in die Einrichtung gebracht. Als er nach diesem für ihn noch immer völlig unfassbaren Vorfall zurück in seine Wohnung kam, wäre er vor Sorge beinahe durchgedreht. Sie war leer und von Granny nirgends eine Spur. Sein Herz raste wie verrückt und beruhigte sich erst wieder, als Gerda in der Tür stand und ihm die guten Nachrichten überbrachte.

Er hätte eigentlich erleichtert sein müssen, doch kurz nachdem sie gegangen war, fand er das Foto mit einer weiteren Nachricht für ihn auf dem Küchentisch. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich jemand Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte und dass es ab jetzt keinen Ort mehr zu geben schien, an dem sie sicher waren. „Mein Angebot steht noch.“ … und … „Überleg dir genau, was du tun willst“, hatte auf dem Zettel gestanden, und das Bild zeigte Granny, wie sie friedlich in ihrem Zimmer schlief.

Tom hatte verstanden. Egal was er auch unternommen hätte, dieser Typ war ihm immer eine Nasenlänge voraus. Und die Polizei? Hätte ihm mit Sicherheit auch kein Wort geglaubt. Was hätte er auch schon vorbringen können? Wozu man ihn rekrutiert hatte, wusste er ohnehin erst seit etwa einer halben Stunde. Somit hatte er also keine Wahl gehabt und sich darauf eingelassen, bei diesem Job mitzuwirken. „Ich bin ja nur der Fahrer. Niemand wird zu Schaden kommen.“

Ein Informant hatte Erik gesteckt, dass dieser Juwelier eine größere Menge an teuren Uhren und anderen Schmuckstücken erhalten hatte. „Wir gehen einfach rein, holen die Klunker und verschwinden wieder.“

Er hatte Falk und Erik direkt vor dieser dunklen Gasse aussteigen lassen und danach den schwarzen BMW nur wenige Meter weiter in einer Parkbucht angehalten. „Außerdem sind die ganzen Wertsachen bestimmt versichert. Keiner wird zu Schaden kommen.“ Immer und immer hallte der Satz in seinem Kopf wider. Damit versuchte er sich und sein Gewissen zu beruhigen.

Die Hauptstraße schien wie leergefegt. Lediglich die Ampelanlagen auf der Kreuzung verrichteten präzise ihre Arbeit und das wechselnde Licht der einzelnen Phasen war alles, was noch an Leben erinnerte. Keine Passanten, keine Autos. Und das schon seit geraumer Zeit. Bis jetzt.

Tom erspähte die ihm entgegenkommenden Scheinwerfer eines Wagens. Nervös begannen seine Zeigefinger wieder, gegen das Lenkrad zu klopfen. „Was machen die bloß so lange?“ Das Auto wurde langsamer und ihm drehte sich förmlich der Magen um, als er die blau-weiße Aufmachung mit dem Schriftzug Polizei auf dem Kombi lesen konnte. „Komm schon … fahr weiter.“ Doch der Beamte drosselte weiter die Geschwindigkeit. „Nicht anhalten, bitte nicht anhalten.“ Das Blaulicht wurde eingeschaltet. Der Streifenwagen machte auf der Straße kehrt und kam direkt hinter ihm zum Stehen. „Oh, bitte nicht.“ Seine Karriere als Krimineller war bereits zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Er hörte förmlich die Handschellen klicken. Nur mit Mühe konnte er das Bild in seinem Kopf beiseiteschieben, um sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Tom blickte in den Rückspiegel. Ein Beamter stieg aus, schaute sich kurz um und kam langsam auf ihn zu. „Ganz ruhig. Du wartest nur auf einen Freund, den du hier treffen solltest. Genau. Und dieser Freund scheint dich versetzt zu haben. Sauer. Sei sauer … mach ihm weiß, dass du stinksauer bist.“

In der Hoffnung, den Beamten so von Falk und Erik ablenken zu können, wappnete er sich innerlich auf das Bevorstehende. Dennoch lag eine verstörende Spannung in der Luft. Ein ungutes Gefühl, das sich in seiner Magengrube breit machte und ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Tom bemerkte eine flüchtige Bewegung aus dem Augenwinkel. Noch bevor der Polizist den BMW erreicht hatte, blitzte es einmal in der dunklen Gasse auf und er hörte einen Schuss krachen. Ein zweiter folgte und riss den Beamten von den Füssen. „Oh Gott. Was zur Hölle passiert denn jetzt?“ Nicht mehr imstande zu reagieren, verfolgten Toms Augen das Geschehen durch den Außenspiegel. Weitere Schüsse fielen. Diese wurden von einem zweiten Beamten abgefeuert, der seinem Kollegen zu Hilfe geeilt und ihn hinter den Dienstwagen gezogen hatte.

