Читать книгу Störfaktoren - Norbert Hufler - Страница 6
Ein Ausblick aus dem fünften Stock, 1955
ОглавлениеDas Ende dieser Geschichte wurde mir von meiner Mutti sehr oft erzählt und trug sicher dazu bei, dass ich bis heute eine gewisse Angst habe...
Im sehr zarten Alter von knapp zwei Jahren testete ich erstmals meine Abenteuerlust, ohne allerdings - naiv, wie ich naturgegeben zu dieser Zeit war - die Risiken und Nebenwirkungen abschätzen zu können; schließlich konnte ich damals noch keinen Arzt oder Apotheker fragen: Ich konnte ja noch nicht sprechen!
Und meine Mutti war irgendwo nebenan, in dem weitläufigen Trakt unserer Zweizimmerwohnung im fünften Stockwerk.
Mannheim-Lindenhof übrigens, Schwarzwaldstraße 1.
Na, was denkt ihr, was passiert, wenn ein Krabbelbubi ein offenes Fenster sieht? Sperrangelweit offen sogar?
Magisch zieht mich dieses Fenster an: ganz sicher würde es da was zu entdecken geben! In einem Knirpsleben gibt es immer was zu erforschen!
Also begebe ich mich behende und doch unsicher zu Fuß und auch manchmal auf Knien und Händen zu dem Küchenstuhl, der glücklicherweise fast direkt unter dem Fenster stand, und erklimme diesen in einer Manier, dass mir spontan einfällt: Du musst Sportler werden, Knirpsi!
Einen kleinen Schreck bekomme ich, als der Stuhl mit der Lehne nach vorne kippt bei meinem Versuch, das offene Fenster zu erreichen: perfekterweise aber bleibt die Lehne direkt unter dem Fenstersims hängen.
Na siehste, Nobbizwerg: beste Ausgangslage für die Erkundung! Auf geht's! Wenn diese Zufälle auch in deinem weiteren Leben so gut klappen, dann ist dir ein Forscherleben gesichert!
(Seltsam, was in einem Kleinhirnchen vonstatten gehen kann... - Anm. des Autors, einige etliche Jahre danach beim Schreiben dieser Geschichte, mit inzwischen ergrautem, aber immerhin noch vorhandenem üppigen Haar.)
U uh, o oh! Die Frischluft kommt immer näher!
Wahrscheinlich werden meine Äuglein immer größer, je näher ich der ersehnten Fensterbank komme: Schon kann ich das gegenüberliegende Haus sehen! Guckt mich da nicht eine Frau an, hinter einem geschlossenen Fenster, mit ebenso großen Augen? Vielleicht hat die auch solche Freude an der Aussicht? Und wenn ja, warum macht sie das Fenster nicht auch auf?
Ich höre Geräusche von unten, die mir bekannt vorkommen; kenne ich sie nicht von den Spaziergängen in meinem Kinderwagen und erst kürzlich auch von meinen Spaziergängen an dem Laufgeschirr meiner Mutti? Gucken will!
Ich ziehe mich also weiter hoch und erhasche dann, meine Händchen schon auf der Fensterbrüstung, einen unglaublichen Ausblick:
Da unten, gaaanz weit unter dem Haus gegenüber, läuft eine Art Film!
(Obwohl der Knirps ja noch keine Ahnung haben konnte, was ein Film ist! Ein cleveres Kerlchen also. - Anm. des Autors)
Da laufen Leute auf der Straße, kleine Leute, viel kleiner als Mutti und Vati. Und die Straße ist auch viel kleiner, als ich sie kenne.
Jetzt aber muss ich genau wissen, was da unter mir so alles abgeht! Und das geht halt nur, indem ich mich noch weiter hoch hangele...