Dann geschah alles auf einmal. Erik preschte mit ausgestrecktem Arm aus der Gasse und feuerte eine Salve von Kugeln auf den Dienstwagen ab. Scheinwerfer, Blaulicht und der rechte Außenspiegel gingen zu Bruch. Der Lärm war ohrenbetäubend und Tom merkte nicht einmal, dass er seinen Kopf eingezogen und sich die Ohren mit beiden Händen zuhielt. „Das muss sofort aufhören. Bitte, lass sie nicht tot sein.“ Die hintere Seitentür wurde aufgerissen und Falk sprang hinein, gefolgt von Erik, der auf dem vorderen Sitz Platz nahm.

„Fahr los!“, brüllte er. „Mach schon, worauf wartest du?“

Mit zittrigen Händen drehte Tom den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen. Energisch trat er aufs Gas und wuchtete den BMW zurück auf die Straße. Er überquerte die Kreuzung mit viel zu hoher Geschwindigkeit. Das Heck brach aus und nur mit Mühe schaffte es Tom, den Wagen in der Spur zu halten.

„Das war nicht nötig. Ich hatte die Sache im Griff.“ Er merkte nicht einmal, wie hysterisch er klang. „Scheiße, warum musstet ihr den Polizisten töten?“

„Haben wir nicht“, antwortete Falk knapp und schaute durch die Heckscheibe. Tom folgte seinem Blick in den Rückspiegel und sah, wie der Streifenwagen die Verfolgung aufgenommen und gefährlich weit aufgeholt hatte.

„Genau dafür habe ich dich engagiert. Jetzt kannst du zeigen, was du drauf hast.“

Lässig hing Erik in seinem Sitz und lud seine Waffe nach, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie hatten bereits etliche Kilometer hinter sich gelassen. Mittlerweile hatten sich zwei weitere Streifenwagen mit Sirenen dazugesellt und zu dritt folgten sie ihnen konstant. Sie durchquerten das Hönnetal und das Blaulicht der Streifenwagen spiegelte sich in den Felsen und ließ die Steinformationen gespenstisch aufleuchten. Bedingt durch die vielen engen Kurven war es unmöglich, Geschwindigkeit aufzunehmen.

„Da vorne links“, befahl Erik.

„Was zum Teufel ist los mit dir?“, fauchte Tom und lenkte den Wagen in eine scharfe Linkskurve. Wieder brach das Heck aus und wirbelte die Insassen mächtig durcheinander.

„Halt‘s Maul und fahr weiter. Da vorne rechts.“ Tom gehorchte und folgte jeder seiner Anweisungen, ohne überhaupt zu wissen, wohin diese Fahrt führte. Die Straße wurde immer schmaler und ging über eine Anhöhe. Nach wenigen Hundert Metern gelangten sie auf einen Schotterplatz, umringt von einigen Bäumen und Gebäuden. Eine riesige Hofanlage, und in einem der Gebäude brannte noch Licht.

„Das ist eine Sackgasse. Scheiße, Mann. Ich dachte, du kennst dich aus“, schrie Tom und legte den BMW quer, um wenden zu können. Doch es war zu spät. Die Streifenwagen hatten bereits den Platz erreicht und sich in einem Halbkreis aufgestellt. Die Beamten suchten hinter den geöffneten Türen Schutz und zielten mit ausgestreckten Armen in ihre Richtung.

„Stellen Sie den Motor ab und steigen Sie sofort aus“, brüllte einer der Polizisten. „Die Hände da, wo ich sie sehen kann.“

Tom zitterte nun am ganzen Leib und wie betäubt gehorchte er den Anweisungen und drehte den Zündschlüssel zurück.

„Du Idiot. Was machst du?“ Entgeistert starrte Falk ihn vom Rücksitz aus an. Ein Schuss fiel und der Vorderreifen war getroffen.

„Ich sage es nicht noch mal. Aussteigen!“, schrie der Polizist erneut.

„Es ist vorbei.“ „Mein Leben ist vorbei. Vielen Dank dafür.“ Gequält drehte er sich zu Falk um und funkelte ihn aus seinen braunen Augen an. „Hast du es noch nicht kapiert? Dank deines Genies hier gehen wir alle in den Knast. Das war‘s. Ich steige jetzt aus.“ Er hatte die Hand bereits an den Türgriff gelegt, als sich ein harter Gegenstand in seine Rippen bohrte.

„Ich für meinen Teil gehe bestimmt nicht in den Knast. Und du solltest ganz schnell deine Nerven in den Griff kriegen, ansonsten gehst du nirgendwo mehr hin.“

Verstört blickte Tom zuerst auf die Waffe, die nun auf ihn gerichtet wurde, dann in Eriks verrückte Augen und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er der Einzige war, der keine Maske über dem Gesicht trug. Wie betäubt korrigierte er diesen Fehler und setzte den Timon, der sich im Ablagefach seiner Tür befand, auf. Eriks Maske war dem Gesicht von Scar nachempfunden. Falk war Rafiki. Alle Charaktere aus dem König der Löwen. „Ich werde sterben.“

„Schon besser.“

„Und jetzt beruhigen wir uns alle wieder“, sagte Falk.

Licht durchflutete plötzlich das Wageninnere. Die scheunenartige Eingangstür direkt neben dem Wagen wurde geöffnet und eine schlanke Person war im Begriff, die Räumlichkeiten hinter sich zu verlassen. Geschockt durch das Bild, das sich ihr bot, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Ihr macht mir meine Arbeit wirklich zu leicht.“ Erik reagierte als Erster. Er schmiss seine Tür auf und sprang in geduckter Haltung auf die junge Frau zu.

„Stopp!“, brüllte der Beamte und feuerte einen Schuss ab. Aber die Kugel prallte am BMW ab.

Erik bekam den Arm der jungen Frau zu packen und hielt ihr die Waffe bereits im nächsten Moment an die Schläfe. Der Aufschrei war entsetzlich.

Triumphierend drückte er noch fester zu und zerrte sie beinahe von den Füßen.

„Ich würde vorschlagen, ihr Amateure nehmt jetzt eure Waffen aus meinem Gesichtsfeld. Ansonsten wird die Schönheit hier nicht mehr ganz so niedlich sein“, rief Erik den Polizisten zu.

„Los, raus hier.“ Falk öffnete nun auch seine Tür und zog Tom am Ärmel mit. „Tom! Beweg dich endlich.“ Der Schock saß immer noch tief und es sollte nicht besser werden. Er rollte sich über den Schaltknauf auf den Beifahrersitz und folgte fassungslos der Szenerie und erkannte die blonde Frau auf Anhieb. Nun wurde es hektisch.

„Du Arschloch. Lass sofort meine Freundin los.“ Raubkatzenähnlich sprang eine weitere Frau aus der Tür und schlug mit beiden Fäusten auf Erik ein. Mit mäßigem Erfolg, zumal Falk schnell reagierte und sie mit geschickten Handgriffen vor seinem Körper positionierte, seine Waffe auf ihren Kopf gerichtet. Langsam bewegten sie sich in Richtung der Eingangstür, ohne die Beamten aus den Augen zu lassen. Das Wimmern brach nun nicht mehr ab.

„Habt ihr mich verstanden? Ihr sollt die Waffen runternehmen!“, forderte Erik die Menge erneut auf. Nur langsam gaben die Beamten nach. Einige schauten sich unsicher an, andere hielten die Arme beschwichtigend in die Höhe.

„Komm endlich aus der Karre raus!“ Tom verstand nur zögerlich. Aber Falk ließ nicht locker und zerrte ihn aus dem Wagen. „Rein da“, befahl er und zog die Frau mit bedächtigen Schritten zurück in das Gebäude.