(Das können doch wohl nicht meine eigenen Gedanken gewesen sein?! Was glaubt der Zwerg wohl, was er damals war? Die frühe Ausgabe des Autors etwa, der das jetzt mit Grausen niederschreiben muss? Ha! Hätte Knirps geahnt, dass seine Geschichte Geschichte schreiben wird, hätte er sicher auf diesen idiotischen Ausflug (jedenfalls aus meiner späteren Sichtweise heraus) verzichtet... Aber okay, ab sofort halte ich mich hier heraus. Soll der kleine Scheißer doch sehen, wie er aus dieser Geschichte rauskommt und sie sein ganzes Leben über zu verarbeiten versucht! - Letzte Anm. des genervten Autors)
Holla! Die Luft wird dünner, dafür aber die Sicht weiter, als ich mich in meinem jungkindlichen Leichtsinn entschließe, mich auf die Fensterbank zu setzen, mit den nackerten Füßlein voran.
(Doch noch eine Anmerkung des Autors: Mir wird schlecht, während ich diese Zeilen schreiben muss...)
Jetzt sehe ich sogar schon ein Stückchen mehr der Straße, auf der sogar Spielzeugautos hin und her fahren. Heissa, macht das einen Spaß! Ich muss einfach in meine Händchen klatschen und dabei mein Gesichtchen zu einem glücklichen Babylachen verziehen; kennt ihr das?
Die Frau gegenüber im Fenster kriegt auch noch größere Augen vor lauter Freude über meine Freude; ja, sie reißt sogar den Mund dabei auf!
Aber: Das kann doch wohl nicht alles sein, oder? Unter meinen Zehlein tut sich doch noch was, das ich zwar höre, aber nicht sehen kann!
Also bleibt nichts anderes, als mich nach vorne zu beugen, um das Gewusel direkt und meinen Füßchen zu beobachten, fünf Stockwerke unter mir; also gaaanz, gaaanz weit weg:
Donnerwetter, da ist vielleicht was los!
Ich könnte glatt den Menschenpüppchen auf die Köpfe spucken, wenn ich das drauf hätte.
So geifere ich lachend vor lauter Begeisterung vor mich hin, klatsche ab und zu in die Hände und strample vor lauter Freude mit den kleinen X-Beinen in der luftigen Höhe, dabei immer wieder lustvoll quietschend!
Ein kurzer Blick nach gegenüber beweist, dass die Tante am Fenster auch riesigen Spaß hat: Ihre Augen werden noch größer, ebenso wie ihr Mund.
Klasse! Eine echte Seelenverwandte! Und: Greift sie nicht gerade vor immenser Mitbegeisterung in den Vorhang? Ich winke meinem weiblichen Fan überschwänglich zu, worauf sie allerdings verschwindet; mir scheint, dass das rückwärts geschieht, ähnlich, wie ich manchmal auf den Boppes plumpse, wenn ich nicht aufpasse. Hoffentlich hat die nette Frau hintenrum auch so eine gute Polsterung wie ich.
(Dem Autor wird gerade noch schlechter...)
Meinem unbändigen Wohlsein wird ein abruptes Ende gesetzt durch einen gellenden Schrei hinter mir: Jäh aus meinem herrlichen Film gerissen erschrecke ich wie eine dösende Katze vor dem Kaminofen, wenn ihr eine Schüssel kaltes Wasser über das Fell gegossen wird!
(Woher kann der Zwerg eine solche Metapher haben? Echt erstaunlich, das winzige Ich! - Anm. des Autors)
Überglücklicherweise drehe ich mich in meiner Erschrockenheit um in Richtung der Sirene und falle dabei mit meinem nackten, dicken Bäuchlein auf den Fenstersims, mit dem Kopf in Richtung Zimmer.
Und was sehe ich dort, direkt in der offenen Küchentür?
Mutti mit aufgerissenen Augen und übergroßem Mund, genau wie die nette Tante gegenüber, die so schnell verschwunden war!