Freitag, 04. Mai, 22 Uhr 31

Mit einem Ruck schloss Anni die Tür der Spülmaschine und startete das Programm. „So, das waren die letzten Teller. Gleich morgen früh bringe ich Ihnen das Geschirr ins Haus.“ Sie schaute auf und lächelte ihren Chef an, der am Kühlschrank des Sozialraumes stand und sich eine Flasche Wasser rausnahm.

„Lass gut sein. Ich mach das später. Ihr verschwindet jetzt. Ab ins Bettchen.“ Anni verdrehte die Augen.

„Großer Gott. Ich bin fünfundzwanzig, Single und es ist Freitagabend. Bestimmt geht da noch was, oder was meinen Sie, Frau Bachmann. Hast du nun endlich deine Prötteln zusammen?“

„Jep. Alles gefunden. Und was meine ich wozu?“

„Unser Sonnenschein hier will noch ausgehen. Normalerweise würde ich das für gut befinden, allerdings vergessen Sie bitte nicht, Frau Winter, dass morgen Sprechstunde ist. Und ich will keine Alkoholfahne ertragen müssen.“ Nik öffnete die Wasserflasche und hob herausfordernd eine Augenbraue.

„Also mal ganz ehrlich. Mein Vater schreibt mir schon lange nicht mehr vor, wann ich ins Bettchen gehen sollte. Ich muss Ihnen wirklich noch einiges beibringen.“

„Also ich für meinen Teil würde gerne ins Bettchen. Ich bin echt erledigt und Sarami hat mich heute auch noch nicht wirklich zu Gesicht bekommen.“

„Tja … dann muss ich wohl alleine los.“

„Soll ich euch noch nach Hause bringen?“, fragte Nik.

„Nein, ich habe lediglich ein Radler getrunken. Außerdem lässt man seinen Besuch nicht warten.“ Chris zwinkerte ihm zu.

„Hört, hört. Also macht unser Boss doch noch Party heute Abend. Der Mann ist lernfähig.“

„Sag Gute Nacht, Fräulein Winter.“ Sie zog Anni am Arm.

„Gute Nacht, Fräulein Winter“, antwortete Anni spöttisch, und Nik warf den Kopf in den Nacken und musste lachen. „Gute Nacht. Und nochmals vielen Dank. Ich bin immer noch ganz sprachlos.“

„Lass gut sein. Wirklich.“

Sirenen tauchten in der Ferne auf und kamen schnell näher.

„Ich schließe dann gleich ab. Verschwindet jetzt.“

Chris drehte sich noch einmal zu ihm um. „Viel Glück.“ Ihre Lippen formten diese Worte lautlos und sie ließen ihn zurück.

Sie hatten bereits den Ausgang erreicht, als Anni gegen ihre Jackentasche klopfte. „Ach, Mist. Hab meinen Schlüssel an der Anmeldung liegen lassen. Moment.“

Chris schüttelte den Kopf. „Aber mich anmaulen.“

Die Sirenen waren nun ganz nah und plötzlich bremste ein Wagen so abrupt vor der Praxis ab, dass einzelne Kieselsteine vor die Tür flogen.

„Na, da hat es aber jemand verdammt eilig.“

„Vielleicht ist etwas passiert. Ich schaue mal nach.“

Anni verengte missmutig die Augen. „Oh, Mann. In diesem Job hat man wirklich nie Feierabend. Das war‘s wohl mit Ausgehen.“ Sie zog sich die Jacke wieder aus, als Chris plötzlich aufschrie. Ohne mit der Wimper zu zucken, folgte Anni ihr nach draußen und erstarrte. „Oh mein Gott.

Nik blieb zurück und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Er lehnte immer noch vor dem Kühlschrank und hielt die Wasserflasche in der Hand. Er dachte an das Bevorstehende und das Schmunzeln verschwand auf der Stelle. „Gib ihr noch eine Chance.“ „Ich versuche es“, murmelte er und lief gerade wieder Gefahr, eine depressive Haltung einzunehmen, als ein Schuss die Stille durchbrach und er kurz darauf Chris schreien hörte. Vor Schreck rutschte ihm die Flasche aus der Hand und ging scheppernd auf den harten Fliesen zu Bruch. Sein Puls raste und pulsierte bis zum Hals.

„Aaaahhh.“ Ein weiterer, ohrenbetäubender Schrei. „Anni.“ Er stürmte hinaus, kam aber nur bis zur Rezeption und ein noch größerer Schock traf ihn so unvorbereitet, dass er kaum noch in der Lage war, klar zu denken. Drei Männer. Direkt vor ihm und die Gesichter unter abstrakten Tiermasken verborgen. Er konnte nur Augen erkennen. Tiefblaue Augen, die ihn mit einer Arroganz anstarrten, dass Nik seine aufkommende Wut kaum im Griff hatte.

„Guten Abend, Dr. Berger.“ Der Mann schien beeindruckt von seiner Körpergröße. „Ich muss mich für die späte Störung entschuldigen.“

„Was zum Teufel ist hier los? Wer sind Sie?“ Nik funkelte die Männer an.

„Nun. Das spielt im Augenblick keine Rolle. Aber ich fürchte, Ihr Feierabend wird noch etwas warten müssen.“ Er richtete sich noch etwas mehr auf und verstärkte den Griff um Chris‘ Hals. Verängstigt schloss sie die Augen und begann zu weinen.

„Was wollen Sie? Hier gibt es nichts für Sie zu holen, Geld schon gar nicht. Davon können Sie sich gern überzeugen. Aber lassen Sie die Mädchen los.“

Der Mann legte den Kopf schief und grinste ihn an.

Er verspottet mich. Arroganter Mistkerl.“

„Ihre paar Kröten interessieren mich nicht. Ich bräuchte nur ein wenig … na ja, sagen wir, etwas Unterstützung, um meine Freunde da draußen zu überzeugen, uns nicht weiter auf die Pelle zu rücken. Ich darf doch auf Ihre Hilfe zählen?“

„Du kannst mich mal.“ Nik hatte seine Wut nicht mehr unter Kontrolle und ballte die Fäuste.

Sein Gegenüber schnalzte mit der Zunge und drehte ganz langsam den Kopf von rechts nach links.

„Warum seid ihr Sauerländer eigentlich immer so stur? Ich habe doch höflich gefragt, oder etwa nicht?“ Mit einem gewaltigen Ruck stieß er Chris von sich. Sie konnte das Gleichgewicht nicht halten, krachte zu Boden und blieb zusammengerollt dort liegen. Ohnmächtig musste Nik mit ansehen, wie dieser Irre mit der Löwenmaske seine Waffe weiter auf sie gerichtet hielt. Es machte ihn fast wahnsinnig, denn er konnte nichts dagegen tun.

„Nein!“, schrie Nik und hob beide Hände. „Nicht. Ich mach alles, was Sie wollen. Aber tun Sie ihr nichts. Bitte.“

Amüsiert lachte der Mann auf.

„Dachte ich‘s mir doch.“ Er schaute auf Chris herab, dann wieder zu ihm. „So, wie du sie anstarrst, könnte man meinen, du hast was mit ihr. Nicht, dass es mich interessieren würde.“

„Sie ist meine Tochter. Nicht, dass es dich etwas angehen würde.“

Das überraschte ihn jetzt allerdings. Eine Ähnlichkeit war nicht erkennbar, aber im Grunde war es auch egal. Er zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei. Darf ich dann bitten. Es dauert auch nicht lang.“ Der Mann fuchtelte mit der Waffe umher und bedeutete Nik, zu ihm zu kommen.

Er gehorchte nur zögerlich, konnte den Blick von Chris nicht lösen. Dann durchfuhr ihn ein stechender Schmerz in der Schulter, als der Löwenmann nach ihm griff und seinen Arm so kräftig nach oben drückte, dass Nik unweigerlich ins Hohlkreuz fiel.