Mutti hat aber gegenüber unserem letzten Treffen erheblich an Gesichtsfarbe verloren!, dachte ich, während mein Körperchen die Waage zu halten versucht: Vorwärts ginge es mit dem Köpple auf die Sitzfläche des Küchenstuhls, hinten runter auf die ach so kleine Straße mit den so kleinen Köpfen der Leute.
Mein Dickkopf, den ich wohl noch in so manchen Situationen meines künftigen Lebens hoffentlich behalten werde, zieht mich nach vorne, in Richtung Stuhl, während ich mit Ärmchen und Beinchen wedle; ein früher Flugversuch, der aber kläglich endet: unweigerlich fliegt die Stuhlplatte auf mich zu! Das gehört sich doch nicht?
Unwillkürlich schließe ich die Augen und warte auf den Aufprall, wobei der hölzerne Sitz meine hübsche, aber noch kindlich-weiche Stirn gehörig eindrücken muss!
Ja, und wie und was jetzt?
PLUMPS macht es, allerdings in einem sehr weichen Ton.
Sehr weich gelandet entdecke ich, wieso mein hübsches Gesichtchen keine Delle hat: Mutti hat sich von ihrer freudigen Überraschung, dass ich ganz alleine auf dem Fenstersims herumgealbert hatte, nicht aufhalten lassen, meine Wiederkehr mit einer herzlichen Umarmung zu feiern.
Grandios, wie sie das noch vor meinem Aufprall geschafft hat, ehrlich!
'Tach Mutti! Soll ich dir mal was erzählen?', versuche ich zu formulieren, was aber nicht so recht klappt.
Also grinse und lache ich ihr die Geschichte vor, von vielen 'Babas' und 'Dadas' und ähnlich deutlich beschreibenden Worten begleitet, und natürlich mit vielen freudigen Handzeichen.
Statt aber beglückwünscht zu werden zu diesem abenteuerlichen, kleinen harmlosen Ausflug, werde ich fast erdrückt zwischen Muttis Hals und den seltsamen, weichen Dingern etwas tiefer. Wassertröpfchen gluckern über mein flauschiges Haupt; und anstatt einer Belobigung nehme ich nur Geräusche von Mutti wahr, die wie schluchzende Sturzbäche klingen. Schon etwas unverständlich, oder?
Deutlich aber nehme ich diese Worte auf, die zwischen den Wasserfällen klar bei mir ankamen:
"Nie, nie wieder wirst du mir solche Angst bereiten! Nie wieder wirst du eine solche Höhe mit deiner Angst ertragen müssen!"
Zwar höre ich die Worte, aber ich verstehe sie nicht:
Hatte sie meinen brabbeligen, aber dennoch gesichts- und gestenfreudigen Schilderungen denn nicht folgen können? ICH hatte doch überhaupt keine Angst, im Gegenteil!
Nachsatz:
Es muss noch etwas ergänzt werden, das diese Geschichte des Knirpses erst zu einem Lebensereignis macht, auf das ich anfangs hinwies:
Der Hosenscheißer entwickelte sich zu einem stattlichen Mann von einem Meter siebzig, der aber sein Leben lang der Devise folgen musste: Höhen sind gefährlich!
Vielleicht wurde ich deswegen nicht größer?
Schade, dass meine Mutter mir ihre eigene, fürchterliche Panik in den vielen Jahren meiner Kindheit und Jugend immer wieder eingeredet und damit auch tief in mich eingepflanzt hatte:
Noch heute wird mir grottenschlecht und ich bekomme echte Panik, wenn ich zum Beispiel nur ein Bild betrachte, das einen Mann sitzend auf der Kante eines Hochhausdaches zeigt.
Äußerst seltsam bei der Sache ist, dass ich, seit ich mich erinnern kann, sehr oft vom Fliegen träume: Eigenständig stürze ich mich vom Balkon oder von den höchsten Klippen und schwebe davon...
Traumhaft schöne Träume; aber wohl ein Fall für einen Tiefenpsychologen?