„Beweg dich endlich.“

Er drückte ihn aus der Tür und schirmte dabei seinen Körper hinter ihm ab. Sofort blendete sie das Scheinwerferlicht der Streifenwagen. Nik versuchte mit der anderen Hand, das Licht vor seinen Augen abzuschirmen, aber erneut wurde der andere Arm so nach oben gedrückt, dass er schmerzhaft das Gesicht verzog und nachgab.

„Hören Sie auf, so an mir rumzuzerren.“

„Halt die Klappe oder ich mach noch ganz andere Sachen mit dir.“

Nik öffnete wieder die Augen. Einige Beamten reagierten entsetzt auf die neue Entwicklung und traten nervös von einem Bein auf das andere.

„Wie ihr seht, haben wir nun drei Leute in unserer Gewalt. Wenn ich auch nur einen von euch in der Nähe dieser Tür sehe, knalle ich sie ab. Mit ihm fange ich an.“

„Hören Sie doch auf mit dem Unsinn“, rief ein etwas beleibter Polizist. „Das führt doch zu nichts. Sie kommen hier nicht mehr raus.“

Ein Schuss krachte und der linke Scheinwerfer des mittleren Streifenwagens ging zu Bruch. Der Beamte blieb wie angewurzelt stehen.

„Ich meine es ernst. Und im Übrigen unterhalte ich mich nur noch mit jemandem, der etwas zu sagen hat.“ Er drehte den Kopf etwas näher an Niks Ohr. Dieser konnte den heißen Atem in seinem Nacken spüren. „Hast du ein Handy?“

Nik reagierte nicht und bekam dafür sofort die Quittung. Der Lauf der Waffe wurde nun unsanft unter sein Kinn gedrückt. „Das war‘s. Ich sterbe jetzt.“

„Ich habe gefragt, ob du ein Handy hast.“

„Nicht hier. Es liegt im Haus. Aber in meinem Büro gibt es einen Festnetz-Anschluss. Separat von der anderen Leitung geschaltet.“

„Die Nummer.“ Wieder ging es ihm nicht schnell genug und er bog den Arm noch weiter nach hinten. Nik stöhnte auf und verschloss die Augen.

„Wie ist die Nummer?“

„Zwei. Drei. Sechs. Acht“, antwortete er mit belegter Stimme.

„Lauter!“

Nik wiederholte die Ziffern.

„Hast du das verstanden, Bulle?“

Der Beamte bewegte sich nicht. Wieder krachte ein Schuss, diesmal in den Himmel.

„Ob du das verstanden hast?“

„Ja! Ja, verstanden. Aber bitte bleiben Sie ruhig.“

Der Mann zerrte Nik zurück ins Gebäude und knallte die Tür ins Schloss. Mit einem kräftigen Ruck konnte sich Nik von seinem Peiniger lösen und stieß den dritten Maskierten, der unterdessen neben Chris kniete, zur Seite.

„Nimm deine Drecksfinger von ihr.“

Er fiel vor ihr auf die Knie und hob vorsichtig ihr verängstigtes Gesicht an. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Wortlos schüttelte sie den Kopf und drückte sich an ihn.

„Bitte sei nicht böse auf mich“, sagte sie. Immer und immer wieder. „Ich habe die Tür geöffnet. Ich hab sie reingelassen. Ich wäre schuld gewesen, wenn … wenn …“ Sie brach ab und vergrub ihre Stirn noch tiefer an seiner Brust.

„Schscht …“ Wieder kochte die Wut in ihm hoch. „Was muss das Mädchen noch alles durchmachen.“

Auch Anni war es gelungen, sich von dem festen Griff ihres Peinigers zu lösen. Sie preschte nach vorne und kam schlitternd neben Nik zum Stehen. Dieser zog auch sie mit schmerverzerrtem Gesicht zu sich. Mit zittrigen Händen berührte Anni seinen Oberarm. „Hat er Ihnen etwas getan?“

„Nein. Alles in Ordnung. Keine Sorge“, knurrte er und blickte mit hasserfüllten Augen über seine Schulter. „Was jetzt?“

Amüsiert verschränkte der Löwenmann seine Arme und ließ sich auf einen der Stühle nieder.

„Jetzt? Ich denke, jetzt haben wir viel Zeit, um uns alle besser kennenzulernen.“

Spur der Vergangenheit

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